Carl-Auer

Zu diesem Buch gibt es ergänzendes Material online:

http://www.carl-auer.de/programm/artikel/titel/3-bonbons-fuer-5-jungs/

Bernhard Trenkle

3 Bonbons für 5 Jungs

Strategische Hypnotherapie
in Fallbeispielen und
Geschichten

2016

Vorwort

Milton H. Erickson gilt als Vater der modernen Hypnotherapie. Er ist aber auch der Pionier der Kurzzeittherapie. Sowohl die strategische Familientherapie nach Haley und Madanes gründen in der Arbeit von Erickson als auch zu wesentlichen Teilen die Arbeit der Palo Alto Gruppe um Paul Watzlawick, John Weakland und Richard Fisch. Dies gilt auch für die lösungsorientierte Therapie der Gruppe um Steve de Shazer. Alles, was wir heute ressourcen- und potenzialorientiertes Arbeiten nennen, war schon früh in den Arbeiten von Milton Erickson angelegt. Auch das NLP ist maßgeblich aus seinen Ansätzen abgeleitet.

Dabei gibt es Therapeuten wie Paul Watzlawick oder R. Reid Wilson, die die strategischen Ansätze von Erickson nutzten, aber selbst selten oder nie Hypnose anwandten. Auch Haley und Madanes berichten in ihren Falldarstellungen nie von Hypnose. Und doch sagte Haley einmal, dass er eigentlich keine einzige Technik benutze, die nicht von Milton Erickson stamme. Andere, wie Ernest Rossi, arbeiten überwiegend mit Hypnotherapie, nutzen aber weniger die strategischen Ansätze. Auch die lösungsorientierten Therapeuten um de Shazer nutzten wenig bis kaum formelle Tranceinduktionen.

Betty Alice Erickson, Tochter von Milton Erickson, wurde einmal gefragt, wie sie den Ansatz ihres Vaters definieren würde. Sie antwortete: Das zu tun, was funktioniert. In gewisser Hinsicht ist das eine treffende Definition. Erickson war sehr flexibel und innovativ in seinen therapeutischen Interventionen. Er war gegen das Gründen von Therapieschulen, stattdessen sollte eher für jeden einzelnen Klienten eine neue Schule gegründet werden, und jeder Therapeut sollte seinen Fähigkeiten und seinem eigenen Stil entsprechend arbeiten.

Analysiert man Fallbeispiele von Milton Erickson zu bettnässenden Kindern und Jugendlichen, wie ich es im titelgebenden Artikel des Buches Die Pupille des Bettnässers getan habe, erkennt man, dass er in der Tat für jeden Klienten individuelle Techniken entwickelte. Darüber hinaus wird deutlich, dass Erickson seine Interventionen strategisch vorbereitete. Klienten bekamen Hausaufgaben, die erst im Verlauf der weiteren Therapie einen Sinn ergaben. Illustrative Geschichten bereiteten die Interventionen vor. Manchmal wurde bewusst auf Hypnose verzichtet und stattdessen mit strategischen Techniken wie der Ordeal-Therapie gearbeitet. Entsprechend der Persönlichkeitsstruktur des Klienten arbeitete Erickson direkt oder indirekt. Mal übernahm er als Therapeut die suggestive Führung und ein anderes Mal machte er nur Angebote, um die eigenständige Lösungssuche des Klienten zu stimulieren. Bei einer Klientin, die grundsätzlich gegen jeden Vorschlag rebelliert, kann paradox gearbeitet werden. Das heißt, es wird ihr gesagt, sie solle etwas auf keinen Fall tun. Sie rebelliert gegen diese Suggestion und verhält sich so, wie es eigentlich gewünscht ist. In einem solchen Fall geht der Therapeut in eine Metaposition und trifft eine strategische Entscheidung. Im Kapitel »Anekdoten und Metaphern – Indirekte ericksonsche Techniken in Psychotherapie, Medizin und Familientherapie« berichte ich von einem solchen Fall.

Erickson war in manchen Fällen der Meinung, dass das bewusste Denken eines Klienten »privatideologische« Scheuklappen haben könne und wenn man gegen diese Scheuklappen verbal vorgehe, verstärke sich der Widerstand. Er hat dann indirekt über Geschichten und Metaphern versucht, diese Rigidität aufzulockern oder Hypnose und das Trancephänomen Amnesie eingesetzt. Dies habe ich ausführlich auch mit einem eigenen Fallbeispiel in meinem Buch Die Löwen-Geschichte dargestellt. Da stellt sich nun die Frage: Ist dieser strategische Schritt, sich über den Klienten zu stellen, die Regel in der erickson-schen Hypnotherapie? Die Antwort lautet: Im Jahr 2016 eher nicht.

