image

Peter Mathys

Die Steuer­sünder

Roman











Limmat Verlag
Zürich


TATORTSCHWEIZ

Sabina Altermatt: Alpenrauschen

Daniel Badraun: Rheinfall

Beat Portmann: Durst

Beat Portmann: Alles still

Gabriel Anwander: Schützenhilfe

www.limmatverlag.ch/tatortschweiz

Im Internet

› Informationen zu Autorinnen und Autoren

› Hinweise auf Veranstaltungen

› Links zu Rezensionen, Podcasts und Fernsehbeiträgen

› Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu einem Buch

› Abonnieren Sie unsere Newsletter zu Veranstaltungen und Neuerscheinungen

www.limmatverlag.ch

Umschlagillustration von Anna Sommer

Typographie und Umschlaggestaltung von Trix Krebs

© 2012 by Limmat Verlag, Zürich

ISBN 978-3-85791-676-2
eISBN 978-3-85791-902-2

Für Nuria und Linda

1

An diesem schönen Märzmorgen war es Rechtsanwalt Michael Kellenberger nicht ums Arbeiten. Sein Fenster ging auf den Rhein, und er sah, wie die Sonne goldbronzene Spiegelsplitter aufs Wasser zauberte, die ständig aufeinander zu trieben, ohne sich je zu vereinen. Die Fähre war bereits in Betrieb und brachte erste Fahrgäste ans andere Ufer.

Tanja, seine Assistentin, hatte ihm die Post gebracht, geöffnet, mit dem Eingangsstempel versehen, in einer Mappe sauber geordnet. Daneben lag die Zeitung. Er schob die Mappe beiseite und griff nach der Zeitung.

Neue Schwierigkeiten der größten Schweizer Bank in den USA. Pädophile Priester, die sich an ihren Chorknaben vergriffen. Weitere Schlagzeilen; lauter Probleme ohne Lösungen, Kellenberger wollte nichts davon wissen, er stopfte die Zeitung in den Papierkorb.

Auf dem Rhein zog jetzt ein Tankschiff flussabwärts. Das Heck liess eine Furche aufgewühlten Wassers zurück, der schwarzweiße Kamin glänzte im Sonnenlicht. Der Anwalt schaute zu, wie das Schiff unter der Mittleren Brücke verschwand, und er dachte, wie schön es wäre, jetzt an nichts zu denken.

Als das Telefon läutete, nahm er ab, ohne den Blick vom Wechselspiel der Farben im Fluss abzuwenden.

«Ein Herr Matter», meldete Tanja.

«Was will er?»

«Mit Ihnen persönlich sprechen.»

«Dann verbinden Sie bitte.» Als es klickte, sagte er höflich neutral: «Kellenberger.»

«Matter, von der Steuerverwaltung. Spreche ich mit Rechtsanwalt Dr. Michael Kellenberger?»

«Ja. Was kann ich für Sie tun?»

«Ich bin für die Kontrolle und Veranlagung Ihrer Steuererklärungen zuständig», fuhr Matter fort. «Es gibt da einige Fragen, die geklärt werden müssen.»

«Bitte sehr – schießen Sie los», antwortete der Anwalt, immer noch gut gelaunt.

«Ich fürchte, das ist zu kompliziert für ein Telefongespräch», erklärte Matter. «Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen könnten.»

«Wenn Sie meinen …»

Sie fanden rasch einen Termin; nächsten Donnerstag, drei Uhr nachmittags. Der Anwalt legte die Agenda weg und lehnte sich zurück. Eine Wolke war vor die Sonne gekrochen. Der Tag war nicht mehr schön. Kellenberger blätterte abwesend in der Postmappe.

Was, zum Teufel, wollte der Steuerheini von ihm?

Zum Gespräch am Donnerstag nahm Kellenberger die Kopie seiner letzten Steuererklärung mit. Das Rathaus am Marktplatz strahlte frisch renoviert in leuchtendem Rot. Dort wurde das Steuergesetz ausgebrütet und alle paar Jahre revidiert. Verschiedene seiner Berufskollegen saßen dort im Parlament. Kellenberger überlegte, wen er um Hilfe angehen konnte, falls dieser Matter schwierig werden sollte.

Die Steuerverwaltung belegte mehrere Stockwerke in einem Bürogebäude an einem kleinen Platz, der sinnig Fischmarkt hieß. Kellenberger stellte sich vor, wie vor hundertfünfzig Jahren feiste Händler mit roten Backen ihre stinkende Ware auf Holztischen feilboten und wie die Dienstmädchen mit ihren weißen Häubchen aus dem zappelnden Angebot in den Blecheimern die schönsten Felchen oder Regenbogenforellen aussuchten und zusahen, wie der Verkäufer ihnen die Köpfe abhackte.

