{5}I.Teil
Samstag

1

Von der Veranda aus, auf der sie warten sollte, konnte sie den an das Grundstück des Hospitals angrenzenden Golfplatz überblicken und am entfernten Berghang, der noch immer grün von den Winterregen war, konnte sie einen winzigen Mann in ausgeblichenen rotbraunen Hosen erkennen, der hinter einem unsichtbaren Ball herjagte. Sie hatte ihn schon einige Zeit beobachtet, bevor sie bemerkte, daß er den Schläger auf ungewöhnliche Weise handhabte. Er versuchte, Golf mit einer Hand zu spielen. Sie hoffte, daß er von Geburt an Linkshänder gewesen war.

Sie vergaß den winzigen Mann in dem Augenblick, als sie Brets Schritte hinter sich hörte. Er drehte sie um, zog sie an sich, hielt sie mit einem fast schmerzhaften Griff an den Schultern fest und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Während sie in seine sanften blauen Augen emporblickte, spürte sie den Zweifel, der sich dahinter verbarg. Sie spürte ihn in sich selber, wann immer sie ihn nach einwöchiger Abwesenheit besuchte, unsicher und hilflos, wie ein Familienmitglied, das herbeigerufen wurde, um einen Ertrunkenen zu identifizieren.

Bret hatte sich eigentlich nicht verändert, aber er hatte während der neun Monate im Hospital zugenommen. Dadurch hatten sich die Linien seiner Wangen und seines Kinns verändert, und seine alte graue Uniform schien ihm zu klein geworden zu sein. Sie konnte sich nie ganz von dem Verdacht frei machen, daß dieser Bret Taylor ein Betrüger war, daß er ein gesundes, vegetatives Dasein in den Kleidern eines Toten führte, der sich in der Liebe sonnte, die sie dem Mann, der verloren war, schuldete.

{6}Sie schauderte ein wenig, und er umschloß sie fester mit den Armen. Sie hatte kein Recht auf solche fantastischen Vorstellungen. Es war ihre Aufgabe, ihm die Wirklichkeit nahezubringen. Sie war seine Dolmetscherin der Außenwelt und durfte deren Sprache nicht vergessen. Doch selbst wenn seine Arme um sie lagen, ließen sie ihre alten Ängste frösteln. Während der ersten paar Minuten ihres Zusammenseins schlitterte sie immer über die dünne Eisschicht am Rande der Zurechnungsfähigkeit. Sie bemühte sich, ihre Gefühle zu verbergen.

Dann küßte er sie. Der Kontakt war wiederhergestellt und zog sie ins Zentrum ihrer Gefühle zurück. Der Verlorene war wiedergefunden und in ihren Armen.

Der Krankenwärter, der Bret bis zur Tür begleitet hatte, brachte sich in Erinnerung. »Wollen Sie hier draußen bleiben, Miss West? Es wird am Nachmittag kühl hier.«

Sie blickte in instinktiver Rücksichtnahme auf Bret. Da er keine großen Entscheidungen mehr zu treffen hatte, sollte er die kleinen treffen.

»Bleiben wir hier draußen«, sagte er. »Wenn es dir kalt wird, können wir hineingehen.«

Sie lächelte dem Wärter zu, und er verschwand. Bret stellte zwei Liegestühle nebeneinander, und sie setzten sich.

»Und jetzt möchte ich eine Zigarette haben«, sagte sie. Die Schachtel in ihrer Handtasche war voll, aber sie wollte lieber eine von seinen haben. Abgesehen von der Tatsache, daß sie ihm gehörten – was wichtig war –, half es, eine Illusion von Zwanglosigkeit und Freiheit zu schaffen.

»Sie nennen dich immer Miss West«, sagte er, als er ihre Zigarette anzündete.

»Da dies mein Name ist …«

»Aber es ist doch nicht dein wirklicher Name?«

Einen Augenblick lang fürchtete sie sich davor, ihn anzusehen, fürchtete sich davor, daß sein Geist in die Zeit, in der er sie nicht gekannt hatte, zurückgekehrt war. Aber sie {7}antwortete freundlich und vernünftig: »Nun, nein, eigentlich nicht. Ich habe dir ja erklärt, daß ich unter meinem Mädchennamen in Hollywood zu arbeiten begonnen habe. Meinen ehelichen Namen benütze ich nur, wenn ich Schecks unterschreibe.«

»Daran erinnere ich mich nicht«, sagte er schüchtern.

»Niemand kann sich an alles erinnern. Ich habe sogar meine eigene Telefonnummer vergessen.«

»Ich habe meinen eigenen Namen vergessen. Trotzdem, mein Erinnerungsvermögen wird besser.«

»Ich weiß. Es ist mit jedem meiner Besuche besser geworden.«

Mit sachlichem Stolz, wie ein Forscher, der eine neue Insel entdeckt hat, verkündete er: »Ich habe mich neulich abend an Kerama Retto erinnert.«

»Wirklich? Das ist die Meldung der Woche!«

»Für mich die Meldung des Jahres. Ich habe mich an alles erinnert. Es war so real, daß ich dachte, alles ereignete sich noch einmal. Ich konnte im Schein der Explosion die Reisfelder oberhalb des Hafens sehen. Es war so hell, daß ich geblendet wurde.«

Sie war bestürzt über seine plötzliche Blässe. Winzige Schweißperlen, für die die Februarsonne nicht verantwortlich sein konnte, sammelten sich an seinem Haaransatz.

»Sprich nicht darüber, wenn es dich quält, Liebling.«

Er hatte sich abgewandt und blickte über den Rasen, der sich von der Veranda bis hinunter in das Tal erstreckte, in dem sich der Sonnenschein wie in einem See aus Licht zu sammeln schien. Der außerordentliche Friede mußte es für seinen unruhigen Geist noch traumhafter erscheinen lassen, als die Terrassen jener Insel vor der Küste Japans, an die er sich erinnert hatte.

Das Schweigen zwischen ihnen war voller Echos, und sie brach es mit den ersten Worten, die ihr einfielen. »Ich habe Fruchtsalat zum Lunch gegessen. Ich mußte zwanzig {8}Minuten warten, bis ich in den Speisesaal hineinkam, aber sie machen ausgezeichneten Fruchtsalat im Grant.«

»Nehmen sie noch immer Avocados dazu?«

»Ja.«

»Ich wette, du hast keine Avocado gegessen.«

»Sie war mir von jeher zu mächtig«, gab sie vergnügt zu. Er erinnerte sich wieder an alles.

