Die Reihe Management/ Organisationsberatung

Die heutige Gesellschaft ist eine organisierte Gesellschaft. Man muss schon lange suchen, um überhaupt noch Bereiche zu finden, die nicht von Organisationen geprägt sind. Unternehmen jedweder Größe und Eigentumsform, Verwaltungen, Schulen, Gerichte, Krankenhäuser, Universitäten, Kirchen, Verbände, Parteien, Vereine etc. – allesamt übernehmen sie gesellschaftliche Funktionen und bestimmen unser Leben. Die Fülle an Aufgaben, die unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung und Digitalisierung gleichzeitig zu erfüllen sind, wie auch die Bandbreite an Organisationskonzepten und Führungsansätzen, mit denen der komplexe Alltag bewältigt werden soll, stecken das Feld ab, in dem Management und Beratung mehr oder weniger wirksam werden.

Die Zeiten, in denen es einfache Antworten auf die vielfältigen Fragen zur Überlebenssicherung einer Organisation und auch zur Steuerung tagtäglicher Entscheidungsprozesse gab, sind seit Langem vorüber. Der Komplexität, mit der heute alle konfrontiert sind, die in verantwortlichen Funktionen in und mit Organisationen arbeiten – Führungskräfte, Manager und Organisationsberater etc. –, wird man mit Rezeptwissen nicht mehr gerecht. Hier setzen die neuere Systemtheorie und mit ihr die Reihe Management/Organisationsberatung im Carl-Auer Verlag an. Beide liefern Konzepte und »Landkarten«, die auch im unübersichtlichen Terrain von Wirtschaft und Organisation Orientierung ermöglichen und Handlungsfähigkeit sicherstellen.

Das Ziel der Reihe ist es, empirisch gehaltvolle Forschungen über die Prozesse des Organisierens wie auch theoretisch angemessene Führungs- und Beratungsansätze zu präsentieren. Zugleich sollen bewährte Methoden einer system- und lösungsorientierten Praxis im Kontext von Organisationen überprüft und neue Ansätze entwickelt werden.

Torsten Groth

Herausgeber der Reihe

Management/Organisationsberatung

James G. March

Zwei Seiten der Erfahrung

Wie Organisationen intelligenter werden können

Aus dem Amerikanischen

von Maren Klostermann

2016

Vorwort

Ein immerwährendes Streben nach Intelligenz – James G. March

James G. March gehört ohne Zweifel zu den Riesen, auf deren Schultern heutige Organisationstheoretiker und Managementdenker stehen. Wie kaum ein Zweiter hat er die Theorie des Entscheidens geprägt und dadurch nicht nur die heutige Organisationstheorie maßgeblich beeinflusst, sondern auch beständig kreative Anstöße für Management- und Beratungsansätze geliefert. Nicht zufällig gehört James March neben Peter Drucker zu den meistgenannten Inspirationsquellen aktueller Management-Bestsellerautoren.

Der vorliegende Band gibt eine Essenz seines sechs Jahrzehnte währenden Wirkens wieder. Nicht jedoch, wie es erwartbar und auch fruchtbar gewesen wäre, als eingedampftes Konzentrat aller seiner Ideen rund um Entscheiden in Organisationen, sondern reduziert auf eine aktuelle Frage, die womöglich die Überlebensfrage aller Unternehmen ist: Wie können wir intelligente Entscheidungen treffen? – Wie können wir intelligent mit der Ambiguität umgehen, dass Lernen sowohl überlebensnotwendig wie auch riskant ist? Wie können wir aus Erfahrungen lernen, die uns helfen, Entscheidungen zu treffen, und uns zugleich überlebensgefährdend einschränken?

Ein kurzer Streifzug durch James Marchs umfängliches, immerfort rationalitätskritisches Werk zeigt einen Denker, der nie reißerische normative Konzepte propagiert hat und der nie karrierestrategisch einen eigenen Ansatz gegen andere gepusht hat. Er zeigt einen Forscher, der es geschafft hat, mit purer Empirie und scharfsinniger Beobachtung alltäglicher Entscheidungsprozesse dem Denkfundament der klassischen Entscheidungstheorie tiefe Risse zuzufügen. Und gerade mit seiner Weigerung, der Management- und Beraterszene einfache Rezepte zu liefern, ist es ihm gelungen, die vielschichtigen, komplexen organisationalen Phänomene, mit denen Manager wie Berater immerfort zu kämpfen haben, theoretisch wie praktisch »einzufangen«.