Er fand Matter in einem kleinen Büro hinter einem großen Schreibtisch mit einem Seitentisch für den Computer. Das Pult war aufgeräumt; er sah nur zwei Aktenstapel und die Rückseite einer postkartengroßen Fotografie mit Silberrahmen. Die Wand gegenüber wurde von Metallschränken eingenommen, und hinter Matters Rücken hing ein großer Farbdruck aus dem Staatlichen Kunstkredit; er zeigte den Rhein mit der ältesten Brücke im 19. Jahrhundert. Originale gab es erst ab Stufe Abteilungsleiter. Dem Büro fehlte jegliche Harmonie, keine Zimmerpflanze rettete das Ambiente. Der einzige sympathische Gegenstand war die Fotografie; Kellenberger war neugierig auf das Bild, das ihm verborgen blieb.

«Herr Dr. Kellenberger, bitte nehmen Sie Platz», begrüßte ihn Matter und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Lachend fügte er bei: «Danke, dass wir so rasch einen Termin finden konnten.»

Kellenberger mochte Leute nicht, die schon bei der ersten Begegnung ohne ersichtlichen Grund lachten. Er fragte: «Also, Herr Matter, womit kann ich Ihnen dienen?»

Der Beamte klopfte auf eines der beiden Aktenbündel auf seinem Tisch. «Es gibt da einige Fragen zu Ihrer letzten Steuererklärung.»

«Ja, bitte?»

«Wir haben eine Meldung von der Fürstlichen Steuerverwaltung in Vaduz erhalten. Danach bezahlte Ihnen eine liechtensteinische Aktiengesellschaft mit dem interessanten Namen Plus-Minus AG Verwaltungsratshonorare, in den beiden letzten Jahren je 10 000 Franken. In Ihrer Steuererklärung finde ich nichts darüber. Können Sie sich dazu äussern?»

Die kräftige Stimme kam aus einem rundlichen Gesicht mit hellblauen Kulleraugen. Eine hohe Stirne ging über in eine Halbglatze; die verbleibenden braunen Haarbüschel waren straffnach hinten gekämmt. Eine graue Jacke mit Fischgrätemuster, sie war nicht zugeknöpft, enthüllte einen Bauchansatz; darüber baumelte eine orange Krawatte mit Kürbismuster.

«Ich muss das in der Buchhaltung überprüfen», antwortete der Anwalt schließlich. «Plus-Minus AG stimmt. Es kann sein, dass die Position mir beim Ausfüllen entgangen ist. Sie wissen ja, wie das ist.»

«Nein, ich weiß nicht, wie das ist, Herr Dr. Kellenberger», erwiderte Matter. Er lachte wieder. «Wem gehört denn diese Gesellschaft? Einem Mandanten?»

Der Anwalt zögerte, dann nickte er. Matter war sein Zögern nicht entgangen. Wer der Mandant sei, dürfe er ihm vermutlich nicht sagen. Kellenberger schüttelte den Kopf. «Aber», fuhr Matter fort, «um was für eine Art von Gesellschaft es sich handelt, sollte ich schon wissen. Falls Sie damit Probleme haben, kann ich mir die Unterlagen von Vaduz direkt besorgen. Das würde doch schon etwas Licht in die Affäre bringen.»

Matter machte eine Pause. Das Wort «Affäre» gefiel dem Juristen nicht. Es deutete Weiterungen an, Abgründe, die sich noch nicht ansatzweise ausloten ließen. Matter war ein kluger Verhandler. Um Zeit zu gewinnen, sagte Kellenberger: «Ja, ich verstehe.»

«Das ist sehr gut, Herr Dr. Kellenberger.» Matter lehnte sich entspannt zurück. Ein sonniges Lächeln glitt über sein Mondgesicht. Dann beugte er sich nach vorne und zwinkerte mit den Augen. «Oder könnte es gar sein, dass vielleicht Herr Dr. Kellenberger selber der Mandant ist?»

Sollte das der Fall sein, so müsste es natürlich in Ordnung gebracht werden, fuhr er nachdenklich fort. In Dr. Kellenbergers eigenem Interesse. Er schlage eine weitere Besprechung vor. Es wäre viel einfacher, wenn der Herr Doktor die Bilanzen selber mitbrächte, weniger Umtriebe für alle Beteiligten, eine günstigere Erledigung, und so weiter.

Sie vereinbarten ein nächstes Treffen. Kellenberger realisierte, dass er bis zum Hals in der Tinte steckte.

image

Am Dienstag strahlte die Morgensonne über Matters Schreibtisch bis hinüber zur Aktenwand. Das Buchenholz der Tischplatte glänzte; Kellenberger sah darauf nur eine einzige Akte, und das Foto drehte ihm immer noch den Rücken zu. Matter trug jetzt eine hellbeige Jacke, ein marineblaues Hemd, eine knallgelbe Krawatte und dunkelblaue Hosen. Er lächelte verbindlich, als er Kellenberger Platz anbot.

«Nun», begann er, «haben wir diese Unterlagen?»

«Ja. Hier.»

Während Matter die Zahlen studierte, musterte Kellenberger sein Gesicht. Seine feisten Wangen glänzten rötlich, man sah kaum Bartspuren. Eine kurze Stupsnase ließ das Gesicht flach erscheinen, und aus den Nasenlöchern standen dunkle Härchen hervor. Der Mund war klein, umrahmt von schmalen, farblosen Lippen. Seine blassblauen Augen starrten intensiv, fast böse auf das Papier.

