Carl-Auer

Stefan Eikemann

Spielraum des Paares

Wagnis und Entwicklung
in der Paartherapie

Mit einem Vorwort von Claudio Angelo

2016

Danksagung

Für dieses Buch gebührt mein Dank zuallererst den Paaren. Sie sind meine Lehrmeister und sie überraschen mich mit immer neuen Lösungen, um in ihren eigenen Geschichten ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Meine Familie hat einen großen Anteil an diesem Buch, sie hat mich bei dessen Entstehung sehr unterstützt. Dafür bin ich ihr zu großem Dank verpflichtet.

Eine besondere Rolle spielen Marcus Friedrich und Leonie Schröder, die für dieses Buch entscheidende Dialogpartner waren. Hierfür danke ich ihnen an dieser Stelle in besonderer Weise.

Stefan Eikemann

Vorwort

Systeme …

Im Laufe der Entwicklung der Systemtheorie, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, verstärkte sich zusehends das Interesse an Paarbeziehungen. Der ursprüngliche Anwendungsbereich der Systemtheorie war die Psychiatrie. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen schwere psychische Störungen und deren dahinterliegende Ursachen. Es wurde mit ihr eine radikale Änderung des Blickes auf psychische Störungen eingeleitet. Man versuchte, die »materialistische« Sicht, die psychische Störungen mit Organstörungen gleichsetzt, zurückzudrängen. Die Systemtheorie gab sich nicht damit zufrieden, die psychische Störung als eine Dysfunktion eines Organes bzw. des Gehirns des Symptomträgers hinzunehmen, welche auf medizinische Weise behandelt werden muss. Durch die Systemtheorie wurde die »immaterielle« Dimension der Kommunikation, als Teil des Phänomens der psychischen Störungen, eingeführt. Der Fokus des Interesses lag auf der Familie und ihrer Funktion als System, wobei man sich dabei vor allem Störungen in der Organisation und in der Kommunikation widmete, welche dann die »wahren« Hintergründe darstellten, denen das Auftauchen des Symptoms zugeordnet werden konnte. Die Einführung der Zirkularität, welche dem Prinzip der Kausalität anderer Theorieansätze entgegengesetzt wurde, verneinte die Möglichkeit, dass innerhalb von Beziehungen (also auch in Paarbeziehungen) einzelne Handlungen auch direkte Folgen, entsprechend eines linearen Prinzips, haben können. In der Tat verdeutlichte die Ausweitung des Beobachtungsfeldes auf Interaktionssequenzen, dass das Endergebnis ein Produkt aus dem Verhalten aller beteiligten Subjekte ist. Hieraus ergab sich dann das zu lösende Problem in den Interaktionen. Weiterhin ist jedes Individuum ab seiner Geburt Teil mehrerer Systeme (nicht nur dem der Ursprungsfamilie). Die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Komponenten der Systeme wurden beobachtet und auf der Grundlage der darin enthaltenen (Dys-)Funktionen konnten sich die Verhaltensweisen der Einzelwesen entwickeln. Die zentrale Bedeutung der Beziehung in allen vitalen Äußerungen des Menschen hat für lange Zeit innerhalb der systemischen Theorie das Konzept des Individuums praktisch auf den Kopf gestellt; nämlich als einen reinen Lagerplatz psychischer Probleme, die der Symptomträger zum Ausdruck bringt, aber wofür die Verantwortung bei der Ursprungsfamilie zu suchen ist.

Wenn man jedoch die systemische Sicht auf die Paarbeziehung anwendet, begibt man sich ins Land von allen und von niemandem. Je nachdem, wie genau man hinschaut, kann das Paar auch als Prototyp eines Systems gesehen werden. Bei der Beschäftigung mit der Paarbeziehung befindet man sich in einem Gebiet, in dem völlig andere Probleme zu bewältigen sind. Sie sind mehr an die Natur und an den Inhalt von Beziehungen geknüpft, oft frei von zu beobachtenden Etiketten und Rollenzuweisungen, vor allem meist frei von psychiatrischen Störungen.