Helm Stierlin hat ein Buch mit dem Titel Die Demokratisierung der Psychotherapie verfasst. Darin beschreibt er, wie zur Zeit des Kaiserreichs mit einer starken hierarchischen Gliederung der Gesellschaft auch die Persönlichkeitsmodelle hierarchisch gegliedert waren: Ich, Es, Über-Ich. Und in der Zeit der Demokratisierung sprechen wir vom inneren Parlament mit wechselnden Mehrheiten. Das kann jeder an sich selbst erleben. Noch vor 50 Jahren hat man im Fall einer Erkrankung das gemacht, was der Arzt sagte. Heute hört man sich die Meinung des Mediziners an, geht erst mal im Wartezimmer via Smartphone ins Internet und informiert sich, verlässt die Praxis und telefoniert mit einem anderen Arzt, um eine zweite Meinung einzuholen, und dann treffe ich die Entscheidung, ob dieser Eingriff gemacht wird oder nicht. Da es Ericksons Anspruch war, den jeweiligen Klienten in seinem Weltbild abzuholen, waren seine therapeutischen Techniken 1930 oder 1950 natürlich andere, als sie es heute wären und als sie es für seine Schüler im neuen Jahrtausend sind.

Die Hypnotherapie nach Erickson hat den Anspruch, sich auf das jeweilige individuelle Weltbild eines Klienten einzuschwingen, den Klienten dort abzuholen, wo er steht, und an den Zielen zu arbeiten, die der Klient definiert hat. Das ist dann meist Therapie auf Augenhöhe, wie Gunther Schmidt sie in seinem hypnosystemischen Modell postuliert. Im strategischen Arbeiten kann der Therapeut sich auch entscheiden, eine therapeutische Intervention über mehrere Schritte aufzubauen und vorzubereiten, auch ohne dass der Klient weiß, wohin das führen soll.

Das ist im Grunde auch nichts Neues, das machen Eltern in der Erziehung ihrer Kinder oder Frauen in der Erziehung ihrer Männer seit Jahrtausenden auch nicht anders. Neu und innovativ für die Psychotherapie ist das ericksonsche Utilisationsprinzip, mit dem Erickson alles, inklusive der Pathologie eines Klienten, zur Erreichung von Zielen einsetzt.

Ein kurzes Beispiel aus der Arbeit von Milton Erickson (vgl. Rossi 2015, S. 431 f.):

Eine frühere Klientin ruft bei Erickson an: Ihre Tochter sei in der Pubertät sehr schnell gewachsen und glaube jetzt, sie habe lächerlich große Füße. Sie weigere sich, das Haus zu verlassen, und sei auch nicht zu einem Gespräch darüber bereit. Erickson schlägt vor, als Arzt zur Mutter zu kommen und die Tochter dabei assistieren zu lassen. So geschieht es. Erickson erklärt dem Mädchen, dass er ja als Mann alleine mit der Mama im Haus sei, und sie als Anstandsdame dabei bleiben müsse, und zusätzlich brauche er sie als Assistentin, weil er vielleicht während der Untersuchung der Mama einmal ein Handtuch oder Wasser brauchen werde. Während er die Mutter untersucht, beobachtet er auch das Mädchen. Schließlich steht das Mädchen wartend und assistierend mit einem Handtuch hinter Erickson. Scheinbar unabsichtlich macht er einen Schritt zurück und tritt dem Mädchen mit den Fersen schmerzhaft auf die großen Zehen. Das Mädchen schreit vor Schmerz auf. Erickson wendet sich blitzschnell an sie und sagt, scheinbar ärgerlich: »Wenn du dir die Füße hättest groß genug wachsen lassen, dass ich sie als Mann hätte sehen können, dann wäre ich jetzt nicht in dieser peinlichen Situation«. Dann untersucht Erickson die Mutter weiter. Später am Abend ruft die Mutter verwundert an und sagt, dass das Mädchen zum ersten Mal wieder außer Haus gegangen sei und sie das nicht verstehen könne, er habe doch gar nicht mit ihr gearbeitet.