«Also», sagte Matter nach langen Minuten. «Da geht es ja um wesentlich mehr als bloß einige Verwaltungsratshonorare. Plus-Minus AG verfügt über Wertschriften von mehr als vier Millionen Franken; allein im letzten Jahr wurden über zwei Millionen einbezahlt. Woher stammen diese Zahlungen, Herr Doktor?»

«Zum größten Teil von Geschäftsleuten aus Litauen, zum kleineren Teil aus der Schweiz.»

«Aha.» Matter lächelte verbindlich, dann holte er zum entscheidenden Schlag aus. «Also nochmals, Herr Doktor: Gehört diese Gesellschaft Ihnen?»

Kellenberger versuchte, klar zu denken. Wenn er verneinte, konnte Matter in Vaduz nachfassen. Er brauchte dort bloß einen Amtskollegen ein wenig besser zu kennen, und schon funktionierte die informelle Amtshilfe. Kellenberger hatte gepfuscht. Wenn er jedoch alles gestand, bestand die Möglichkeit, über die Höhe der unvermeidlichen Nach- und Strafsteuern zu verhandeln. Matter hatte im ersten Gespräch selber von einer günstigeren Erledigung geredet.

Kellenberger schluckte. «Ja», sagte er.

Matter wiegte den Kopf hin und her. «Das ist eine heikle Angelegenheit. Als Anwalt wissen Sie, Herr Kellenberger», jetzt ließ er den Doktortitel weg, «dass da mit beträchtlichen Nach- und Strafsteuern zu rechnen ist.»

«Ja.»

«Bei vier Millionen», dozierte Matter, «verteilt auf, sagen wir, drei Jahre, ist für die Nachsteuer bei der Bundessteuer und der kantonalen Steuer und für die Strafsteuer mit bis zu neun Millionen Franken zu rechnen. Plus Verzugszinsen natürlich.»

Jetzt machte Matter eine Pause. Seine Kugelaugen fixierten sein Gegenüber; zweifellos wollte er beobachten, was seine kleine Rechnung auslöste. Vielleicht erwartete er, dass Kellenberger zusammenbrach und anfing, um Milde zu betteln. Aber der Anwalt schwieg einfach.

Der Raum um ihn herum, Matter, das Pult, das Fenster mit dem Blick ins Freie verschwammen. Stattdessen flimmerte wie ein Film seine Lebenssituation über einen inneren Bildschirm. Sein Vermögen erreichte bei weitem nicht Matters neun Millionen. Er war geschieden und hatte seiner Ex noch während Jahren Alimente in astronomischer Höhe zu zahlen. Dass die ausfallen würden, erfüllte ihn mit bitterer Befriedigung. Seine beiden Töchter hatten sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen und mieden ihn seit Jahren, als hätte er die Beulenpest. Also brauchte es ihm nicht leidzutun, wenn er ihnen kein Erbe hinterließ.

In dieser kurzen Schweigeminute wurde ihm klar, dass er ein ziemlich unnützes Leben führte. Da war nicht einmal eine feste Freundin, für die er sich ein wenig verantwortlich fühlen konnte. Und seine Haushälterin aus dem nahen Elsass fand ohne weiteres eine neue Stelle, wenn das Geld für ihren Lohn nicht mehr reichte.

Endlich ergriff Matter wieder das Wort. Er schien zu ahnen, dass er lange auf eine kluge Bemerkung warten konnte. Wenn man in Betracht ziehe, begann er, dass Herr Kellenberger die Unterlagen freiwillig vorgelegt und eingeräumt habe, dass die Gesellschaft ihm gehöre, komme das einer Selbstanzeige recht nahe. Da könne man sich eine stattliche Reduktion der Strafsteuer auf vielleicht das Doppelte der hinterzogenen Steuer vorstellen. «Das macht dann noch knapp fünf Millionen.»

«Also spare ich vier Millionen», sagte Kellenberger, um nicht weiter schweigen zu müssen. «Vielleicht könnte man die Strafsteuer in Anbetracht des hohen Betrages weiter reduzieren auf das Anderthalbfache.»

«Möglich – alles möglich», nickte Matter. Sachlich fuhr er fort: «Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, eine solche Schuld in Raten abzuzahlen.»

«Klar, wer kann schon fünf Millionen aus der Schublade ziehen!»

«Eben.» Matter versank wieder in Nachdenken. «Oder – ganz theoretisch – man könnte sich eine unbürokratische Regelung vorstellen, die wesentlich weniger kosten würde.»

«Wie denn das?», fragte der Anwalt, neugierig geworden. Die Verwaltung von Basel war nicht bekannt für unbürokratische Lösungen.

Matter lehnte sich zurück und fingerte an seiner Krawatte.