»Wir hatten am Mittwoch oder Donnerstag Avocadosalat zum Lunch. Ja, Mittwoch war es, derselbe Tag, an dem ich mir die Haare schneiden ließ.«

»Mir gefällt es, wenn du die Haare so kurz geschnitten trägst. Es hat mir schon immer gefallen.«

Das unverblümte Kompliment machte ihn verlegen. »Jedenfalls ist es praktischer beim Schwimmen. Ich habe dir noch gar nicht erzählt, daß ich am Donnerstag geschwommen bin«, sagte er.

»Nein, das wußte ich nicht.«

»Ich hatte eigentlich erwartet, daß ich Angst vor dem Wasser haben würde, aber es war gar nicht so. Ich bin die ganze Länge des Beckens unter Wasser geschwommen. Ich würde alles darum geben, wieder einmal in der Brandung zu schwimmen.«

»Wirklich? Darüber bin ich froh.«

»Warum?«

»Oh, ich weiß es nicht. Ich hätte mir eher denken können, daß du das Meer haßt.«

»Eine Weile habe ich schon den Gedanken daran gehaßt, aber jetzt nicht mehr. Zumindest könnte ich La Jolla nie hassen.«

Das Glück trieb ihr Tränen in die Augen. La Jolla hatte nur eine Bedeutung für sie: Es war der Ort, wo sie sich kennengelernt hatten. »Erinnerst du dich an den Tag, als die Seehunde hereingeschwommen kamen?« Sie zuckte bei dem Wort »Erinnern« zusammen. Es tauchte immer wieder auf, so wie man zu einem Blinden immer wieder »Sehen Sie« sagte.

{9}Er beugte sich auf seinem Stuhl abrupt nach vorn; seine angespannten Schultermuskeln strafften seine Uniform. Habe ich einen Fehler begangen? fragte sie sich erschrocken. Es war so schwer für sie, das Gleichgewicht zwischen einer therapeutischen, besänftigenden Haltung und ihrer irrationalen Liebe, die sie für ihn empfand, zu bewahren.

Er sagte nur: »Wir müssen bald wieder zusammen dorthin. Es scheint unglaubhaft, daß es nur fünfundzwanzig Kilometer von hier entfernt ist.«

»Ich bin sicher, du wirst bald dorthin fahren können. Es geht dir so viel besser.«

»Findest du das wirklich?«

»Du weißt, daß es so ist.«

»An manchen Tagen fühle ich mich völlig wohl«, sagte er langsam, »und ich kann es kaum erwarten, wieder an die Arbeit zu gehen. Dann ist in meinem Kopf plötzlich eine Leere, und ich habe das Gefühl, wieder da zu sein, wo ich begonnen habe. Hast du dir je ein völliges Vakuum vorgestellt? Einen Raum, in dem keine Luft, kein Licht, kein Laut zu hören ist? Noch nicht einmal Dunkelheit, noch nicht einmal Stille ist? Ich glaube einfach, es ist der Tod, auf den mein Geist stößt. Ich bin zum Teil tot.«

Sie legte eine Hand auf seine starren Finger, die die Armlehne umkrampft hielten. »Du bist sehr lebendig, Bret. Du wirst bald wieder vollkommen da sein.« Aber seine düstere Anspannung versetzte sie in Schrecken, machte sie nachdenklich. Wenn sie nun nicht gut für ihn war? Wenn er nun besser ohne sie dran wäre? Nein, das war unmöglich. Der Doktor hatte ihr mehr als einmal gesagt, daß sie genau das war, was er brauchte, daß er durch sie wußte, wofür er lebte.

»Es dauert so lange«, sagte er. »Manchmal frage ich mich, ob ich je wieder von hier wegkomme. Manchmal möchte ich es gar nicht. Ich fühle mich ein wenig wie Lazarus. Er kann nicht sehr glücklich gewesen sein, als er zurückkam und {10}versuchte, sein Leben da fortzusetzen, wo er es aufgehört hatte.«

»Du darfst nicht so reden«, sagte sie scharf. »Dein Leben ist noch nicht einmal zur Hälfte vorbei, Liebling. Du bist nicht einmal ein Jahr lang krank gewesen.«

»Es kommt mir wie eine prähistorische Zeitspanne vor.« Er hatte genügend Humor, um über seine eigene Übertreibung zu lächeln.

»Vergiß die Vergangenheit!« sagte sie impulsiv.

»Zuerst muß ich mich an sie erinnern.« Er lächelte erneut, etwas mühsam, aber immerhin.

»Du erinnerst dich ja an sie. Aber du sollst auch an die Zukunft denken.«

»Ich werd’ dir sagen, worüber ich einen großen Teil meiner Zeit nachdenke.«

»Worüber?«

»Ich denke an uns beide. Der Gedanke daran erhält mich aufrecht. Es muß schwierig für dich sein, eine Krankenhauswitwe zu spielen.«

»Eine Krankenhauswitwe?«

»Ja. Es muß für eine Frau schwierig sein, einen Ehemann in der psychiatrischen Abteilung zu haben. Ich kenne eine Menge Frauen, die einfach verduften und eine Scheidung einreichen würden …«

»Aber mein Liebling.« Es wäre so viel einfacher gewesen, darüber hinwegzugehen, ihn in seinem Irrtum zu belassen, aber sie beharrte auf der schwierigen Wahrheit. »Ich bin nicht deine Frau, Bret.«

Er sah sie verdutzt an. »Du hast gesagt, du würdest deinen ehelichen Namen nicht benutzen –«

»Mein Name ist Pangborn. Ich habe dir doch erzählt, daß ich mich von meinem Mann scheiden ließ.«

Sie sah, wie alle Männlichkeit aus seinem Gesicht wich, und es fiel ihr nichts ein, womit sie ihm helfen konnte. »Ich dachte, wir wären verheiratet«, sagte er mit hoher, {11}schwacher Stimme. »Ich dachte, du wärest meine Frau.«

»Du hast keine Frau.« Sie wagte nicht, noch mehr zu sagen.