Erickson meinte später dazu, dass er dem Mädchen eine Suggestion gegeben habe, die es gar nicht als Suggestion erkennen konnte. Die Suggestion war: Deine Füße sind zu klein, sonst wäre mir das nicht passiert. Hier wird nicht hypnotisiert, es findet kein therapeutisches Gespräch statt, es wird dem Mädchen nichts erklärt – und doch war es in diesem Fall eine wirksame und dazu sehr kurze Therapie.

In diesem Sinne ging Erickson in seiner Arbeit schon früh über die klassische Hypnosetherapie hinaus. In klassischer Hypnose wird eine Trance induziert, dann werden Suggestionen gegeben und dann wird der Klient wieder auf das Wachbewusstsein reorientiert. Auch diese klassische Form der Hypnotherapie gehört in das Repertoire jedes Hypnosetherapeuten. Ericksonsche Hypnotherapie oder strategische Hypnotherapie beinhaltet jedoch ein großes Repertoire an weiteren Ansätzen und Techniken, die je nach Situation und stets unter Würdigung der Individualität eines Klienten genutzt werden.

Wer diese strategischen Aspekte vertieft studieren will, dem seien die Bücher von Jay Haley empfohlen. Mit Die Psychotherapie Milton Ericksons, das 1973 unter dem Titel Uncommon Therapy auf Englisch erschien, begann das große internationale Interesse an Erickson und die große Renaissance der Hypnotherapie. Haley hat später noch viele Vorträge zur Arbeit von Erickson gehalten, die in seinem Buch Typisch Erickson zusammengefasst sind.

Wie man hier in meinem Buch sehen wird, ist meine Arbeit durch diese strategischen Arbeiten von Erickson und Haley beeinflusst. Im Gegensatz zu vielen Kollegen im hypnotherapeutischen Feld, die nur strategisch oder lösungsorientiert arbeiten, aber keine Trancearbeit in ihre Praxis integriert haben, habe ich immer auch viel mit Hypnose und expliziter Trance gearbeitet. Im Gegensatz zu vielen Kollegen im hypnotherapeutischen Feld, die bei jedem Klienten mit expliziter Hypnose arbeiten, habe ich auch oft auf die Nutzung von Tranceinduktionen und Trancearbeit verzichtet und nur mit strategischen oder lösungsorientierten Ansätzen gearbeitet. Die Entscheidung, was bei welchem Klienten zu welchem Zeitpunkt angebracht ist, ist eine strategische Entscheidung. In diesem Buch stelle ich also Ansätze vor, die man als strategische Hypnotherapie bezeichnen kann.

Strategische Hypnotherapie besagt darüber hinaus, dass sowohl bei der Trancearbeit als auch bei strategischen Ansätzen oft analog zum Schachspiel über mehrere Züge im Voraus eine therapeutische Maßnahme strategisch vorbereitet wird. Wie schon gesagt, Milton Erickson war gegen das Gründen von Therapieschulen. Mithin könnte man über dieses Buch auch sagen: Das ist ericksonsche Hypnotherapie im Stile des Autors – jeweils abgestimmt auf die Situation und die Ressourcen des individuellen Klienten.

Was Sie in diesem Buch erwartet

Das Buch beginnt mit dem Fall, der ihm den Titel gab. Über dieses erste Fallbeispiel wird einführend praktisch erklärt, wie sich der Begriff »strategische Hypnotherapie« verstehen lässt. Weiterhin trägt dieser Band Artikel zusammen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten über die vergangenen 35 Jahre hinweg entstanden sind.

1983 verfassten Gunther Schmidt und ich gemeinsam unser erstes Werk im Feld der ericksonschen Hypnotherapie. Gunther Schmidt hat der Wiederveröffentlichung dieser Arbeit zugestimmt. Die interessante Vorgeschichte zu diesem gemeinsamen Erstlingswerk ist ebenfalls in diesem Buch enthalten (siehe Seite 286–290). Bevor wir diesen Artikel schrieben, verliefen unsere Werdegänge zwischen 1975 und 1982 weitgehend parallel im Umfeld von Helm Stierlin. Gemeinsam besuchten wir erste Hypnotherapie-Seminare und gemeinsam begannen wir, in Heidelberg die führenden Erickson-Schüler einzuladen, um von ihnen zu lernen. Schon in diesem ersten Artikel deuten sich die unterschiedlichen therapeutischen Vorgehensweisen an, die in unseren gemeinsamen Ausbildungsgruppen in Heidelberg und Rottweil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer manchmal in kleinere oder größere kognitive Dissonanzen stürzen ließen. Gunther Schmidt wurde zum Begründer des hypnosystemischen Ansatzes, den er in unserem Erstlingswerk schon früh erstaunlich komplex präsentierte. Ich selbst blieb vielleicht etwas näher am Original Milton Erickson, obwohl ich ihn nie persönlich kennenlernen durfte.