«Wie wäre es denn –», Matter richtete seinen Blick zur Zimmerdecke, «wenn Herr Kellenberger oder die Plus-Minus AG jemandem ein Darlehen über zwei Millionen einräumen würde, rückzahlbar in fünf Jahren. Die böse Meldung der Fürstlichen Steuerverwaltung aus Vaduz könnte ja in der Post verloren gegangen sein, das kommt immer wieder vor. Dann wäre das ganze Thema bei uns hier vom Tisch, und der Darlehensgeber hätte nochmals drei Millionen gespart.»

Kellenberger verstand ihn sofort. Diese Sprache kannte er von seinen litauischen Klienten.

«Kommen Sie zu mir in die Kanzlei», sagte er. «Dann regeln wir die Einzelheiten.»

2

Das nächste Opfer war Paul Regenass. Es war Freitag, der 21. März, Frühlingsanfang, und die Sonne putzte den Himmel sauber wie für ein schönes Fest.

Regenass werkelte an seinen Rosensträuchern links und rechts vom Eingang zu seinem Haus auf dem Bruderholz. Er trug ein offenes Flanellhemd und alte Kordhosen, ein Kranz von Schweißperlen umrahmte seine Stirne. Die Sommersprossen in seinem Gesicht leuchteten mit dem roten Bürstenhaarschnitt um die Wette. Den Mann, der ihm über die Buchsbaumhecke hinweg zuschaute, bemerkte er erst, als dieser anfing zu sprechen.

«Die geben bestimmt viel Arbeit.»

«So ist es – aber es macht auch viel Freude, wenn sie dann wieder blühen.»

«Gewiss.» Der Mann auf dem Gehsteig trug eine schmale Aktentasche. Er sagte: «Sie sind nicht zufällig Herr Regenass?»

«Doch, der bin ich. Und Sie?»

«Matter. Herbert Matter von der Steuerverwaltung. Ich bin froh, Sie hier anzutreffen. Es ist diskreter, als wenn ich telefoniere und vielleicht jemand anderer das Gespräch entgegennimmt.»

Jetzt richtete sich Regenass auf, strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne und trat zur Hecke. Zum ersten Mal nahm er den runden Kopf mit der Halbglatze des anderen wahr.

«Und was gibt es denn Diskretes zwischen uns?», fragte Regenass.

«Ich bearbeite Ihre Steuererklärungen. Über die Deklarationen der letzten beiden Jahre müssen wir reden; es gibt da einige Unklarheiten. Ich würde gerne mit Ihnen einen Termin abmachen für eine Besprechung in meinem Büro.»

«Warum besprechen wir das nicht gleich hier?»

Matter nickte. «Auch recht.»

«Kommen Sie.»

Regenass winkte Matter zur Eingangstür und bat ihn herein. Zu diesem Zeitpunkt war es immer noch bloße Neugier, die ihn veranlasste, den Fremden in den Garten einzuladen. Im Unterschied zu Kellenberger plagte ihn keinerlei schlechtes Gewissen wegen seiner Steuerangelegenheiten; sie interessierten ihn nicht, und er verstand nichts davon. Er war sechsunddreißig Jahre alt, ein besessener Computer- und Internetspezialist mit einer eigenen Beratungsfirma, die ihm einen Haufen Geld einbrachte. Er führte Matter ums Haus herum zu einem Sitzplatz unter einem Vordach mit Blick über den ganzen großen Garten.

«Möchten Sie etwas trinken?»

Dieses freundliche Angebot verwirrte Matter. «Nein, danke. Ich bin ja gewissermaßen in amtlicher Funktion hier.»

«Wie Sie wollen. – Also, was ist mit meinen Steuererklärungen los?»

Matter räusperte sich. Er sagte: «Ihre Verbrauchsrechnung über die letzten zwei Jahre geht nicht auf.»

Paul Regenass lachte.

«Das ist nichts Neues. Meine Verbrauchsrechnung geht nie auf. Meine Frau wirft mir immer vor, dass ich zu viel verbrauche. Aber irgendwie arrangieren wir uns. Bis jetzt wenigstens.»

«Das ist gut!» Jetzt lachte auch Matter, dasselbe zu laute Lachen, das schon Kellenberger beim ersten Besuch in seinem Büro geärgert hatte. «Das ist sehr gut», sagte er zu Regenass. «Aber ich glaube, wir reden von verschiedenen Dingen. Ihr Geschäftsgang ist ausgezeichnet, Herr Regenass.»

«Ich darf zufrieden sein.»

«Ja, für die beiden letzten Jahre haben Sie ein Einkommen von zusammen 674 000 Franken deklariert. In derselben Zeit hat Ihr Vermögen gemäß Ihren eigenen Angaben um 650 000 Franken zugenommen. Also haben Sie vom Einkommen dieser zwei Jahre ganze 24 000 Franken verbraucht. Das kann nicht sein. In den Jahren zuvor deklarierten Sie ebenfalls Einkommen von je rund 300 000 Franken, ohne dass Ihr Vermögen zugenommen hat. Demnach gehen wir davon aus, dass Sie auch in den letzten zwei Jahren nicht weniger verbraucht haben. Das heißt, dass Sie in Wirklichkeit zweimal 280 000 Franken mehr verdient haben, als Sie uns deklariert haben.»