Er suchte verzweifelt nach einer Entschuldigung, nach etwas, das seine Scham mildern konnte. »Sind wir wenigstens verlobt? War es das? Werden wir heiraten?«

»Wenn du mich haben willst.« Da war aber auch nicht in irgendeiner ihrer Gehirnwindungen nur die Spur von Ironie.

Er stand von seinem Stuhl auf und blieb ungelenk und unglücklich vor ihr stehen. Sein Schnitzer hatte ihn zutiefst erschüttert. »Ich glaube, es ist Zeit, daß du gehst. Willst du mir einen Abschiedskuß geben?«

»Ich würde sterben, wenn ich es nicht dürfte.«

Sein Mund war weich und unsicher, und er hielt sie sehr sanft umschlungen. Dann ließ er sie abrupt los, als könnte er nach seiner Demütigung nicht mehr länger ertragen, mit ihr zusammen zu sein. Sie war stolz darauf, wie er allein in sein Zimmer zurückkehrte, wie irgendein ganz normaler Mensch, der sich in sein Hotelzimmer zurückzog, aber sein Irrtum hatte sie erschüttert und beunruhigt. Einen Augenblick lang hatte sie ihn in ihrer Gewalt gehabt, doch dann hatte er sich wieder an einen Ort geflüchtet, wohin sie ihm nicht zu folgen wagte.

2

Commander Wright hob einen Arm und wies über das Tal hinweg. »Sehen Sie den Burschen mit dem Golfschläger dort?«

Paula hörte die Worte, ohne ihren Sinn zu erfassen. Ihr war, als würde sich jener Nachmittag noch einmal wiederholen. Ihr Treffen mit Bret war nur eine Probe gewesen, und die Szenerie war für eine letzte Aufnahme hergerichtet. Der winzige Mann in den rotbraunen Hosen verfolgte, den Hang {12}auf und ab laufend, seinen unsichtbaren Ball. Bald würde Bret auf die Veranda hinaustreten, und er und sie würden wieder gegenseitig in ihren Gesichtern lesen. Aber diesmal würde es keine Irrtümer geben, keinen häßlichen Stachel am Schluß ihrer Unterhaltung. Sie würde Gelegenheit haben, ihm die guten Nachrichten über Klifter zu erzählen, und diesmal würden sie mit einem Hoffnungsschimmer im Herzen auseinandergehen.

Plötzlich spürte sie die kühle Brise, die immer am späten Nachmittag von der Bucht her herüberwehte. Sie brachte sie mit einem Schlag in die Realität zurück. Bret war gekommen und wieder gegangen, und der Irrtum, den er begangen hatte, konnte nicht durch Träume geändert werden.

Wright deutete erneut ungeduldig auf den Mann. Das dichte schwarze Haar auf seinem Handrücken glitzerte in der Sonne wie Eisen. »Sie sehen ihn doch, nicht wahr?«

»Entschuldigen Sie – ich habe nicht zugehört. Ich fürchte, Brets Vorstellung, wir seien verheiratet, hat mich durcheinandergebracht.«

Der Doktor brummte und wechselte seine Stellung auf dem knarrenden Liegestuhl. »Das versuche ich ja eben zu erklären. Der Bursche mit dem Golfschläger hat, verglichen mit Taylor, ein simples Problem zu bewältigen. Er hat einen Arm verloren, und das ist kein Vergnügen, aber er kann damit zurechtkommen. Er muß sich lediglich physisch anpassen, und genau das tut er jetzt. Das würde auch Taylor gern tun.«

»Ich kann der Analogie nicht ganz folgen.«

»Taylor würde lieber gewisse Erinnerungen verdrängen, als mit ihnen leben. Aber solange er diese Erinnerungen an die Vergangenheit verdrängt, kann er sich nicht auf gesunde Weise der Gegenwart anpassen. Vergangenheit und Gegenwart sind so ineinander verflochten, daß man das eine nicht aufgeben kann, ohne das andere zu verlieren. Verlust der Gegenwart ist keine schlechte Bezeichnung für den Wahnsinn.«

{13}»Aber er ist nicht wahnsinnig!« protestierte sie, und die Worte kamen fast von selbst über ihre Lippen.

Er wandte sich ihr lächelnd zu, wobei er die kräftigen weißen Zähne entblößte. »Sie sollten sich nicht über Worte erregen, Miss West. Sie sind alle relativ, besonders die, welche wir in der Psychiatrie benutzen. Ich glaube, in den Unterlagen wird seine Krankheit als ›Traumatische Neurose mit Symptomen von Hysterie‹ aufgeführt. Gefällt Ihnen das besser?«

»Ich messe Worten keine große Beachtung bei. Sie gehörten schließlich zu meinem Beruf. Aber ›Wahnsinn‹ klingt so hoffnungslos.«

»Er ist nicht notwendigerweise hoffnungslos. Aber ich wollte gar nicht andeuten, daß Taylor wahnsinnig ist. Wahnsinn ist ein juristischer Begriff, und von diesem Standpunkt aus ist er compos mentis. Die Intelligenztests hat er spielend hinter sich gebracht. Seine Orientierung ist nach wie vor unsicher, aber er könnte wahrscheinlich morgen von hier weggehen und ebenso schlecht und recht dahinleben wie die meisten anderen Menschen auch.«

»Wirklich?«

»Sofern er keiner ernsten Krisis ausgesetzt wird, ja.«

»Aber er scheint so entsetzliche Erinnerungslücken zu haben. In gewisser Weise geht es ihm schlechter als vor vier Monaten. Damals glaubte er nicht, daß wir verheiratet wären.«

»Ich war nicht überrascht, als das auftauchte. Er hat einen kleinen Schritt rückwärts getan, um einen großen Schritt vorwärts tun zu können. Vor vier Monaten weigerte er sich, auch nur die Möglichkeit, daß er verheiratet gewesen sein könnte, zuzugeben.«

»Erinnert er sich überhaupt nicht an seine Frau?«

»Nein, aber er wird sich erinnern. Ich sehe ihn wesentlich öfter als Sie, und ich bin ehrlich nicht besorgt wegen dieser zeitweiligen Rückschritte. Er ist im Begriff, sich völlig zu erholen, und in seinem Unterbewußtsein weiß er das auch. Sein Geist wehrt sich gegen diese Aussicht mit jeder ihm zur {14}Verfügung stehenden Waffe, doch es ist ein aussichtsloser Kampf.«