Es folgt mein Beitrag zum ersten deutschsprachigen Kongress für Ericksonsche Hypnose und Psychotherapie 1984 in München. Auch dieser Artikel enthält viele Fallbeispiele, mit denen sich sowohl strategische als auch hypnotherapeutische Vorgehensweisen beleuchten lassen.

Nach meinem Studium arbeitete ich von 1982 bis 1986 an der Stimm- und Sprachabteilung des Universitätsklinikums Heidelberg. Meine Patienten waren Stotterer oder hatten als Lehrer oder Sänger Probleme mit ihrer Stimme. Teil 2 führt mehrere Artikel zusammen, die meine Arbeit in diesem Feld illustrieren. Darunter sind auch sehr ungewöhnliche Fallgeschichten wie etwa die Arbeit mit einem Patienten, der einen Gaumensegeltremor und schwere chronifizierte Gesichtsschmerzen hatte. Dieser Fall wurde in mehreren Sprachen publiziert. Mehr als zehn Jahre nach Ende der Therapie meldete sich dieser Patient überraschend telefonisch und teilte mir eine wesentliche neue Information mit, die den Fall noch mal in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Diese überraschende Wendung ist im vorliegenden Band zum ersten Mal publiziert. Im Artikel »Macht des Therapeuten – Macht der Systeme« habe ich selbst katamnestische Nachuntersuchungen bzw. Recherchen veranlasst, die ebenfalls die Sachverhalte in neuem Licht erscheinen ließen.

Darauf folgt eine der – aus meiner eigenen Sicht – wichtigsten Arbeiten, die ich verfasst habe. Es geht um die Rehabilitation mit Hypnose nach Schlaganfällen oder Hirn-Operationen. In diesem Artikel berichte ich über die erfolgreiche hypnotherapeutische Arbeit in diesem Feld. Der Artikel schlägt aber auch einen weiten Bogen zur Arbeit mittelalterlicher persischer Ärzte wie Rhases und Avicenna sowie zu sportpsychologischen Forschungen aus dem Mentaltraining. Dabei wird dargelegt, dass Erickson einen wichtigen Unterschied machte zwischen der Arbeit mit Imaginationen und der Arbeit mit realen sensorischen Erinnerungen. Es wird außerdem deutlich, dass dieser Unterschied auch in der Psychotherapie relevant ist.

Dieser Artikel zur Rehabilitation von Schluck- und Zungenlähmungen gehört einerseits zu meiner Arbeit am Universitätsklinikum Heidelberg. Andererseits leitet er auch den Übergang zu einigen Arbeiten aus dem Bereich der medizinischen Hypnose ein. Es folgt der Fall der rätselhaften Heilung eines lange chronifizierten Hornhautrisses. Diese Heilung trat nach nur einer abendlichen Hypnosesitzung über Nacht ein. Die junge Klientin wurde dazu für eine Fernsehsendung interviewt. Daraufhin meldeten sich weitere Patienten mit Augenerkrankungen, sodass der ursprünglich publizierte Fall in diesem Buch durch eine zweite Fallschilderung ergänzt wird. Danach folgt ein kurzer Artikel zu meiner Arbeit mit Klienten, die in der Nacht mit den Zähnen knirschen.

Ich selbst habe unterdessen ziemlich viel eigene Erfahrung mit Hypnose in medizinischen und zahnmedizinischen Situationen. Diese Erfahrungen reflektiere ich in einem weiteren Artikel aus der Doppelperspektive des Patienten und Hypnoseexperten.

Teil 5 enthält schließlich verschiedene Arbeiten, die nicht klar einem einzigen Anwendungsfeld zuzuordnen sind. Als Otto Kernberg mit den Hamburger Kollegen Dulz und Eckert ein Buch mit dem Titel WIR: Psychotherapeuten über sich und ihren unmöglichen Beruf herausgab, wurde ich aufgefordert, einen humorvollen Artikel dazu beizusteuern. Im Artikel »Humor, Hoffnung und Hypnose« habe ich also über Zusammenhänge zwischen Hoffnung, positiver Erwartungshaltung und Humor nachgedacht, aber auch darüber, in welchem Verhältnis Humor und Hypnose zueinander stehen. Daran schließt ein Artikel zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Carl Rogers und Milton Erickson an. Man könnte denken, das sei der maximal denkbare Unterschied in der therapeutischen Haltung – doch lassen Sie sich überraschen!