Zunächst war die Behandlung von Paaren auch eine Randerscheinung in der systemischen Welt und ihre Behandlung endete oft im Treibsand. Oftmals war sie eingebettet in eine Familientherapie mit einer psychiatrischen Störung des Indexpatienten. Das Problem der Orientierungspunkte in der Therapie wurde in Abwesenheit des Symptoms besonders deutlich. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit drängten sich unterschiedliche Sichtweisen, die für die Einzelnen existenziellen Charakter haben: unterschiedliche Lebensstile, unterschiedliche Glaubenssätze und unterschiedliche Gewohnheiten. Meinungen und Glaubenssätze sind aber keine behandlungsbedürftigen Symptome (es sei denn, man identifiziert sie als delirant).

Sowohl in privaten wie auch in öffentlichen Kontexten haben die klassischen Familientherapien immer mehr abgenommen und die Paarbehandlungen nehmen zu. Die einzige Ausnahme bildet wohl die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hier wird in vielen Fällen die Familie in die Behandlung mit einbezogen, da der Grad der Abhängigkeit der Indexpatienten von den innerfamiliären Dynamiken so augenfällig ist, dass diese Vorgehensweise fast keiner Rechtfertigung bedarf.

Die Notwendigkeit, zu große Vermischungen mit den biologischen Theorien der Psychiatrie und mit psychodynamischen und psychoanalytischen Theorien zu vermeiden, hat nicht nur den Dialog mit anderen Klinikern erschwert, sondern hat die Systemtheorie an den Rand gedrängt. Hinzu kam, dass zahlreiche von ihr angebotene Lösungen für die schweren psychischen Störungen gescheitert sind. Glorreich war das Scheitern der Doublebind-Theorie, mit der man die Entstehung der schizophrenen Störungen als eine Konsequenz der dysfunktionalen innerfamiliären Beziehungen mit fortlaufenden paradoxen Botschaften zu erklären versuchte. Das Individuum ist dabei für lange Zeit als ein passives Subjekt gedacht worden, als ein Blitzableiter, auf den die Spannungen in der Familie umgeleitet werden. Durch die mangelnde Beachtung der Dimension der Zeit wurde das zuvor Geschehene, das in der Familie zu diesem Punkt geführt hatte bzw. ihm vorausging, durch die Beobachtungen der Gegenwart ins Abseits gerückt.

Trotz allem gab es ab den 80er-Jahren immer wieder die Notwendigkeit, dem Individuum einen Wert innerhalb der Funktionsweise eines Systems zuzuerkennen. Wesentlich hierfür sind die Bedeutungen, die jedes Subjekt in sich trägt, und die Bedeutungen, die jedes Subjekt den Interaktionen zuschreibt. Jedes Element eines Systems ist ein Individuum mit unterschiedlichen Eigenschaften. Aus ihnen ergibt sich die Unterschiedlichkeit zwischen den Systemen. Auch in einem »toten System«, wie einem mit Bällen gefüllten Kissen, macht es einen Unterschied, ob sich zwischen den Bällen ein Würfel befindet. Das Kissen als Ganzes bekommt andere Eigenschaften. Es entsteht also die Notwendigkeit, sich mit den Eigenschaften der einzelnen Elemente des Systems zu beschäftigen. Die sich entwickelnden Eigenschaften der Individuen definieren sich durch die Bedeutungen, mit denen ein jedes der Welt begegnet. Diese hat jeder von uns im Laufe der Zeit durch Begegnungen mit Sachen und Personen und vor allem durch die Bedeutungen, mit denen die Ursprungsfamilie die Welt belegt, in sich aufgenommen und entwickelt. Auch hier muss als zentrales Verbindungselement der Dimension der Zeit deutlich mehr Bedeutung als bisher gegeben werden: Die Familiengeschichte und die Geschichte anderer Systeme, denen wir angehören, fordern von uns, die Bedeutungen, mit denen wir die Welt repräsentieren, ständig zu verändern.