»Sie meinen, er möchte gar nicht gesund werden? So etwas Ähnliches hat er heute gesagt.«

»Warum, glauben Sie, ist er überhaupt krank geworden?«

»Ist das nicht ziemlich offensichtlich? Er hat rasch hintereinander zwei entsetzliche Schocks erlitten. Erst die Bombardierung und dann der Tod seiner Frau –«

»Nichts am menschlichen Geist ist offensichtlich.« In seiner Stimme lag eine Spur professioneller Arroganz, die gleich darauf noch offensichtlicher wurde. »Tatsächlich ist der gesunde Geist ebenso mysteriös wie der kranke. Ich habe mich, zum Beispiel, oft gefragt, warum eine Frau wie Sie –«

Seine Hand näherte sich langsam, wie eine dicke haarige Spinne die Armlehne entlang der ihren. Sie zog ihre Hand zurück und legte sie in den Schoß. »Da Lieutenant Taylor und ich heiraten werden –«

Die haarige Spinne verharrte schlagartig in der Bewegung.

»– muß ich Sie fragen, ob sein Gehirn durch die Explosion beschädigt wurde. Ich meine physisch beschädigt.«

»Nicht im geringsten. Es handelt sich um ein rein psychologisches Problem, Miss West. Es ist kaum eine unzulässige Vereinfachung, wenn ich sage, er hat seine Erinnerung verloren, weil er sie verlieren wollte.«

»Aber Sie haben selber gesagt, daß die Schocks sehr viel damit zu tun hatten.«

»Sie haben seinen derzeitigen Zustand beschleunigt herbeigeführt, aber sie sind nicht die grundlegende Erklärung dafür. Taylors Gemüt war verletzbar, sehen Sie. Andere Menschen haben ähnliche Schocks erlitten, ohne Zuflucht zu geistiger Umnachtung zu nehmen.«

»Zuflucht?« Sie griff das Wort auf und schleuderte es ihm wie eine Beleidigung entgegen. Erneut begann sie ihn zu hassen; und sie mußte dem Impuls widerstehen, seine schlaffe und haarige Hand von der Stuhllehne zu wischen.

{15}»Sie lassen sich erneut durch Worte stören. Ich habe dieses Wort mit Bedacht und ohne Vorurteil gewählt. Er hatte mehrere harte Jahre auf See hinter sich, war einen großen Teil davon im Kampfeinsatz. Er nahm alles auf sich wie Tausende von anderen auch. Dann kam die Bombardierung in den Gewässern von Kerama. Kein Zweifel, daß dies seine Widerstandskraft schwächte, sowohl seelisch als auch physisch. Aber er überstand es ohne irgendeine sichtbare seelische Störung. Es war der zweite Schock, der auf all die Jahre innerer Anspannung hin den Zusammenbruch brachte.«

»Sie meinen ihren Tod?«

»Offenbar. Der Mord fiel mit seinem endgültigen Zusammenbruch zusammen. Tatsächlich wurde sein gesamtes Bild, das er sich von der Welt und von sich gemacht hatte, durch eine Reihe harter Schläge erschüttert. Er zog sich schließlich von einer Situation zurück, die zuviel für ihn war. Ich kann nicht umhin zu glauben, daß er ihr schon entfliehen wollte, bevor sie umgebracht wurde. Da ist seine absolute Weigerung, sich überhaupt an sie zu erinnern.« Er warf ihr unter den dichten Brauen hervor einen Seitenblick zu. »Er war nicht glücklich mit ihr, oder?«

»Er kannte sie kaum. Er heiratete sie während eines Dreitageurlaubs und ging unmittelbar hinterher wieder auf See. Er heiratete sie im Herbst 1944 und sah sie nie mehr lebend wieder.«

»Wie, um alles in der Welt, konnte er so etwas tun?«

Sie machte eine Pause, um ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Diese Erinnerung war für sie genauso schmerzlich, wie sie für Bret gewesen sein mußte. »Er heiratete sie, als er betrunken war. Er las sie in einer Bar in San Francisco auf und heiratete sie am nächsten Tag.«

»Um Himmels willen, was für ein Mädchen war denn das?«

»Solch ein Mädchen eben«, sagte sie.

»Sie kannten Taylor damals schon, nicht wahr?«

»O ja, ich kannte ihn.« Sie zündete sich mit schnellen, {16}fahrigen Bewegungen eine Zigarette an und sagte: »Vermutlich erzähle ich Ihnen besser alles, wenn Sie glauben, daß es von irgendwelcher Bedeutung ist. Vielleicht hätte ich es Ihnen schon lange erzählen sollen.«

»Warum haben Sie es nicht getan?«

»Weil es keine Anekdote ist, die ich so zum Spaß herumerzähle«, sagte sie barsch. »Als sein Schiff in San Francisco ankam, dachte ich, er würde mich heiraten. Ich glaube, er hat es auch gedacht. Ich flog von Hollywood herüber, um ihn zu treffen. Er war damals fast ein Jahr auf See gewesen, und trotz seiner Briefe war es fast wie eine Auferstehung von den Toten. Klingt das sehr romantisch? Ich bin wahrscheinlich eine Romantikerin oder war es zumindest. Ich war verrückt vor Glück, als er zurückkam. Aber es stellte sich heraus, daß er es keineswegs war. Er stritt sich mit mir am ersten Abend und verließ mich stehenden Fußes. Das nächste, was ich hörte, war, daß er dieses Mädchen Lorraine geheiratet hatte. Ich hatte gedacht, ich würde das Objekt einer orkanartigen Werbung sein, aber es stellte sich heraus, daß dies jemand anderer gewesen war.«

»Es scheint seltsam, daß es zwischen Ihnen einen solch plötzlichen und endgültigen Streit gab. Hatten Sie ihn schon lange gekannt?«