Der Artikel zum Thema Ordeal-Therapie zeigt noch einmal abschließend das Leitthema des Buches: strategische Hypnotherapie. Diese von Erickson entwickelte und von Haley benannte Technik zeigt auf, dass ein strategischer Hypnotherapeut sich in einer Therapie aus guten Gründen gegen die Nutzung von Hypnose und Trance entscheiden und stattdessen auf andere wirksame Strategien setzen kann.

Zusätzliche Artikel, die das Thema strategische Hypnotherapie aus weiteren Blickwinkeln betrachten, finden sich online.*

Literatur

Haley, J. (1978): Die Psychotherapie Milton Ericksons. München (Pfeiffer).

Haley, J. (1996): Typisch Erickson: Muster seiner Arbeit. Paderborn (Junfermann).

Kernberg, O., B. Dulz u. J. Eckert (Hrsg.) (2006): WIR – Psychotherapeuten über sich und ihren »unmöglichen« Beruf. Stuttgart (Schattauer).

Mrochen, S., K. L. Holtz u. B. Trenkle (Hrsg.) (2015): Die Pupille des Bettnässers. Hypnotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg (Carl-Auer), 8. Aufl.

Rossi, E. L. (Hrsg.) (2015): Gesammelte Schriften von Milton H. Erickson, Bd. 3: Die Veränderung sensorischer, perzeptueller und psychophysiologischer Prozesse durch Hypnose. Heidelberg (Carl-Auer).

Stierlin, H. (2003): Die Demokratisierung der Psychotherapie: Anstöße und Herausforderungen. Stuttgart (Klett-Cotta).

Trenkle, B. (2016): Die Löwen-Geschichte. Hypnotisch-metaphorische Kommunikation und Selbsthypnosetraining. Heidelberg (Carl-Auer), 7. Aufl.

*  http://www.carl-auer.de/machbar/_bonbons_fuer_jungs.

3 Bonbons für 5 Jungs – Strategische Hypnotherapie

Am Anfang meiner Laufbahn als Psychologe hörte ich etwa 1985 auf einer kleinen Tagung in der Schweiz einen Vortrag eines ärztlichen Psychotherapeuten. Den Namen dieses Kollegen konnte ich leider nicht mehr herausfinden, obwohl er mein strategisches Denken über Psychotherapie mit diesem Vortrag sehr beeinflusst hat. Ich erinnere mich, dass der vortragende Arzt berichtete, er habe als junger Therapeut beim Beobachten eines alten erfahrenen Therapeuten den folgenden Eindruck gewonnen: Erfahrene Therapeuten intervenieren weniger, sie machen viel weniger als die jungen Therapeuten, aber das Wenige, was sie machen, bereiten sie viel besser vor. Er hat damals davon gesprochen, dass man ein Bühnenbild für die Intervention brauche. Man müsse die Bühne vorbereiten, auf der das Stück dann gespielt wird.

Wenn ich nun zurückblicke, hat das Studium der Strategien von Milton Erickson in Verbindung mit dieser Idee des Bühnenbildes meine therapeutische Entwicklung geprägt. Vielleicht war ich am Anfang meiner Laufbahn innovativer mit meinen Interventionen. Über die Jahre, mit wachsender Therapieerfahrung, wurde jedoch meine strategische Vorbereitung der Interventionen komplexer. Dabei spielten auch die Denkansätze und Vorträge von Jeff Zeig eine Rolle. Er hat immer wieder mit Filmfachleuten diskutiert und deren Ideen und Konzepte für gelungenes Storytelling und Dramaturgie genutzt, um therapeutische Strategien besser zu verstehen und zu optimieren.

Ericksonsche Therapeuten sprechen von Seeding, also dem Säen von Ideen, die Sozialpsychologen nennen das Priming, die Theaterwissenschaftler »foreshadowing«. Ein bekannter Ausspruch, der dem Dramatiker Anton Tschechow zugeschrieben wird, illustriert das treffend:

»Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.«

Die späteren Themen werden also dramaturgisch vorbereitet.

Und nun zu dem Fall, der mich zum Titel dieses Buches inspirierte:

Eine Mutter meldet sich in der Praxis wegen ihrer Tochter. Die Tochter Anette ist elf Jahre alt und stottert. Das Stottern sei nicht das unmittelbare Problem, denn eigentlich sei Anette sehr mutig und frech. Außerdem habe sie sich bisher durch ihr Stottern nicht sonderlich beeinflussen lassen; sie habe sogar in der Kirche vorgelesen.