In einem Interview, das ich mit James March führen konnte (vgl. March 2001), nutzt er das Bild einer Zwiebel, mit dem er sein Vorgehen – v. a. gemeinsam mit dem späteren Nobelpreisträger Herbert Simon – umschreibt. Wie beim Häuten einer Zwiebel ging es beiden darum, Vorstellungen von Rationalität im Entscheidungsprozess Schicht für Schicht abzutragen: Die klassische Entscheidungstheorie versuchte Planungstools zu entwickeln, um zukünftige Ereignisse vorwegzunehmen; March und Simon verwiesen auf die Unmöglichkeit, über Planungen Sicherheit zu gewinnen. Folgerichtig machten sie auf die Notwendigkeit der Unsicherheitsabsorption aufmerksam und entwarfen ein Konzept, das nicht nur die Basis für Luhmanns Organisationstheorie bildet (vgl. Luhmann 2000), sondern in der heutigen Organisations- und Risikoforschung nicht mehr wegzudenken ist.

Fast alle Entscheidungstheorien Mitte des letzten Jahrhunderts bauten unkritisch auf der Prämisse rationaler Wahl auf; March und Simon sprachen von »bounded rationality«, also einer Rationalität, die – wie sich in den Forschungen herausstellte – aufgrund geringer Aufmerksamkeitsressourcen eng begrenzt ist. Keineswegs suchten die Beteiligten nach optimalen Alternativen, sondern begnügten sich recht bald mit zufriedenstellenden Lösungen. Gängige Theorien gingen davon aus, dass Ziele gesetzt sind, so dass man sich an diesen ausrichten kann; March und Kollegen zeigten jedoch, dass sich Ziele und Präferenzen im Suchprozess veränderten und anpassten, so dass auch der dritte Baustein einer Entscheidungstheorie zu einem Bruchstück mutierte. Die Rationalität, so March ganz im Einklang mit systemtheoretischen Organisationsansätzen, ist hauptsächlich noch als rhetorische Figur zu nutzen.

Alle diese frühen Forschungen sind mitzudenken, wenn sich March in den nachfolgenden Kapiteln auf die Suche nach intelligenten Entscheidungsprozessen begibt. Letztlich handelt dieses Buch von all jenen Ambiguitäten und Lernhindernissen, die erst dann besonders hervorstechen, wenn man den Blick nicht mehr mit Rationalitätsunterstellungen verengt. Angelegt ist dieses Denken schon in zwei Aufsätzen, durch die March weltweit Bekanntheit erlangte: »A Garbage Can Modell of Decision Making« (Cohen, March, Olsen 1972) und »Technology of Foolishness« (March 1976). Beide Texte haben auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen nichts an Aktualität und Praxisrelevanz verloren.

Im sogenannten Mülleimer-Modell definiert March mit Kollegen eine Organisation als »eine Ansammlung an Entscheidungen, die nach Problemen Ausschau halten; eine Ansammlung von Sachverhalten und Gefühlen, die nach Entscheidungssituationen Ausschau halten, in denen sie zutage treten könnten; eine Ansammlung von Lösungen, die nach Sachverhalten Ausschau halten, zu deren Beantwortung sie dienen könnten; und eine Ansammlung von Entscheidungsträgern, die nach Arbeit Ausschau halten« (Cohen, March u. Olsen 1990, S. 332).

Mit dieser Definition sind vier Variablen benannt, von denen Entscheidungsprozesse abhängen: Lösungen, Probleme, Entscheidungsgelegenheiten und Teilnehmer. Alle vier Variablen sind keineswegs, wie zu erwarten wäre, fest miteinander gekoppelt. Die erwartbare Abfolge: Generierung von Handlungsalternativen, Abwägen der Konsequenzen und Wahl der besten Alternativen erachten die Autoren keineswegs als angemessene Beschreibung, dessen, was passiert. Der argumentative Witz das Garbage-Can-Ansatzes besteht darin, dass die vier Elemente eines Entscheidungsprozesses als lose miteinander gekoppelt angesehen werden. In einer sogenannten »organized anarchy« sind Lösungen vorhanden, die sich passende Probleme suchen und die mehr oder weniger zufällig von irgendwem bei passender Gelegenheit aufgegriffen werden. Was in den Mülleimer reinkommt und was – wenn überhaupt – wieder herauskommt, hängt in weit höherem Maße von den zeitlichen Abfolgen des Einwerfens und Herausnehmens ab als von sachlich begründeten Notwendigkeiten.

Der von March an der Carnegie Mellon School begründete verhaltenswissenschaftliche Ansatz zeigt in Erkenntnissen dieser Art seine besonderen Stärken. Das tagtäglich erfahrbare Chaos in Organisationen mitsamt den Storys und Klatschgeschichten über Entscheidungsprozesse wird in die Forschung integriert und in seiner Funktionalität aufgewertet.