»Seit einem knappen Jahr, aber es schien länger. Ich hatte ihn im vorangegangenen Winter in La Jolla kennengelernt, im Winter 43, als er auf Urlaub da war. Wir verbrachten neunzehn Tage miteinander, bevor sein Schiff wieder auslief, und dann waren da seine Briefe. Er war meine persönliche Beteiligung an diesem Krieg, und ich hatte das Gefühl, sein Einsatz für die Zukunft zu sein. Ich hatte zu sehr darauf gezählt, scheint mir.«

»Worüber haben Sie sich mit ihm gestritten?«

»Er hat sich mit mir gestritten, nicht ich mit ihm. Er nahm übel, daß ich mehr Geld hatte als er, aber das war nicht der eigentliche Grund. Er suchte nach einem Anlaß zu einem {17}Streit, und zufällig war es dann das. Er beschimpfte mich eine Weile und rannte dann davon. Inzwischen ist mir der Gedanke gekommen, sein Verhalten könnte bereits damals ein bißchen – ein bißchen anormal gewesen sein. Wahrscheinlich eine Einsicht, die zu spät kommt.«

»Haben Sie ihm deshalb verziehen?«

»Habe ich gesagt, ich hätte ihm verziehen?« Sie warf mit einer unnötig heftigen Bewegung ihre Zigarette weg. Sie beschrieb einen steilen Bogen über das Verandageländer und blieb glimmend im Gras liegen.

»Das haben Sie doch offensichtlich getan, Miss West. War es deshalb, weil Sie das Gefühl haben, er war, sagen wir einmal, nicht ganz Herr seiner selbst, als er Sie verließ?«

Sie bemerkte den Wechsel im Ton des Doktors vom Persönlichen zum Professionellen mit einer gewissen Erleichterung. Seine Hände hatten sie vergessen; sie waren damit beschäftigt, eine Pfeife zu stopfen. Sie zündete sich eine neue Zigarette an, bevor sie antwortete, und blies eine Rauchwolke aus, als wollte sie damit die Klarheit ihrer Gedanken verschleiern.

»Oh, er war durchaus Herr seiner selbst. Er kam seinem Dienst bei der Marine noch für ein weiteres halbes Jahr nach. Er erhielt sogar eine öffentliche Belobigung irgendwo abseits von Iwo. Mein Haupt war blutbefleckt, aber seins war ungebeugt.«

»Aber Sie haben selber angedeutet, daß sein Verhalten abnorm war.«

»Vielleicht nicht für ihn«, sagte sie schnell. »Ich wußte von Anfang an, daß er schrecklich schüchtern war. Er war schüchtern in der Liebe und vielleicht habe ich versucht, ihn zu drängen.«

»Sie müssen ihn sehr lieben.«

»Weil ich versucht habe, mich ihm an den Hals zu werfen?«

»Weil Sie so ehrlich sind«, antwortete er nüchtern. »Weil Sie mir von Ihrer Demütigung erzählen, in der Hoffnung, es könnte ihm helfen.«

{18}»Ich scheine schlechte Behandlung sozusagen herauszufordern, wie? Glauben Sie, daß ich eine Masochistin bin?«

»Das bezweifle ich«, meinte er lächelnd, wobei seine Augen unter den dichten Brauen fast ganz verschwanden. »Aber was Ihre Theorie über seine Schüchternheit in der Liebe anbetrifft: Wie paßt die zu der orkanartigen Werbung und seiner Heirat dieses Mädchens?«

»Ich behaupte nicht, eine Theorie zu haben, Doktor. Aber vergessen Sie nicht, er ging auf eine Sauftour, nachdem er mich verlassen hatte. Vielleicht hatte der Alkohol seine Hemmungen eingelullt. Sein angeborener sexueller Trieb brach durch und stürzte sich auf das erste Objekt, das zur Hand war. Er hat sich nicht wörtlich so ausgedrückt, aber ich konnte es zwischen den Zeilen seines Briefes lesen.«

»Sie standen hinterher mit ihm im Briefwechsel?«

»Er schrieb mir einen Brief. Er kam etwa einen Monat, nachdem er San Francisco verlassen hatte, an.«

»Ich würde diesen Brief gern sehen.«

»Ich kann Ihnen den Inhalt erzählen. Bret war zu stolz, um zuzugeben, daß er sich wie ein Idiot benommen hatte, aber das war der Grundtenor. Er saß nun in dieser Ehe und tat sein Bestes, sich selber zu überzeugen, daß ihm die Sache gefiel. Aber sie gefiel ihm keineswegs. Es war eine unechte, spröde Heiterkeit in diesem Brief, die mich vollends fertigmachte. Er war so offensichtlich unglücklich und voller Reue und auf eine um Entschuldigung bittende Weise trotzig. Wenn Sie verstehen, was ich damit meine.«

»Ich glaube, ja. Einer dieser Briefe, die so schwer zu beantworten sind.«

»Ich habe gar nicht versucht, ihn zu beantworten. Er bat mich, es nicht zu tun, und so unterließ ich es. Eine Weile lang war das sehr schwer. Es war mir so sehr zur Gewohnheit geworden, ihm über alles, was ich tat und dachte, zu schreiben. Und nun gehörte er plötzlich einer anderen {19}Frau, und ich hörte nicht einmal mehr von ihm. Ich brach schließlich zusammen und fuhr los, um sie kennenzulernen.«

»Bis nach San Francisco?«

»Sie hatte ein Haus in Los Angeles gekauft, und ich fand ihre Adresse im Telefonbuch. Es war ein seltsames Gefühl, den Namen gedruckt zu lesen: Mrs. Bret Taylor.« Sie machte eine Pause und zündete sich erneut eine Zigarette an der Kippe der letzten an. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme nicht mehr so gefühlsbetont. »Es war weniger Neugierde, als daß ich wissen mußte, was aus ihm geworden war, und sie war die einzige, die mir das sagen konnte. Er war seit beinahe vier Monaten weg, und ich hatte seit drei Monaten, seit dem Brief, von dem ich Ihnen erzählte habe, nichts mehr von ihm gehört. Ich hatte angefangen, nachts wach zu liegen. Und vermutlich wollte ich auch wissen, was es für ein Mädchen war, das er mir vorgezogen hatte.«

»Das habe ich mich auch schon gefragt.« Er begleitete das indirekte Kompliment mit einem trägen und abwägenden Blick, der von ihrem Busen über ihren Körper bis hinunter zu ihren nackten Beinen glitt.