Nun geriet Matter in Fahrt. Er erläuterte Regenass die Folgen seines Vergehens mit derselben pedantischen Präzision, mit der er am Dienstag schon Kellenberger den Tag verdorben hatte. Seine Berechnung führte diesmal zu Nach- und Strafsteuern von 1 170 000 Franken. Er untermauerte seine Ausführungen damit, dass er das Steuergesetz aus der Aktentasche zog und Regenass die einschlägigen Bestimmungen unter die Nase hielt. Dieser schüttelte nur den Kopf und willigte am Ende sehr rasch ein, anstelle der Nachzahlung an den Staat Matter ein Darlehen von 350 000 Franken zu gewähren, zinsfrei für eine Dauer von fünf Jahren.

image

Am folgenden Mittwoch suchte Matter den Neurologen Dr. Hubert Huber auf. Er meldete sich bei der Praxishilfe als Patient für eine Konsultation, am liebsten gegen Ende des Nachmittags. Der Arzt lud ihn in sein Ordinationszimmer und bat ihn, Platz zu nehmen. Matter sah sofort den gestickten Teppich mit Wildtieren an der Wand neben dem Eingang und die hohe Glasvitrine an der Wand hinter Huber. Andenken aus Afrika, zierlich geschnitzte Schalen aus Ebenholz, eine Maske mit rötlichem Haar, ein Nashorn aus grünem Seifenstein, eine kunstvoll bearbeitete Kugel aus Elfenbein und ein nackter Krieger mit wurfbereitem Speer verleiteten ihn zu einem Kommentar.

«Herrlich! Haben Sie die alle selber gesammelt?»

«Ja, in Südafrika.» Damit war das Thema auch schon erledigt für Dr. Huber. «Was führt Sie zu mir, Herr …?»

«Matter, Herbert Matter.»

«Also, Herr Matter?»

Der Steuerbeamte spürte die höfliche Zurückhaltung. Er musterte das schmale Gesicht mit dem gewellten schwarzen Haar und die grauen Augen, die unbewegt seinem Blick standhielten. Der Arzt wiederum versuchte aus dem Mondgesicht mit den wässrigen Kulleraugen auf das Naturell seines neuen Patienten zu schließen. Die Finger seiner linken Hand trommelten ganz fein auf die Glasplatte des Pultes und verrieten eine leichte Ungeduld. Matter begriff, dass dieses Gespräch schwieriger würde als die fast spielerische Konversation mit Regenass. Er erwog kurz, sein Vorhaben aufzugeben und stattdessen über Schmerzen im linken Knie zu reden.

Aber schließlich siegte die Geldgier über die Vernunft. Matter griff in die Brusttasche, beugte sich vor und legte einen Ausweis auf den Tisch. Sehr förmlich sagte er:

«Ich bin Veranlagungsbeamter der Steuerverwaltung. Zu meinen Aufgaben gehören unter anderem die Kontrolle Ihrer Steuererklärungen und die Veranlagung Ihrer Steuern. Ich habe mich bei Ihnen angemeldet, um Ihnen die Unannehmlichkeit eines Gangs zu unserer Amtsstelle zu ersparen.»

«Seit wann nehmen unsere Beamten derart Rücksicht auf die gewöhnlichen Bürger? Was ist der Grund?», fragte der Arzt. Seine Stimme klang rau und ungläubig.

«Es ist der Steuerverwaltung bekannt geworden, dass Sie über bedeutenden Immobilienbesitz in Frankreich verfügen», erwiderte Matter sachlich. «Davon erscheint nichts in Ihren Steuererklärungen. Gibt es dafür eine Erklärung?»

Der Arzt zuckte die Achseln. «Ich ging davon aus, dass ausländische Liegenschaften nur im Ausland steuerpflichtig sind.»

«Das stimmt im Großen und Ganzen», bestätigte Matter. «Aber es stellt sich die Frage, aus welchen Mitteln die Objekte erworben worden sind. Vielleicht gibt es ja eine Erklärung, die mir bis jetzt entgangen ist.»

Langsam dämmerte es Huber, dass er ein Problem hatte. Er sagte:

«Das Bauernhaus im Burgund wurde mit einem Darlehen meines Schwiegervaters finanziert, 280 000 Euro.»

«Na also!» Jetzt lachte Matter, zum ersten Mal, seit er die Arztpraxis betreten hatte. «Da ist ja schon ein Teil des Rätsels gelöst. – Aber Sie leben von Ihrer Frau getrennt. Und trotzdem ein Darlehen des Schwiegervaters?»

«Das Darlehen war vor der Trennung.»

«Aha. Ich nehme an, dass darüber Dokumente bestehen.»

«Selbstverständlich. Und eine Hypothek zugunsten meines Schwiegervaters. Das Haus gehört praktisch ihm.»

«Und das Geschäftshaus in Straßburg?» Jetzt war Matter in seinem Element. «Auch vom Schwiegervater finanziert?»