Es wurde immer deutlicher, dass die grundsätzliche Schwäche der Systemtheorie im Mangel einer Theorie des Individuums aus psychologischer Sicht besteht. Gleichzeitig schenkte die Systemtheorie, im Gegensatz zu anderen Denkansätzen, den neuen theoretischen Entwicklungen im Bereich der Individualpsychologie wenig Aufmerksamkeit. Die Auseinandersetzung mit ihnen ist aber geeignet, um die eigenen Ansätze zu vertiefen, zu verfeinern und zu verbessern. Im Wesentlichen wurde mit dem vorhandenen Instrumentarium und den vorliegenden Modellen weitergearbeitet. Nicht zuletzt haben auch die zwar in der psychoanalytischen Welt angesiedelten, aber einen perfekten systemischen Ansatz verwendenden Forschungen von Louis Sander und seiner Schule (Sander 1983), der Bostoner Process of Change Study Group über die Entwicklung der Mutter-Kind-Beziehung, keinen Einlass in den systemischen Diskurs gefunden. Aus diesen Studien geht deutlich hervor, wie die Bedeutungen, die sich durch frühe Interaktionen entwickeln, unlöslich gebunden sind an die Emotionen, die wir innerhalb bestehender Beziehungen empfinden. Ohne Austausch von Emotionen entsteht keine Empathie. Empathie aber wird zum wichtigsten Element, ob ich mich sicher genug fühlen kann, meine Emotionen auszudrücken, ohne zurückgewiesen zu werden, oder ob die Beziehung darunter leidet. Negative Kritik gegenüber unsere Identität definierenden Werten, vor allem wenn sie mit Aggression unterfüttert ist, bedroht die Beziehung und wir erleben die Situation nicht mehr als sicher, sondern als riskant.

Durch die aus guten Gründen in diesem Buch vorgelegte eingehende Betrachtung des Spielraums des Paares ergeben sich auch auf dem Hintergrund des soeben Gesagten diverse Bereiche in der systemischen Theorie, die zu erweitern und zu vertiefen sind. Der Kontext des Spiels bringt uns zurück zu dem, was Bateson über Aggressivität sagt, einem der wichtigsten und variantenreichsten Instinkte, mit dem wir täglich umgehen müssen (umgekehrt verweist dies auf das primäre Bedürfnis nach Sicherheit, das sich durch die Präsenz von Aggressivität erhöht) (Bateson 1981). Bateson unterstreicht die Wichtigkeit der Zeichen, derer man sich in der Kommunikation bedient, um zu signalisieren: »Dies ist ein Spiel.« Die Einordnung als Spiel erlaubt es, bestimmte Verhaltensweisen als nicht feindlich zu interpretieren. Diese Zeichen sind wichtig, um in einer sich anbahnenden oder in einer schon lange bestehenden Beziehung bei potenziell aggressivem Verhalten unterscheiden zu können, ob eine reale Bedrohung besteht oder ob weiterhin Sicherheit garantiert ist. Es ist nicht schwierig, uns Situationen in Erinnerung zu rufen, in denen bei einem sich anbahnenden Unbehagen oder bei Zeichen der Irritation oder Kränkung aufgrund einer Handlung oder Aussage jemand zu dem Satz gegriffen hat: »Aber es war nur ein Spaß! Ich wollte nur scherzen.« Auf diese Weise wird versucht, unangemessenes Verhalten zu korrigieren. Oftmals ist es nicht einfach, die Grenze zwischen Spiel und Realität eindeutig herzustellen, und man betritt verminten Boden. Damit das Spiel befriedigend ist, muss es erkundend und produktiv sein, es sollten neue Elemente entstehen und Entdeckungen gemacht werden angesichts der realen Situationen, auf die es sich bezieht; es sollte uns die eigenen Emotionen und die der anderen verständlicher machen. Dies ist es, was die Freude am Spiel ausmacht. Oder umgekehrt: Angst und Langeweile nehmen die Freude am Spiel.