Sie war innerlich jedoch zu sehr in Anspruch genommen, um es zu bemerken. »Ich verspürte eine Art gemeinen Triumphs, als ich das Mädchen zum erstenmal sah. Sie war hübsch – das muß ich zugestehen –, aber sie benutzte zuviel Make-up und wußte nicht, wie man sich anzieht und frisiert. Das sind triviale Dinge, aber für eine Frau, die sitzengelassen worden ist, bedeuten sie eine Menge. Sie war nicht einmal eine gute Hausfrau. Auf den Tischen und Stühlen standen benutzte Gläser und volle Aschenbecher herum. Ich sollte nicht so boshaft sein, nicht wahr? Nil nisi bonum.«

»Ein wenig weibliche Bosheit ist unter diesen Umständen nur natürlich.«

»Jedenfalls mußte ich für einen Augenblick scheinbaren Triumphes büßen. Sie zeigte mir das Bündel Briefe, das Bret {20}ihr geschickt hatte, und bestand sogar darauf, daß ich einen lesen sollte. Bret hatte ihr von mir erzählt, wissen Sie, und sie war absolut entschlossen, mich leiden zu lassen. Sie war recht liebenswürdig zu mir, aber auf eine tödliche Weise. Ich wollte den Brief nicht lesen, aber leider tat ich es. Ich fühlte mich gezwungen dazu.

Es war Zeug, wie man es einem Kind schreibt, steif und beruhigend. Er war wieder auf See; er konnte ihr nicht mitteilen, wo, aber es war aufregend. Er liebte sie und freute sich auf ein Wiedersehen mit ihr. Es war quälend zu lesen, verschaffte mir aber einen gewissen Trost. Er hatte ihr in Wirklichkeit nichts zu sagen, und sie hatte weder den Verstand noch das Gespür, den Unterschied zu erkennen.«

»Sie war vermutlich ziemlich jung.« In seiner Stimme schwang ein elegischer Unterton mit, der Paula unwillkürlich verärgerte.

»Neunzehn oder zwanzig, würde ich sagen. Sie war beinahe zehn Jahre jünger als ich, und das war kein Trost für mich. Aber sie war keineswegs eine kindliche Braut. Sie tat alles, um mich wissen zu lassen, daß sie sich in der Welt auskannte. Offen gestanden, ich hatte das Gefühl, daß Bret verführt worden war.«

»Es ist ziemlich offensichtlich, daß jemand das tun mußte«, sagte Wright ruhig.

»Ich weiß. Ich versuchte es in unserer letzten gemeinsamen Nacht, aber es wurde nichts daraus. Er war unberührt, und ich war vorher schon verheiratet gewesen. Trotzdem bin ich sicher, daß er mich liebte.«

»Genau das könnte die Schwierigkeit gewesen sein. Er ist ein bißchen ein Idealist, nicht wahr?«

»Sie kennen ihn.«

»O ja, er ist ein Idealist. Schön und gut, aber wenn Idealisten zusammenbrechen – und das tun sie fast immer –, neigen sie zum entgegengesetzten Extrem. Wie diesem Mädchen, beispielsweise. Ich nehme an, sein Interesse an ihr war {21}vorwiegend sexueller Natur. Was empfand sie ihm gegenüber?«

»Ich glaube nicht, daß sie überhaupt zu starken Empfindungen fähig war, aber ich bin voreingenommen. Sie schien stolz darauf, mit einem richtigen Marinelieutenant verheiratet zu sein und ein eigenes kleines Haus zu haben, obwohl sie nicht viel dafür tat, es in Ordnung zu halten. Sie war ein bißchen beschwipst, als ich zu ihr kam – ziemlich früh am Nachmittag. Sie bot mir eine Flasche Bier an, und ich versuchte, sie zum Reden zu bringen, aber es war mühsam. Ich bin nicht gerade eine Intelligenzbestie, aber sie hatte ein Spatzenhirn. Unser einziges gemeinsames Gebiet war das Kino.«

»Und Lieutenant Taylor?«

»Nein, nicht einmal Bret. Unsere Auffassungen von ihm waren so verschieden, daß ich einfach nicht mit ihr über ihn sprechen konnte. Jedenfalls nicht, ohne zornig zu werden, und das wollte ich auf keinen Fall. Für sie war er eine Errungenschaft, eine Geldquelle, garniert mit goldenen Tressen. Sie erwähnte zweimal, daß er ihr das Haus gekauft hatte und ihr zweihundert Dollar im Monat schickte. Trotz allem lud ich sie ein, mich ihrerseits zu besuchen, aber das tat sie niemals. Ich glaube, ich habe meine Gefühle ihr gegenüber nicht sehr gut verborgen, und sie konnte mich sicher ebenso wenig leiden wie ich sie. Mein Besuch fand etwa zwei Monate bevor sie ermordet wurde statt, und danach habe ich sie lebend nicht mehr gesehen.«

Wright klopfte mit geradezu nervender Intensität seine Pfeife an seinem einen Hacken aus. »Sie haben sie nicht mehr lebend gesehen?« fragte er mit abgewandtem Gesicht.

»Tot habe ich sie gesehen. Ich war mit Bret zusammen, als er die Leiche fand.«

Er blickte in ihr Gesicht und war bestürzt ob der Qual, die sich darin spiegelte. »O ja. Natürlich.«

»Ich habe Ihnen davon erzählt, als Sie Brets Fall {22}übernahmen. Hoffentlich muß ich nicht noch einmal davon erzählen.«

»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, sagte er schnell. »Es steht alles in den Unterlagen.«

»Im übrigen werde ich ohnehin noch einmal alles erzählen müssen«, sagte sie. »Ich bin heute abend mit Dr. Klifter verabredet.«

»Klifter?«

»Mit dem Psychoanalytiker. Ich habe angenommen, daß Captain Kelvie Ihnen von ihm erzählt hat. Er hat sich bereit erklärt, sich morgen mit Bret zu unterhalten – mit Ihrer Erlaubnis«, schloß sie kalt.