Jetzt seien da aber einige Jungen an der Schule, die angefangen hätten, sie zu ärgern. Dabei gehe es auch nicht ausschließlich um das Stottern, sondern um das leichte Übergewicht des Mädchens. Am Beginn der Pubertät sei der Doppelangriff auf das Sprechen und ihre äußerliche Erscheinung wohl zu viel. Anette komme seit einiger Zeit oft weinend nach Hause und wolle auch in der Kirche nicht mehr vorlesen.

Da Eile geboten zu sein scheint, gebe ich der Familie mit Tochter sofort einen Beratungstermin. Bei dieser ersten Sitzung zeigt sich Anette in der Tat sehr fröhlich und selbstbewusst. Als das Gespräch allerdings auf die Hänseleien kommt, treten ihr sofort Tränen in die Augen. Ich kann spüren, wie sehr diese Hänseleien sie verletzen. Auch die Eltern zeigen sich von diesem plötzlichen Stimmungsumschwung in der Sitzung sehr betroffen. Anette erzählt, dass es sich immer um dieselben vier oder fünf Jungen handele, die sie hänseln. Am schlimmsten sei es, wenn sie ihr auf dem Schulhof »Anananette, dicke Fettette« nachrufen.

Während sie erzählt fallen mir spontan zwei Anekdoten über Milton Erickson ein, die ich noch nie therapeutisch genutzt habe. Zudem habe ich das Gefühl, ich sollte das Mädchen wieder mehr mit seinem frechen schlagfertigen proaktiven Teil in Kontakt bringen und diese Ressource therapeutisch utilisieren. Also erzähle ich Anette:

»Es gab einmal einen Mann, der war immer sehr neugierig und experimentierfreudig. Vor allem liebte er es, die Reaktion der Leute zu beobachten, wenn er sich komisch und unerwartet verhielt, wenn er etwas tat, womit keiner gerechnet hatte.

Einmal im Flugzeug saß ein Mann neben ihm, der hatte eine ungewöhnliche Armbanduhr. Der Mann griff nach dem Arm seines Sitznachbarn und hob ihn hoch: ›Sie haben aber eine interessante Uhr, kommt die aus der Schweiz?‹ Er verstrickte den Mann in ein so interessantes Gespräch, dass dieser zehn Minuten später den Arm immer noch in der erhobenen Position in der Luft hatte.«

Dabei demonstriere ich den erhobenen Arm. Das Mädchen kichert darüber, dass jemand vergessen kann, seinen Arm wieder runterzunehmen. Die Eltern sehen mich etwas irritiert an, als ob sie sagen wollten: Weiß unser Therapeut noch, was das Problem ist und weswegen wir hier sind?

Dann folgt schon die zweite Anekdote:

»Einmal hatte es dieser Mann sehr eilig. Er bog um eine Hausecke und lief voll in einen anderen Passanten hinein. Normalerweise hätte er sich entschuldigen müssen, wie jeder andere in dieser Situation es getan hätte. Doch der Mann tat etwas ganz anderes: Anstelle eines ›Es tut mir leid, habe ich Ihnen wehgetan?‹, schaute er sehr bedeutungsvoll auf seine Armbanduhr und sagte: ›Ja, es ist genau 15.10 Uhrl‹, dann ging er einfach weiter. In Wirklichkeit war es 17·30 Uhr. Nach einigen Schritten drehte er sich um, um zu sehen, was mit dem anderen Fußgänger passierte. Dieser stand noch immer starr, regungslos und grübelnd an dem Platz, an dem er angerempelt worden war, weil er nicht so schnell einordnen konnte, was gerade geschehen war.«

Anette beginnt zu kichern, als wüsste sie intuitiv, worauf ich hinauswill. Die Eltern hingegen sind sehr irritiert und verstehen offensichtlich gar nicht, was das mit dem Problem zu tun hat.