Bei Paaren mit langjähriger Beziehung ergibt sich oft das Problem, dass die zugrunde liegenden Bedeutungen als selbstverständlich angenommen werden und dass sie ständig durch die Interaktion verstärkt werden: ein zwanghaftes Spiel ohne Entwicklung. Es wird immer schwerer zu ertragen und kann zu einem Gefängnis, einem Ritual werden.

Das Individuum im System und in der Beziehung

Das Individuum wird in der Beziehung geboren und entwickelt sich darin. Ohne Beziehung kein Individuum, wie es schon vor Jahrhunderten durch Experimente der sensorischen Vernachlässigung gezeigt worden ist. In Abwesenheit von Stimuli durch die Umwelt wird die Welt halluziniert und gebildet. Der Biologe Richard Lewontin stellt dar, dass die Bedingungen, die wir der Umwelt zuschreiben, in Teilen eine Folge der Aktivität des Organismus selbst sind (Lewontin 1998). Die Organismen finden nicht nur die Umwelt vor, innerhalb derer sie sich entwickeln, sie schaffen sie sich auch. In dem Moment, in dem wir uns als systemische Therapeuten mit anderen Personen in Beziehung befinden, können wir versuchen, sie kennenzulernen, indem wir beginnen, mit ihnen Bedeutungen auszutauschen, und versuchen, sie zu verändern. Die Lehren der Kybernetik zweiter Ordnung dürfen nicht vergessen werden. Der Therapeut als Träger von Bedeutungen wird als zweites oder drittes Element (je nach gewähltem Setting) Teil des Systems. Gegenüber unseren Patienten ist für uns Therapeuten nicht nur die Empathie von großer Wichtigkeit, sondern genauso wesentlich ist es, die Bedeutungen zu kennen, die unsere Gesprächspartner den Ereignissen zuordnen. In die Bedeutungswelt hineinzugehen, die sich eine Person durch die Beziehungen mit der vorhergehenden Generation zu eigen gemacht hat und die ihre Herkunft in weiteren Generationen davor hat, ist hilfreich, um zu verstehen, wie sich diese Bedeutungen durch Entwicklungsprozesse verbinden und verändern und wie sie durch das Paar und die aktuelle Familie weiter transformiert werden.

Das Gesamtbild der Beziehungen entwickelt sich aus den Zweierbeziehungen heraus. Das Beziehungsnetz ist nicht plötzlich da, sondern man muss jeden Knoten einzeln knüpfen und diesen wiederum einzeln mit einem anderen Knoten verbinden. Auch wenn wir mit der bestehenden Realität leben müssen und wir feststellen, wie sehr sie uns konditioniert, gibt es keinen anderen Weg als diesen und den, uns mit den zeitlichen Entwicklungen zu konfrontieren. Die vergangenen und aktuellen Erfahrungen sind immer der Hintergrund unserer Geschichte.

Aus welchem Grund wählt man in einem bestimmten Moment eine Beziehung mit genau diesem Partner? Welches sind die Erwartungen und unbeantworteten primären Bedürfnisse, die dieser Wahl zugrunde liegen? Wenn die Beziehung in die erste Krise gerät, hat das mit der Ausgangssituation zu tun. Es können Erwartungen zugrunde liegen wie z. B. die, dass die Beziehung, so wie es in den vorangegangenen Generationen schon passiert ist, sowieso nicht halten würde. Oder es können sich Veränderungen der Werte durch den Lebenskontext ergeben, durch welche faszinierende, aber irreale Ziele unterstützt werden. Welches Anliegen steht hinter einem ursprünglichen Beziehungsbedürfnis? Welche Instrumente bin ich in der Lage einzusetzen, um den Grad der Angemessenheit der Antwort des Partners zu verstehen? Bei allen wichtigen und längeren Beziehungen lässt sich erkennen, dass eine Unzahl von Details unbewusst im Hintergrund mitschwingen, während man kommuniziert:

»… das Schema der Interaktion wiederholt sich fortwährend und verändert sich gleichzeitig bei jeder Runde. Ein interaktives System ist demnach in ständiger Evolution, auf einem dialektischen Hintergrund von Unvorhersehbarkeiten und Transformation« (Beebe 2008, S. 11).

Einige Interaktionen sind bewundernswert raffiniert auf dem Hintergrund sensibler Wahrnehmungen, andere sind arm an Details und bleiben im Ungefähren, wieder andere vermeiden wichtige Inhalte.

Man kann auch von der Vielzahl der nonverbalen Botschaften überrascht sein, die über Verhalten, das Tun und nicht das Sagen, vermittelt werden beziehungsweise über den Moment der Reaktion oder über Mimik und Gestik.

Einige Forscher haben versucht, den nonverbalen Anteil zu quantifizieren, und beziffern ihn auf 70 % der ausgetauschten Informationen in einer Paarbeziehung. Auch aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass die Therapien, die den Körper einbeziehen, immer mehr Zuspruch finden, aber auch Therapien, die durch symbolisches und metaphorisches Handeln Intentionen und Bedeutungen kommunizieren. Zu diesen Aspekten wurden im Bereich der Neurowissenschaften in den letzten Jahren zahlreiche Forschungsergebnisse, ausgehend von der Bindungstheorie und der Motivationsforschung, veröffentlicht.

Ausgetauschte Signale sind nicht nur vielfältig, sie sind auch Träger von Kommunikationselementen und Kommunikationskompetenzen, die man bei Kindern in unterschiedlichen Entwicklungsstadien wiederfindet. Diese erhalten sich im Erwachsenenalter, eingebettet in komplexe Verhaltensweisen, sodass ihr kindlicher Ursprung verborgen bleibt. Die Kommunikationselemente sind offensichtlich immer beeinflusst durch sich ständig ändernde Reize und Bedeutungen, die aus der Umwelt und der Kultur, innerhalb der wir leben, auf uns zukommen, und durch die Regeln, auf deren Hintergrund sich Kommunikation organisiert.

Die soeben gemachten Überlegungen über das Individuum als Subjekt, das von Geburt an (und schon vorher) in Beziehung mit seinen Bezugssystemen ist, und die Überlegungen über die Entwicklung seiner Kommunikationskompetenzen drängen uns, ihm eine andere Position in Systemen zuzuerkennen als die bisher übliche. Es hat eine zentrale Rolle in der Bildung und sogar in der Funktion von Systemen. Im systemtheoretischen Diskurs ist dies wie ein Weg zurück, auf dem man andere Einzelheiten erkennt als auf dem Hinweg. Beide Wege zusammen erzeugen das Gesamtbild. Es ist kein Zufall, dass man bei Paaren von Dyaden spricht. Dies führt zu einer zusätzlichen Komplexität der zu bedenkenden Faktoren. Als Therapeuten müssen wir uns dadurch mit einer steigenden Anzahl von Elementen (und Themen) beschäftigen, die uns zwingen, die wichtigsten davon auszuwählen. Dies ist auch die Realität und das Problem unserer Epoche. Die heutige Lebensweise stellt uns in vielen Bereichen, und jeden in seinem, im Alltag vor eine wachsende Komplexität von Reizen, die es zu organisieren und zu integrieren gilt. Die Frage, welches der unterschiedlichen Modelle uns hilft, um bei der Vielzahl der Begegnungen und Beziehungsmodelle nicht den Überblick zu verlieren, wird immer wichtiger.