Wie Manager und Berater mit der organisierten Anarchie besser umgehen könnten, zeigt March in dem Aufsatz »Technology of Foolishness«, der als früher Entwurf zum vorliegenden Buch zu sehen ist. March schlägt vor, sich auch an einer spielerischen Kinder-Logik zu orientieren und der allgegenwärtigen Technologie der Vernunft eine Technologie der Torheit an die Seite zu stellen: »Individuen und Organisationen müssen Wege finden, um Dinge zu tun, für die sie keine guten Gründe haben« (March 1990, S. 288).

March kommt in dem Aufsatz zu dem paradox anmutenden Schluss, zur Steigerung der Intelligenz sei es notwendig, mehr Verspieltheit zuzulassen. Da ein allzu striktes Beharren auf Zweck, Konsistenz und Rationalität die Fähigkeit einschränkt, neue Ziele und Zwecke zu (er)finden, neue Märkte zu erobern oder auch innovative Produktionswege zu beschreiten, sind ergänzende, scheinbar törichte Verhaltensweisen unbedingt zuzulassen und zu befördern.

Was March um 1975 noch recht kurz, eher als Denkanstoß für Wissenschaft und Beratung formuliert hat, wird im vorliegenden Band umfänglich ausgearbeitet. March unterscheidet »low intellect learning« und »high intellect learning«, spielt vielfältige Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch, aus Erfahrungen zu lernen, weist auf die notwendige Kombination des Gegensatzpaares »exploitation« und »exploration« hin, spricht sich für eine »utopische Intelligenz« aus, und zeigt auf, warum Ideen nicht nur gut durchdacht, sondern auch nachvollziehbar schön sein sollten. Gerade im Hervorheben der jeweiligen Ambiguitäten zeigt sich die Praxisrelevanz dieses Buchs. Was er mit seinen Ausführungen bezweckt, ist nirgends passender formuliert als in dem folgenden Interviewausschnitt:

»Das Herzstück einer guten Beratung ist die Einsicht, dass kein Berater genug über die Zusammenhänge weiß, um konkrete Ratschläge zu erteilen. Ein guter Berater kann bestimmte Dinge ansprechen. Was er sagt, ist immer irgendwie falsch, es sollte aber mindestens so falsch sein, dass es einen Manager dazu bringt, noch einmal neu darüber nachzudenken, was er eigentlich tut. Wenn er noch einmal neu nachdenkt, findet er schon selbst heraus, was er sinnvollerweise tun kann« (March 2001, S. 32 f.).

Ganz in diesem Sinne sind die vielen Ideen in diesem Buch zu verstehen. Sie liefern ein Reflexionswissen und regen an, auch dort noch Fragen zu stellen, wo Entscheidungs-, Lern- und Innovationsratgeber nur Antworten geben können.

Mit dem bei Robert Merton entlehnten Bild eines »Theorieriesen«, das dieser Einleitung vorangestellt wurde, geht womöglich eine ganz ähnliche Vorstellung von dem Menschen March einher. Wer ihm nun aber gegenübersteht, hat keineswegs einen Riesen vor sich, vielmehr einen kleinen, älteren Herrn mit respektlosem Lachen, wachem Blick und ironischem Humor (vgl. Groth u. Nicolai 2002). Diese drei Attribute zeigen sich auch in diesem Buch. Respektlos nimmt March sich all jene Ansätze zur Brust, die davon ausgehen, dass das Lernen aus Erfahrungen grundsätzlich als positiv zu bewerten sei. Wach verfolgt und kommentiert er neueste Ansätze zum Organisationslernen sowie zur Innovationsforschung und integriert in seine Entscheidungstheorie en passant aktuelle narrative Ansätze. Und mit feiner Ironie hält er all denjenigen, die weiterhin an der Idee rationaler Wahl festhalten wollen, die Weisheit seiner Enkelinnen entgegen.

Torsten Groth

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Es ist mir eine große Freude, dass mein Buch nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Bedauerlich ist nur, dass ich den Einfluss der deutschen Wissenschaft und Literatur auf mein eigenes Denken nicht angemessen gewürdigt habe. Auch wenn ich nicht in der Tradition von Thomas Mann (Der Zauberberg), Johann Wolfgang von Goethe (Wilhelm Meister), Günter Grass (Die Blechtrommel) und Niklas Luhmann (Die Gesellschaft der Gesellschaft) schreibe, so bin ich doch zweifellos stark von ihnen beeinflusst, ebenso wie von dem umfangreichen deutschsprachigen Wissenschaftskanon (insbesondere Kant, Hegel, Schiller, Weber). Es ist eine viel zu reiche Tradition, die zudem einen viel zu großen Zeitraum umfasst, um mit meinem kleinen Buch in Verbindung gebracht zu werden, aber ich fühle mich geehrt, dass meine Ideen in dieser Sprache zum Ausdruck kommen können. Deutsche Autoren ringen seit Jahrhunderten mit dem Chaos und der Produktivität des Mehrdeutigen, und ich freue mich wirklich sehr, dass ich mich ihnen als kleiner Mitstreiter in diesem Kampf anschließen kann.