»Natürlich hat mir der Captain davon erzählt. Mir war nur der Name einen Augenblick lang entfallen.«

»Eine Freudsche Fehlleistung, Commander?«

»Keineswegs. Ich habe Klifters Schriften gelesen und halte sie für großartig. Aber es ist schwierig, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er in Kalifornien ist. Für mich war er immer eine Art europäischer Mythos.«

»Er ist ein sehr reizender und anspruchsloser Mann«, sagte Paula. »Er hat bei einem Drehbuch, das ich umgeschrieben habe, als technischer Berater mitgewirkt – daher kenne ich ihn. Ich wäre sehr glücklich, wenn er den Fall übernehmen würde. Ich nehme an, Sie haben nichts gegen seine Unterhaltung mit Bret?«

»Keineswegs! Da Sie die Erlaubnis des Captains haben, wäre die meine ohnehin nur eine Formsache. Im übrigen bin ich froh, den Fall mit Klifter durchsprechen zu können. Ich warne Sie nur, allzuviel zu erwarten.«

»Ich erwarte sehr wenig.«

»Ich meine damit nicht, daß sich Taylor nicht erholen wird, und ich meine auch nicht, daß eine Psychoanalyse nicht nützlich sein könnte. Unsere Pentothal-Befragung ist im übrigen eine Variation psychoanalytischer Technik.«

»Das weiß ich.« Sie erhob sich, um zu gehen und hielt ihre {23}Handtasche wie einen Schutzschild vor ihren Körper. Sie hatte, um Bret zu gefallen, ein Wollkleid angezogen, das sich eng um ihre Schultern und ihren Busen schmiegte. »Sonst verfehle ich meinen Zug.«

»Darf ich Sie im Kombi hinbringen?«

»Danke, ein Taxi wartet auf mich.«

»Alles, was ich sagen wollte«, wiederholte er, als sie ihm die Hand hinstreckte, »ist, daß Sie nicht auf ein plötzliches Wunder hoffen sollen. Diese Dinge brauchen ihre Zeit. Nichts kann Zeit ersetzen.«

Sein letzter Satz hatte zwei Bedeutungen für sie. Diejenige, die auf dem ganzen Weg bis zum Bahnhof hin in ihr nachhallte, war genau jene, die er nicht im Sinn gehabt hatte. Die Zeit floß dahin wie ein Fluß, und sie und Bret saßen an gegenüberliegenden Ufern fest. Nichts konnte die Zeit, die bereits verflossen war, oder die Zeit, die noch verrinnen würde, ersetzen.

3

Obwohl Paula schon unzählige Male beide Bauten passiert hatte, so war sie doch immer wieder über den Kontrast zwischen dem Bahnhof von Santa Fe und dem Gebäude des Gaswerks in San Diego verblüfft. Letzteres war ein häßlicher riesiger Würfel, von in die Höhe ragenden Stahlkaminen gekrönt, die wie Kerzen auf einem Geburtstagskuchen aussahen. Auf der anderen Seite der Bahngeleise dagegen die archaische und rührselige Ungereimtheit des Bahnhofturms. Für sie waren die beiden Gebäude Symbole historischer Kräfte. Auf der einen Seite der gigantische Klotz der Stadtwerke, der tatsächlich das Leben des Staates beherrschte, auf der anderen Seite die spanische Vergangenheit, womit die kalifornische Geldaristokratie ihre Fassade verzierte.

Der glänzende metallene Stromlinienzug neben dem {24}Bahnhofsgebäude setzte ihrer Allegorie die Krone auf. In Anwesenheit der Vergangenheit, der man nachtrauerte, wurde der häßlichen Gegenwart eine unmögliche Zukunft übergestülpt. Zwischen den Zeitformen bestand kein kontinuierlicher Zusammenhang, dachte sie. Man bewegte sich von der einen zur anderen, so wie ein Geist durch eine Wand schreitet, und setzt dabei die Realität aufs Spiel. Das makellose Innere seiner stromlinienförmigen Zukunft war mit unwirklichen Fahrgästen vollgestopft, die darauf warteten, in angemessener Form nach Los Angeles transportiert zu werden.

Sie schritt wie eine Schlafwandlerin den Bahnsteig entlang und fand den Sitzplatz, den sie im Salonwagen reserviert hatte. Doch selbst das Anrollen des Zuges, etwas, das sie eigentlich von jeher in Erregung versetzt hatte, und auch der Anblick des blauen Meeres, das sie flüchtig wahrnahm, als sie die Stadt verließen, konnte sie nicht aus diesem Zustand undefinierbarer Resignation herausreißen. Obgleich sie jetzt schon fünf Jahre in Kalifornien lebte, so hatte das Sommerwetter im Februar immer noch etwas Künstliches und Prunkhaftes an sich. Einen Himmel, der nicht lächelte, und ein graues Meer hätte sie dieser stetig scheinenden gelben Sonne und diesen glitzernden Wellen vorgezogen. Sie hatte irgendwo gehört, daß zu viel schönes Wetter die Menschen hartherzig und bequem machen konnte, und überlegte, ob an dieser Ansicht wohl was dran war.

Wenn man an einem Nachmittag wie diesem in einem Salonwagen saß und seine Umgebung beobachtete, konnte man kaum an Sünde, Wahnsinn und den Tod glauben. Diese heitere Brandung hatte nicht eben viel Ähnlichkeit mit unbarmherzig heranrollenden Schaumkronen. Aber natürlich war das eine Täuschung, und die Menschen litten in Kalifornien ebenso wie in anderen Orten der Welt – litten vielleicht sogar ein bißchen mehr, weil das Wetter nicht sehr viel Mitleid mit ihnen hatte.

Sie zwang sich zu einer völligen Leere in ihrem Kopf, {25}lächelte zum Zeichen des Vertrauens und betrachtete den Gürtel mit Orangenbäumen, der sich zwischen die Bahnlinie und das Meer geschoben hatte. Ein Matrose, der im Gang an ihr vorbeikam, bereit und begierig, ihr leeres Lächeln als eine persönliche Huldigung seiner Person auszulegen, blieb neben ihrem Sitzplatz stehen.