Am Ende dieses einführenden Dialogs bleibt mir zu berichten, dass in mir mit fortschreitender Lektüre das Interesse am Thema zunehmend intensiver wurde und ich mich, den Gedanken und Ausführungen und vor allem den konkreten Beispielen des Autors folgend, mit denen er die in der Therapie auftauchenden Probleme verdeutlicht, immer mehr in Verbindung und in Syntonie mit ihm befunden habe. Der Nutzen eines jeden Buches besteht aus meiner Sicht in geringerem Maß in den Antworten, die es gibt, sondern sehr viel mehr in den Anregungen und neuen Fragen, die es aufwirft. Für mich ist es eines dieser Bücher.

Bozen, im Frühjahr 2016
Claudio Angelo

Einleitung

Als ich vor über 20 Jahren in Neapel gemeinsam mit einer Kollegin, mit der ich die systemische Ausbildung gemacht hatte, mit Paartherapien begann, versuchten wir, das Gelernte so gut wie möglich anzuwenden. Gleichzeitig gab es zwischen uns einen sehr offenen und direkten Dialog. Wir machten uns viele Gedanken über die Paare, lachten viel und ließen unserer Fantasie freien Lauf. Wir waren mit großem Ernst bei der Sache und konnten auch mit unserer Arbeit zufrieden sein. Die meisten Paare überwanden nach einer gewissen Zeit ihre Krisen und fanden wieder zueinander. Wir dachten uns, dass es wohl eine Art Beispiellernen sein müsse: Die Paare schauten sich vom Therapeutenpaar das ein oder andere ab.

Abgesehen davon, dass wir nach den Regeln der Kunst zu arbeiten suchten, hatten wir weder eine Vorstellung davon, was sie denn genau von uns abschauten, noch hatten wir ein Konzept der Dyade. Wir ignorierten diese einfach, da hierfür wenig konzeptuelle Vorlagen bestanden. Und doch gab es die Dyade: zwei junge, der sorgfältigen Arbeit verpflichtete Paartherapeuten, die viel Spaß miteinander hatten und in fröhlicher Selbstüberschätzung, auf ihre Eingebungen und ihren intensiven Dialog vertrauend, »die Welt herausforderten«. Es war ein Zusammentreffen von zwei systemischen Therapeuten, die sich trotz ihrer Eingebundenheit in unterschiedliche Kontexte den Spielraum herausnahmen, in den Momenten des Austauschs gedankliche Wagnisse einzugehen. Heute glaube ich, dass die Paare uns dies abgeschaut haben.

Seitdem ist viel Zeit vergangen, ich habe in vielen unterschiedlichen Settings Paartherapie gemacht, bin als Trainer in Ausbildungskontexten aktiv und meine Experimentierfreude hat nicht nachgelassen. Manches gelingt nicht und häufig werde ich von Unvorhergesehenem überrascht. Besonders beeindruckt bin ich immer dann, wenn Paare tiefe Krisen überwinden und wieder zueinanderfinden, obwohl einer der Partner, oder beide, unter schweren Störungen leidet, die (zum Glück) nie nach offiziellen Maßstäben diagnostiziert worden sind. Die Symptome nehmen im Laufe der Paartherapie stets deutlich ab.