«Nein. Vor zwei Jahren gekauft.»

«Der Preis?»

«Eine Million achthunderttausend Euro. Aber hören Sie –»

Auf der Stirn des Arztes erschienen zwei Zornesfalten. «Hat Sie meine Frau –»

Matter hob abwehrend die Hände. «Aber ich bitte Sie, Herr Doktor!»

Huber ließ den Rest seiner Frage unausgesprochen. Er dachte an Marianne. Wie sie vor anderthalb Jahren mit dem Spaniel ausgezogen war und außer ihrem Mercedes-Coupé demonstrativ nichts mitgenommen hatte. Er wolle ja nichts mehr von ihr. Und sie gedenke ihr Leben nicht damit zu verplempern, sich seine Krankengeschichten anzuhören. Auf seine Frage, ob sie einen Freund habe, erklärte sie, das gehe ihn nichts an. Und jetzt kam dieser Matter mit seinen geschmacklosen Kleidern und seiner Schnüffelei.

Da Huber schwieg, fuhr Matter fort: «Dann wurde das Haus in Straßburg aus Einkommen finanziert, das man vergessen hat zu deklarieren. Sehe ich das richtig?»

«Ja.»

Matter rückte in seinem Patientenstuhl nach vorne, nahe zu Hubers Pult. Leise, wie um das Problem zu verkleinern, sagte er: «Wissen Sie, Herr Dr. Huber, das passiert sehr oft. Da hat man irgendwo ein kleines Konto. Und weil es klein ist, vergisst man es bei den Steuern. Dann taucht ein unerwartetes Nebeneinkommen auf, und ganz von selber landet es auf dem kleinen vergessenen Konto. So kommen manchmal ganz ordentliche Beträge zusammen, und plötzlich ist es nicht mehr möglich, diese Beträge in den offiziellen Kreislauf zurückzuführen.» Er machte eine Pause und musterte den Arzt. Dessen Gesicht sah mit einem Mal müde aus; es verriet lautlos Zustimmung, und der kämpferische Ausdruck war verschwunden. Matter ergänzte seine Ausführungen:

«Aber jetzt müssen wir uns mit dem Problem der Nach- und Strafsteuern befassen, verstehen Sie, Herr Doktor?»

«Ja.»

Damit war der Augenblick gekommen, der Herbert Matter am meisten Freude bereitete. Sein Gesicht belebte sich, und er fing an, Dr. Huber die vom Gesetz vorgesehenen Nach- und Strafsteuern vorzurechnen. Etwas bescheidener als bei Kellenbergers Fall lautete die Endsumme auf lediglich siebeneinhalb Millionen Franken. Weil Herr Huber nichts abgestritten und somit eigentlich aktiv an der Aufklärung mitgewirkt habe, ließe sich das Ganze auf, sagen wir, viereinhalb Millionen reduzieren. Es sei denn, hier machte Matter eine effektvolle Pause, es sei denn, Herr Huber sei daran interessiert, über eine andere, noch flexiblere Variante nachzudenken.

«Und das wäre?», wollte der Arzt wissen.

Wenn man den starren, eidgenössisch-bürokratischen Weg für einen Augenblick vergesse, dann könnte eine Lösung darin bestehen, dass Herr Dr. Huber an einen Empfänger, der noch zu benennen wäre, ein Darlehen von anderthalb Millionen ausrichte. Zinsfrei, für eine Dauer von fünf Jahren. «Es könnte ja sein», schloss Matter, «dass die Information über die französischen Liegenschaften gar nie in den Akten aufgetaucht ist.»

«Oh!»

Huber war sichtlich verblüfft. Mit einem Kugelschreiber fing er an, Kringel auf seinen Rezeptblock zu malen. Matter sah ihm an, dass er intensiv nachdachte. Endlich hob der Arzt den Kopf.

«Ihr Vorschlag ist in der Tat ungewöhnlich. Er tönt zu gut, um wahr zu sein. Ich werde meinen Anwalt konsultieren. Wenn er mir nicht abrät, werde ich Ihr Angebot annehmen.»

Jetzt geriet Matter aus der Fassung. Er sagte: «Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Herr Huber.»

«Und warum nicht?»

«Meine Anregung zur Erledigung Ihrer Steuerhinterziehung ist ein Entgegenkommen von mir, um es klar auszudrücken. Wenn eine Drittperson eingeschaltet wird, ist mein Vorschlag hinfällig. Ich werde Sie für das hinterzogene Einkommen samt Verzugszinsen veranlagen.»

«Dann zeige ich Sie wegen Erpressung an!», rief der Arzt. Vor lauter Empörung hatte er Mühe mit dem Atmen, und sein Gesicht lief rot an.

«Vergessen Sie’s», erwiderte Matter, jetzt wieder gefasst und ruhig. «Wenn Sie das tun, zeige ich Sie an wegen versuchter Beamtenbestechung. Sie haben mir vorgeschlagen, mir anderthalb Millionen zu zahlen, wenn ich Ihre Steuerhinterziehung unter den Tisch fallen lasse. Zeugen haben wir beide keine. Aber Ihr Dossier liegt sicher in meinem Büro am Fischmarkt.» Matter stand auf. «Ich glaube, ich gehe besser.»