James G. March

Portola Valley, im April 2016

Dank

Die Kapitel dieses Buches beruhen auf drei im Oktober 2008 an der Cornell University gehaltenen Vorlesungen. Ich danke der Universität und insbesondere meinen Gastgebern, Victor Nee und Danielle Adams, die diesen Besuch zu einem großen Vergnügen für mich machten. Ein Teil des Materials basiert auf Vorträgen, die ich an der Harvard University, dem Massachusetts Institute of Technology und der University of California, Irvine, gehalten habe. Für die kompetente Unterstützung bei der Vorbereitung des Manuskripts für die Veröffentlichung bin ich drei Redakteuren der Cornell University Press zu Dank verpflichtet: Roger Haydon, Priscilla Hurdle und Anage Romeo-Hall ebenso wie Jamie Fuller.

Das Buch konzentriert sich auf ein paar kleinere Aspekte einer einfachen Frage: Welche Rolle spielt die Erfahrung bei der Erzeugung von Intelligenz, insbesondere in Organisationen, bzw. welche Rolle sollte sie spielen? In den hier vorgestellten Kapiteln versuche ich, Fragmente einer Teilantwort auf diese Frage zu liefern. Die Fragmente repräsentieren eher eine Stichprobe möglicher Ideen als eine umfassende Enzyklopädie davon. Sie bieten eher unausgereifte Überlegungen zu den Ideen als vollständige Erklärungen. Die geringe Anzahl der Wörter im Buch wird vielleicht ein wenig durch die große Anzahl der Literaturverweise ausgeglichen (ein Zeugnis für die Unzulänglichkeit des Autors), einschließlich einer exzessiven Zahl von Selbstreferenzen (ein Zeugnis für die Maßlosigkeit des Autors).

Sieben geschätzte Kollegen und Freunde haben wesentlich zu den hier vorgestellten Ideen beigetragen, und auch wenn sie vielleicht zu Recht behaupten werden, dass ich Schlüsse aus ihren Lehren ziehe, die nicht in ihrer Absicht lagen, müssen sie sich eine gewisse Mitverantwortung zuschreiben lassen: Mie Augier, die die Abgründe zwischen Schütz, Kundera, Platz, Nietzsche und Dosi durch eine bewundernswerte Mischung aus Begeisterung und Skepsis überbrückt; Barbara Czarniawska, die seit vielen Jahren geduldig versucht, mir etwas über Geschichten, Erzählungen und Organisationstheorie beizubringen; Jerker Denrelle, der mein Leben durch Gespräche über endogenes Sampling, Lernen und die Wunder der stochastischen Prozesse bereichert hat; Daniel Levinthal, mit dem ich seit vielen Jahren zusammenarbeite und über Probleme des organisationalen Lernens diskutiere; John P. Olsen, dessen Klugheit, wissenschaftliche Akribie und Freundschaft mein gesamtes Handeln und insbesondere die hier behandelten Themen prägen; William H. Starbuck, dessen Beiträge zu einem Verständnis der Probleme und Möglichkeiten des Lernens in Organisationen fast so viele Jahre umspannen wie bei mir; und Sidney Winter, dessen Widerstreben, seine Gedanken schriftlich festzuhalten, genauso groß ist wie deren Fruchtbarkeit, wenn er sich doch einmal dazu durchringt. Ich werde nicht versuchen, die vielen anderen, denen ich Dank schulde, hier aufzuzählen. Das habe ich einmal versucht, und es erforderte etliche Textseiten.

Ich habe von der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die Spencer Foundation, die Reed Foundation, die Stanford Graduate School of Business, die Stanford University School of Education und die Copenhagen School of Business profitiert. Ich danke ihnen allen für ihre Unterstützung und für den Geist der freien Forschung, in dem sie gewährt wurde.

Schließlich bin ich meiner Frau Jayne für ihre unendliche Geduld zu großem Dank verpflichtet. Mit einer Anmut, die für eine seltene Art von Güte spricht, erträgt sie meine Gegenwart seit über sechzig Jahren. Das ist eine Leistung, die mir ebenso unerklärlich ist, wie sie mich mit Dankbarkeit erfüllt.

James G. March