Viele Jahre verspürte ich trotz meiner zunehmenden Erfahrung immer wieder den Mangel an einem theoretischen Konzept der Dyade. In der systemischen Welt ist es schwierig, die Dyade zu denken, denn für ein System braucht man drei. Im psychoanalytischen Fachdiskurs gelangen in den letzten 25 Jahren bedeutende Konzeptualisierungen in Bezug auf die Paartherapie. Viele davon beziehen sich auf die Bindungsforschung. Während 1990 Paartherapie noch eine Therapieform war, für die die systemischen Therapeuten als die geeigneten Personen galten, haben heute die Psychoanalytiker zumindest gleichgezogen. Viele der systemisch ausgebildeten Kollegen in meinem Arbeitsumfeld orientieren sich inzwischen für die Paartherapie stark an bindungstheoretischen Konzepten. Auch ich muss bekennen, dass die Bindungstheorie, die ich seit ihren Anfängen mitverfolgt habe, sowie das spätere Mentalisierungskonzept für meine Arbeit sehr befruchtend waren. Trotzdem war ich nie zufrieden mit diesen im Individuum nach Veränderung suchenden Ansätzen. Für mich stand immer die Frage im Raum: Wie machen es die Millionen, wenn nicht Milliarden von Paaren auf dem Erdball, die mit unsicheren oder ambivalenten Bindungen oder anderen (nie gestellten) DSM-Diagnosen durchs Leben gehen und trotzdem eine funktionierende Ehe führen, eine Familie gründen und die notwendige Menge an Glück finden, die sie gerne und zufrieden leben lässt? Die Erfahrung aus 5000 Jahren schriftlicher Überlieferung der Menschheitsgeschichte zeigt aus meiner Sicht, dass eine Paarbeziehung nicht nur für »gesunde« Persönlichkeiten mit sicherem Bindungsstil möglich ist, sondern wenn nicht allen, so doch den meisten Menschen mit individuellen Varianten der Normalität gelingt (worin ich jede Art von Bindungsstil und nahezu alle psychiatrischen Diagnosen miteinbeziehe). Vor dem Hintergrund dieser Fragen konnten mich Ansätze, die im Wesentlichen auf der Grundlage individueller diagnostischer Beschreibungen konzipiert sind, nie wirklich zufriedenstellen.

Neben diesen theoretischen Zweifeln vertiefte ich in meiner Arbeit die praktischen Vorgehensweisen meiner Ausbildner und lernte dabei, angestoßen von Winnicott (Winnicott 1973), mein Augenmerk auf das Ludische zu richten. Ich bin sicher, dass die vielen in den letzten zwei Jahrzehnten veröffentlichten, ins Spielerische gehenden Interventionen für die Paartherapie eine sehr große Hilfe sind.

Gleichzeitig begann ich mir die Freiheit zu nehmen, die Dyade zu denken, wobei sich mir die Frage stellte, ob es mir gelingen würde, den intimen Spielraum des Paares mit der Systemtheorie zu verbinden.

Als ich einmal wieder die Ökologie des Geistes von Bateson (1981) zur Hand nahm, fiel mir erstmals auf, dass schon er darin etwas über die Wichtigkeit der Ökologie der Systeme schreibt, ohne dies allerdings zu vertiefen. An dieser Stelle öffnete sich für mich ein Fenster mit der Frage: Was geschieht in den Zwischenräumen zwischen den Systemen? Kommunikation, als reflexartige Antwort, hatte mich noch nie zufriedengestellt.

Meine Antwort, die diesem Buch zugrunde liegt, ist folgende: Zwischen den Systemen besteht ein Zwischenraum, ein Spielraum, der nicht allein mit den Regeln der Systeme zu erfassen ist. Es ist der Ort der Grenzüberschreitung, der Liebe, des Spiels, des Begehrens, des Versuchens und Irrens, der Neugier, aber auch der Angst, der Einsamkeit, der Aggression, der Scham, der echten Begegnung, der Intimität, des Konflikts und der Spannung. Die Präsenz dieses Zwischenraumes trägt dazu bei, dass Systeme nicht nur nebeneinander bestehen oder miteinander konkurrieren. Durch ihn bekommen Systeme vielmehr Entwicklungs- und Anpassungsimpulse, durch die ihm eigenen Kräfte erfahren Systeme die Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen, die Bereitschaft, sich nicht nur um sich selbst zu drehen, sondern Teil der Ökologie der Systeme zu sein.