»Guten Nachmittag!« sagte er mit der Selbstsicherheit des extrem Jungen. Seine Jacke schmückte ein Doppelstreifen. »Ein wunderschöner Nachmittag, nicht wahr?«

Er stand neben ihr und begutachtete unverhohlen ihr glänzendes kupferrotes Haar, ihre sanfte Haut und die verheißungsvollen Rundungen ihres Körpers, die ihm ihr blaues Wollkleid offenbarten, so als würde er einen Gegenstand taxieren, für den er ein Angebot zu machen gedachte. Es gelang ihr nicht, böse zu sein. Sie ging auf die Dreißig zu und war niemals so schön gewesen, um selbstgefällig sein zu können. Andererseits hatte sie nicht vor, bis nach Los Angeles irgendwelchem Geschwätz zu lauschen.

»Verdufte, Schwabberer!« zischte sie rauh. »Mein Mann ist Offizier.«

»Aber natürlich, natürlich.« Er stupste seine weiße Mütze vor bis auf den Nasenrücken und sagte noch, bevor er davonschlenderte: »Nicht böse sein, bitte!«

Sie wandte sich wieder den Orangenhainen zu, die an ihr vorbeirauschten, gleich einem dunkelgrünen Fluß, auf dem Tausende winziger Orangen benommen dahintrieben. Ihre Lüge beunruhigte sie, und zwar nicht, weil es eine Lüge war, sondern weil sie Bret Taylor als ihren Ehemann ausgegeben hatte. Er war es nicht, und sie befürchtete, daß er es auch niemals sein würde. Er hatte sie damals in San Francisco mit eindeutigen Redewendungen abblitzen lassen; und wenn sie irgendwelchen Stolz gehabt hätte, so hätte sie aufgegeben, als er das andere Mädchen heiratete. Und doch war sie hier, nur zwei Jahre später, und hängte sich nach wie vor an seine Fersen, und sie begann sogar schon Fremden im Zug zu {26}erzählen, daß sie seine Frau sei. Sie würde achtgeben müssen auf sich, oder sie lief schließlich noch herum und gab alle möglichen überspannten Behauptungen von sich, wie die alte Frau in Monterey, die vorgab, Maria, die Muttergottes, zu sein.

Ihre eigentliche Verwirrung entsprang jedoch einer tieferen Quelle. Ihr Herz war in den zweieinhalb Jahren, seit sie Bret Taylor kannte, von heftigen, elementaren Stößen erschüttert worden, die einem Erdbeben gleichkamen. Sie mußte sich eingestehen, daß sie verflixt weiblich zu empfinden begann, so weiblich und irrational wie eine von D.H. Lawrences Fräuleins. Sie wünschte sich einen Mann und sie wünschte sich ein Kind. Doch erschien es ihr auch ein wenig lächerlich, die alte Jungfer Rachel zu spielen und über ihre ungeborenen Kinder zu weinen. Schließlich war sie schon mal verheiratet gewesen und wußte Bescheid; und was sie wußte, war größtenteils entmutigend. Aber vielleicht zählte eine Ehe wie jene nicht. Sie hatte sich eigentlich erst Jahre nachdem Pangborn aus ihrem Leben davongetrieben, mit einem Sektquirl vergnügt einen goldenen Fluß aus Highballs heruntergepaddelt war, wirklich wie eine Frau zu fühlen begonnen. Jack Pangborn, der König des »Golden River«, war nie was für sie gewesen. Nein, diese Ehe zählte nicht.

Du hast wirklich eine raffinierte Art, dir das Passende auszusuchen, sagte sie spöttisch zu sich selber. Deine erste Wahl fiel – damals in der Highschool – auf einen jugendlichen Adonis mit einem Intelligenzquotienten von 85 und blendenden Zukunftsaussichten als Angestellter in einer Zweigniederlassung. Dann verknalltest du dich mehrfach in ältere Männer – Männer, die du reformieren wolltest. Schließlich folgtest du den Geboten des gesunden Menschenverstandes und ließest dich auf romantische Gefühle zu einem liebenswürdigen Trunksüchtigen ein, der sich die Hälfte der Zeit nicht an deinen richtigen Namen erinnern konnte und dich mit Mabel, Gertie oder Flo anredete, wie es ihm gerade in den Sinn kam. {27}Als Pangborn aus deiner Reichweite trieb und du ihn schließlich nicht den Rest deines Lebens weiter unterstützen konntest, so gern du das auch getan hättest, hast du mehrere Jahre hindurch dein gebrochenes Herz gehätschelt. Oder war es nur ein in die Brüche gegangener Mutterkomplex? Was es auch gewesen war, wegen dieses Kummers in deinem Leben hattest du dich ziemlich lange von Männern ferngehalten. Und inzwischen kletterte dein Honorar von hundert auf siebenhundertfünfzig die Woche, denn es gibt nichts Besseres als einen zerbrochenen Mutterkomplex – oder ein gebrochenes Herz –, um ein Mädchen Geld verdienen zu lassen.

Und eines Tages schlossest du, die du so raffiniert auszuwählen verstandest, fest beide Augen, schicktest ein kurzes Stoßgebet zu Aphrodite und griffst erneut in den Glücksbeutel. Was dabei herauskam, war Lieutenant Taylor. Eine Weile lang machte er sich recht gut, so gut, daß du sogar an der absoluten Unfähigkeit deines Urteilsvermögens zu zweifeln begannst. Aber am Ende hatte alles wieder seine Richtigkeit, als er dich in San Francisco sitzenließ und dir erneut dein Herz, oder was immer es war, ein für allemal brach. Aber das reichte noch nicht. Du brauchtest noch etwas, was dich im Zustand des Unglücklichseins, an den du dich so gewöhnt hattest, hielt. Also heiratete er ein anderes Mädchen, nur um diesem Zustand Dauer zu verleihen. Dann verschwand er auf dem Pazifischen Ozean. Sein Schiff wurde bombardiert, und er kam zurück und verlor den Verstand. Aber selbst das war dann noch nicht genug. Doch diese zusätzlichen Dinge waren ein wenig zu entsetzlich, um in diesem Augenblick darüber nachzudenken, wo sie ohnehin noch von der Begegnung im Krankenhaus deprimiert war. Es würde noch ausreichend Zeit sein, darüber nachzudenken, sobald sie Dr. Klifter traf.

Wie um Himmels willen, konnte ein Mädchen so weit kommen? Sie hatte ein paarmal gründlich danebengegriffen, aber sie war schließlich keine Seelenmasochistin, die in herabwürdigende Abweisungen verliebt war und noch die {28}1943