«Setzen Sie sich bitte», versuchte Huber einzulenken. «Wir sollten das in Ruhe besprechen. Ich habe nicht jeden Tag mit Steuerbeamten zu tun.»

3

Am Abend begab sich Herbert Matter nicht gleich nach Hause, sondern in die Eulerbar beim Bahnhof. Es gefiel ihm, im Halbdämmer zwischen Menschen zu sitzen, die englisch, französisch, russisch oder hochdeutsch sprachen, und ein Bier oder einen Whisky zu schlürfen. Er sah sich im Spiegel hinter dem Rücken des Barmannes, er sah links und rechts die Gesichter der anderen Trinker in ihren Anzügen, er fühlte sich dann unter Seinesgleichen und vergaß, dass er städtischer Beamter in einer mittleren Lohnklasse war. Der Barkellner kannte ihn mittlerweile und blinzelte ihm zu, wenn nebenan ein ältlicher Graukopf mit Pferdeschwanz besonders innig seine Begleiterin befummelte.

Er besaß den Fachausweis als diplomierter Steuerexperte. Sein Unglück war, dass er damals, vor dreiundzwanzig Jahren, weder das Geld noch den Mut gehabt hatte, sich als Steuerberater selbständig zu machen; stattdessen war er in den Staatsdienst eingetreten. Hinzu kam, dass er sich – rückblickend – viel zu früh das Korsett und die Lasten einer bürgerlichen Ehe auferlegt hatte. So verbrachte er mit seiner Frau Sylvia die Sommerferien nicht an den Traumstränden der Malediven, sondern, jedes zweite Jahr, auf der Insel Mallorca für tausendachthundert Franken, zwei Wochen, alles inbegriffen.

Die ehelichen Freuden nutzten sich mit der Zeit ab, verkamen zur Routine und dann zur Pflicht und schließlich zur Last. Daran trug eigentlich niemand Schuld, höchstens die Zeit, die alles gleichmachte, Höhepunkte wegrasierte, Abgründe mit Vergessen zuschüttete. Die Freundin, die er sich vor einiger Zeit zugelegt hatte, half ihm, seine Manneskraft gleichwohl auszuleben.

«Noch ein Bier, Herr Matter?», fragte der Barmann.

«Danke, nein. Heute nicht. Elternabend in der Schule meines Sohnes. Zahlen bitte.»

«Gleich.»

«Dann bis morgen.»

«Ja, gerne.»

Arnold war Matters zweites Unglück. Aufgrund eines Geburtsfehlers war sein linkes Bein vier Zentimeter kürzer als das rechte. Damit blieb es ihm versagt, in irgendeiner Sportart Spitzenleistungen zu erbringen. Und auch in der Schule vermochte er die hochgesteckten Erwartungen seines Vaters nicht zu erfüllen. Wenn nicht ein Wunder geschah – und Herbert Matter glaubte grundsätzlich nicht an Wunder –, würde Arnold allen Hoffnungen des Vaters zum Trotz den Namen Matter weder berühmt noch auch nur in irgendeinem Bereich bekannt machen.

image

Auch im Fürstentum Liechtenstein war es nicht mehr so einfach, eine neue Bankbeziehung zu eröffnen wie noch vor ein paar Jahren. Das musste Kellenberger Herbert Matter klarmachen, als dieser ihn drei Tage nach dem zweiten Besuch in seiner Kanzlei aufsuchte. Matter war gut gelaunt und zwinkerte Tanja zu, als sie ihn ins Büro des Anwalts führte.

«Heute komme ich gewissermaßen als Klient zu Ihnen», begann er und lachte dazu sein widerliches Lachen.

«So, so», erwiderte der Anwalt. Mehr fiel ihm nicht ein.

Er war schlecht aufgestanden an diesem Morgen. Im Traum hatte ihn jemand aus Versehen in der Waschküche eines Wohnblocks eingeschlossen; Wasser überschwemmte den Raum, er klopfte und rief, bis er aufwachte, ohne dass man ihn befreit hätte. Beim Rasieren störte ihn sein Gesicht: Die Furchen zwischen den Nasenflügeln und den Mundwinkeln wurden immer tiefer, das Fleisch am Kinn fing an schlaff zu werden, und in seinem Haar trat Grau zunehmend in den Vordergrund. Als er aus der Garage fuhr, regnete es; der Himmel war so verhangen, als hätte ihn die Sonne für immer verlassen. Und jetzt noch Matter.

«Ich hätte gerne, dass Sie mich bei einer Bank in Liechtenstein einführen», sagte Matter. «Sie wissen am besten, wie das geht, haha!»

«Liechtenstein? Lesen Sie eigentlich keine Zeitungen?»

Matter grinste. «Sie meinen die Steueraffäre?»