Ich wende mich an Anette: »Wäre das nicht irre, wenn dir auch so was Verrücktes einfallen würde? Etwas, womit diese Kerle niemals rechnen würden und von dem sie so überrascht wären, dass sie starr wie Salzsäulen stehen blieben?« Anette ist begeistert von dieser Idee, und wir beginnen, herumzublödeln und die verrücktesten Ideen zu entwickeln, wie man mit den Jungen verfahren sollte. Schließlich kommen wir auf folgende Idee: Sobald die Jungen wieder anfangen »Anananette, dicke Fettette« zu rufen, soll sie einfach auf die Jungs zugehen, in ihre Tasche greifen, drei Bonbons herausziehen und diese verteilen. Da es aber drei Bonbons und fünf Jungen sind, ist natürlich klar, dass nicht jeder eines bekommen kann. Sie wird also die drei Bonbons willkürlich verteilen und sagen: »Mehr gibt’s heute aber nicht!« Dann soll sie sich umdrehen und in aller Ruhe einige Schritte gehen. Nach 10 bis 15 Metern kann sie sich dann umdrehen und nachschauen, was passiert, ob die Jungen noch immer wie gelähmt mit einem Bonbon in der ausgestreckten Hand dastehen. Anette sitzt da und kichert und strahlt, die Traumatisierung scheint aufgelöst. Plötzlich ist sie kein passives Opfer mehr, sondern greift aktiv in das Geschehen ein. Da wir alle sehr gespannt auf das Ergebnis des Versuchs sind, gebe ich Anette schon zehn Tage später einen weiteren Termin. Was sie bei diesem Folgetermin erzählt, ist überraschend:

Die Jungen haben sie während der ganzen Zeit kein einziges Mal gehänselt. Anette ist sogar etwas enttäuscht, weil sie die Bonbons nicht losgeworden ist. Sie hat offensichtlich viel zu frech aus der Wäsche geschaut, als dass sich irgendjemand auf eine Konfrontation mit ihr eingelassen hätte. Also gebe ich ihr 20 Minuten lang gute Ratschläge, wie sie sich verhalten solle, damit die Jungen wieder mit dem Hänseln anfangen. Die Idee erscheint uns einfach viel zu gut, als dass man sie unerprobt lassen könnte. Wir üben, wie Anette auf den Boden schauen, dem Blick der Jungen ausweichen, zögernd und unsicher über den Schulhof gehen könnte usw. Doch es hilft alles nichts. Die Jungen hänseln sie – »leider« – nie wieder.

Anette kam danach noch ein Jahr lang zu einer regulären Stottertherapie zu mir. Von ihrem Mut, ihrer Intelligenz und ihrem schlagfertigen Humor war ich immer wieder beeindruckt.

Ein halbes Jahr später kommt ein neunjähriger Junge in Therapie, der ebenfalls wegen seines Stotterns von einem Klassenkameraden gehänselt wird. Dem Jungen erzähle ich die Geschichte von Anette und, dass wir leider immer noch nicht wissen, ob dieser Trick funktionieren würde. Der Junge besitzt eine Stoppuhr. Deshalb bekommt er die Aufgabe, ein Bonbon auszugeben und zu sagen: »Du bekommst heute aber nur eins«, und dann die Stoppuhr zu drücken, damit wir herausfinden können, wie lange jemand braucht, um sich wieder bewegen zu können. Drei Wochen später kommt der Junge wieder und teilt uns das Ergebnis mit: 40 Sekunden lang habe der andere bewegungslos dagestanden.

»Dann hast du ihm also ein Bonbon gegeben?!«, frage ich erstaunt. Zu meiner Verwunderung höre ich, dass er das Bonbon nicht verschenkt hat. Als guter, sparsamer Schwabe hat er die Aufgabenstellung etwas abgewandelt. Er hat dem anderen lediglich von Weitem zugerufen: »Nächstes Mal bekommst du ein Gutsele (schwäbisch für Bonbon)!« Dann hat er die Stoppuhr gedrückt.

Ich habe diese Technik später noch einmal bei einem Zehnjährigen ausprobiert. Dieser war allerdings zu schüchtern, um so etwas zu wagen.

In den beschriebenen Fällen kommt vor allem der strategische Aspekt des ericksonschen Vorgehens zum Tragen. Die Intervention hat jeweils einen mehrstufigen Aufbau, die Schritte werden wie im Schachspiel vorausgedacht und geplant. Zuerst eine Anekdote, die mit dem Problem scheinbar nichts zu tun hat, aber lustig und unterhaltsam ist.