Liebe, Neugier und vor allem Spiel sind grenzüberschreitende, manchmal sogar Grenzen sprengende Phänomene, die den Zwischenraum der Systeme bevölkern. Sie sind nicht nur passive Phänomene, sondern ein eigenständiger Motor, der die Systeme beständig vor neue Herausforderungen stellt. Neben der Kommunikation sind sie die wesentlichen Elemente der Ökologie der Systeme, sie sind Klebstoff und Katalysator, integrierend und grenzüberschreitend/entwicklungsfördernd zugleich. Man kann einwenden, dass die Kultur als Metasystem im Allgemeinen zumindest Regeln für diese Zwischenräume zur Verfügung stellt, z. B. das Verbot und die Sanktionierung von Gewalt usw. Auch in Zeiten strengerer Regeln gibt es Berichte über Ereignisse, in denen durch den Motor der Liebe Grenzen überschritten wurden. Die Regeln der Metasysteme waren nie allumfassend und konnten die dem Zwischenraum innewohnende Kraft nie vollständig bändigen.

Der Zwischenraum zwischen den Systemen, der Möglichkeitsraum, stellt nicht nur ein Entwicklungspotenzial für Familiensysteme dar, sondern auch für Individuen. Ihr Erleben der Welt bleibt gefangen innerhalb der Konstrukte ihrer Herkunftsfamilie, solange sie nicht das Wagnis des Zwischenraums eingehen und die Begegnung mit anderen Geschichten und Konstrukten zulassen.

Auf dieser Grundlage habe ich versucht, mich mit einem Element der Paarbeziehung genauer zu beschäftigen, nämlich mit deren Fähigkeit, gemeinsam Bedeutungen aus den Systemen der Herkunftsfamilie zu transformieren und daraus etwas Neues zu schaffen. In meiner therapeutischen Arbeit mache ich die Erfahrung, dass in diesem Prozess immer Momente des ziellosen, »spielerischen« Umgangs mit ernsten Themen zu beobachten sind. Dies mache ich mir in meiner Arbeit zunutze.

Das Paar hat jedoch nicht nur eine Funktion im Zwischenraum, sondern es ist auch Teil verschiedener Systeme beziehungsweise deren »Beauftragter«. In dem Moment, in dem das Paar das Generationsprojekt akzeptiert, wird es zusätzlich ein Element innerhalb des Systems der sich bildenden Familie. Die Doppelfunktion des Paares, im Zwischenraum und als Teil von Systemen, erfordert einen beständigen Prozess der Anpassung und des Ausgleichs beider Funktionen. Vor allem wenn es sich die Liebe und das Begehren bewahren möchte, darf es den Zwischenraum zwischen den Systemen nicht ganz verlassen. Dies wird nicht durch die »vom Himmel gefallene Liebe« sichergestellt. Im Gegenteil: Die Liebe bleibt nur, indem sich das Paar immer wieder, innerhalb der sich ständig ändernden Systeme, in den Zwischenraum zurückbegibt und sich seinen Spielraum offen hält. Von hier aus wird auch verständlich, warum es eines aktiven Prozesses bedarf, um sich als Paar die Liebe zu erhalten. Genauso braucht es in der heutigen Zeit, der Epoche der Selbstverwirklichung, eine aktive Haltung, um sich die eigene und die gemeinsame Paargeschichte zu konstruieren.

Im vorliegenden Buch versuche ich, mich näher mit dem Spielraum des Paares zwischen den Systemen zu beschäftigen. Unter Hinzuziehung theoretischer Arbeiten zu Spiel, Bedeutung, Familientherapie und Narration und deren Ausrichtung auf die Funktionen und Spielräume des Paares versuche ich, einen Rahmen bzw. eine Orientierung für die therapeutische Arbeit zu schaffen. Die klassischen Methoden und Sichtweisen der systemischen Arbeit werden dabei ergänzt durch die Arbeit an der Ökologie der Systeme, durch die Wiederbelebung der Zwischenräume.

Teil I: Paarbeziehung – Selbst – Spiel