Humor ist ein gutes Mittel gegen Hilflosigkeit und Schamgefühle. Anschließend wird ein Aspekt der Geschichte auf den Problemkontext übertragen (»Wäre das nicht irre, wenn dir auch so was Verrücktes einfallen würde?«). Nachdem die Jungen in Anettes Fall aufgehört hatten zu hänseln, bekam sie – unter dem Vorwand, die Jungen wieder zum Hänseln zu bewegen – Informationen darüber, wie sie selbst durch nonverbales Verhalten das Hänseln auslösen oder eben auch verhindern könnte. Die Intervention war rein lösungsorientiert. Begleitende oder mitverursachende Aspekte wie die Familiendynamik oder eine Vulnerabilität für diese Reaktion blieben unberücksichtigt. Es wurde sofort in Richtung Lösung gearbeitet, ohne weitergehende Ursachen zu beleuchten. Humor und Mut des Mädchens wurden »utilisiert«, und das traumatisierende Muster wurde bei ihr und auch bei den hänselnden Jungen unterbrochen. Letztere hatten es interessanterweise nicht einmal mitbekommen.

Entscheidend für den Erfolg ist die gute strategische Vorbereitung. Ohne die beiden Geschichten über Milton Erickson hätte ich niemals direkt dem Mädchen vorschlagen können, drei Bonbons an fünf Jungs zu verteilen. Welche Geschichte oder Geschichten hätte man zur Vorbereitung dieser Intervention noch benutzen können? Solche Fragen können sich die Leser bei der Lektüre dieses Buches immer wieder stellen, um das eigene strategische Denken zu schulen und um bessere »Bühnenbilder« für das eigene therapeutische Handeln zu entwerfen.

Welche Geschichte hätte sich noch geeignet? Vielleicht hätte ich dem Mädchen auch – oder vielleicht noch besser – Folgendes erzählen können:

»Kennst du die Sendung Verstehen Sie Spaß? Da gab es einmal eine Sendung, da wurde kurz vor Weihnachten in Garmisch-Partenkirchen vor dem Hauptpostamt gedreht. Die Leute haben kurz mit dem Auto angehalten und schnell ihre Weihnachtspost aufgegeben. Als sie wenige Minuten später auf ihr Auto zuliefen – ja, da war plötzlich ein Skiständer mit vier Paar Ski auf dem Dach! Das Fernsehteam hatte die Ski ganz schnell aufs Dach montiert. Und dann haben sie gefilmt, wie die Leute reagiert haben. Einer kam aus der Post und ging auf sein Auto zu. Er sah den Skiständer mit den vier Paar Ski und blieb wie angewurzelt stehen, starr mit offenem Mund. Sie haben ihn über eine Minute lang gezeigt, wie er regungslos dastand und einfach nur auf sein Auto starrte. In der Sendung wurde gesagt, er sei fast fünf Minuten lang so starr gestanden. Nun, wäre es nicht irre, wenn du, wenn die Jungs wieder rufen ›Anananette, dicke Fettettete‹, so etwas Verrücktes und Unerwartetes machen würdest, so verrückt wie plötzlich ein Skiständer auf dem Dach eines Autos – und diese Jungs würden lange einfach regungslos wie Salzsäulen auf dem Schulhof stehen?«

Strategische Hypnotherapie beinhaltet sowohl die strategische Vorbereitung von therapeutischen Maßnahmen als auch das strategische Auswählen, welche Technik grundsätzlich zum Einsatz kommt.

Jeff Zeig, der Direktor der Milton Erickson Foundation, der 1978 die Praxis von Milton Erickson übernahm und das Archiv der Milton Erickson Foundation verwaltet, sagte in einem Workshop in Freiburg vor wenigen Jahren, dass Milton Erickson höchstens in 20 % seiner Zeit und bei 20 % seiner Patienten mit Hypnose gearbeitet habe. Bei 80 % habe er es für strategisch günstiger gehalten, mit anderen therapeutischen Techniken zu arbeiten.

Über die Fallbeispiele in diesem Buch wird die Bandbreite der ericksonschen Interventionsebenen für verschiedene psychotherapeutische und medizinische Anwendungsfelder sichtbar. Hypnotherapeuten in der Tradition von Milton Erickson arbeiten nicht nur mit Hypnose. Oder: Wer einen Hammer als einziges Werkzeug hat, für den sieht alles nach einem Nagel aus. Es gibt zu diesem bekannten Satz übrigens auch eine tiefenpsychologische Variante: Wer einen Schraubenschlüssel als einziges Werkzeug hat, für den sieht alles nach Muttern aus.

Literatur

Holtz, K. L., S. Mrochen, P. Nemetschek u. B. Trenkle (Hrsg.) (2016): Neugierig aufs Großwerden – Praxis der Hypnotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl.

1 Erickson und Familientherapie