«Ja, die meine ich.» Kellenberger seufzte. Die ganze Welt blickte auf das Fürstentum, seit vor einiger Zeit ein Angestellter einer großen Bank in Vaduz dem deutschen Fiskus über tausend vertrauliche Kundendaten verkauft hatte. «Das Steuerparadies Vaduz hat böse Lackschäden erlitten. Ich würde heute dort kein Geld mehr anlegen. Wie Heuschreckenschwärme fallen dieser Tage die deutschen Steuerfahnder über echte und vermeintliche Steuersünder her. Alles wegen dieser Indiskretion.»

«Die erst noch mit einem Millionenbetrag honoriert worden ist», sinnierte Matter. «Nimmt mich wunder, wie viel wir hier in Basel aufwerfen würden, wenn man uns die Hinterzieher so auf dem Silbertablett servieren würde, haha!»

«Nichts, will ich doch sehr hoffen», erklärte der Anwalt. «Das wäre die reine Hehlerei.»

«Ach wo!» Matter verwarf die Hände. «Ich begreife die deutschen Kollegen. Da muss man doch zugreifen.»

«So, so», sagte Kellenberger zum zweiten Mal.

Herbert Matter wurde ungeduldig. «Wie dem auch sei! Ich habe keine Angst. Wählen Sie irgendeine kleine Bank, für die sich niemand interessiert.»

Seine blauen Kulleraugen blickten am Anwalt vorbei in unbestimmte Fernen. Für ihn war Vaduz kein Problem. Kellenberger sagte: «Ich muss von Ihnen wissen, wer der Kontoinhaber sein soll. Sie selber oder Sie und Ihre Frau gemeinsam? Dann brauche ich eine beglaubigte Kopie Ihres Passes. Und schließlich benötige ich eine genaue Schilderung, woher die Mittel stammen, die Sie bei der Bank anlegen wollen.»

Matter antwortete in fröhlichster Laune. «Um hinten anzufangen: Über die Herkunft der Mittel müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Eine Erbschaft vielleicht, erfolgreiche Geschäfte im Ausland, eine Schenkung, was weiß ich. Die Passkopie schicke ich Ihnen, und das Konto soll zunächst auf mich persönlich lauten.»

«Die Bank kann Belege für die Herkunft der Mittel verlangen.»

«Sie sind der Anwalt, Herr Doktor.»

«Aber Sie werden Geschäftspartner der Bank, nicht ich. – Und ich denke, wir sollten einen Darlehensvertrag abschließen.»

«Nein, das werden wir nicht», erwiderte Matter. «Es ist nicht nötig. Wir haben gemeinsame Interessen.»

«Und welche Garantie habe ich, dass die ominöse Meldung der Steuerverwaltung von Vaduz aus Ihren Akten verschwindet?»

«Keine, Herr Kellenberger, keine.» Matter lachte wieder. «Sie werden mir wohl oder übel vertrauen müssen.»

image

Der Anwalt wusste, dass er ihm vertrauen musste. Als Matter gegangen war, überprüfte Kellenberger seine eigenen Alternativen. Er konnte den Wohnsitz kurzfristig ins Ausland verlegen und seine Guthaben – vor der Zahlung an Matter – ebenfalls woanders hin übertragen, nach Mauritius, Dubai, Singapur, auf die Bahamas oder ganz einfach nach London. In Krakau kannte er eine Verlagslektorin, die perfekt Deutsch sprach, in Perpignan einen Transportunternehmer, und in Vilnius saßen seine Klienten aus dem internationalen Finanzbereich. Sie alle würden ihm gerne helfen. Sein Haus in Basel war – als Spätfolge seiner Scheidung – so hoch mit Hypotheken belastet, dass er es ohne Bedauern verlassen und dem Zugriff der Steuerbehörden überlassen konnte. Er brauchte im Ausland nicht einmal unterzutauchen. Einfache Steuerhinterziehung galt in der Schweiz immer noch nicht als Straftat. Strafbar war erst der Steuerbetrug, also etwa das Fabrizieren falscher Dokumente zur Irreführung der Behörden. Davon war jedoch keine Rede; dass er Plus-Minus nicht deklariert hatte, reichte bei weitem nicht für den Vorwurf des Betrugs.

Dennoch beschloss er, in Basel zu bleiben. Es war die Stadt seiner Kindheit. Er liebte den Blick über den Rhein mit seinen trägen Wellen und auf den Messeturm am Horizont des anderen Ufers. Er liebte seine gelegentlichen Gänge durch die Stadt, den «Goldenen Sternen», seine Stammkneipe an Fluss, das Gewimmel der Menschen, die er nicht kannte, die Vielfalt an Sprachen und Völkern und die farbenprächtigen Gewänder der Afrikaner und Muslime, die jetzt im Frühling im Stadtbild wieder überhandnahmen. Und auf die paar Freunde, die ihm geblieben waren, mochte er keinesfalls verzichten. Ihre Gespräche, wenn sie gelegentlich abends zum Essen ausgingen, bewegten sich an der Oberfläche. Höchstpersönliches wurde kaum angesprochen, und so brauchte er von sich auch nichts preiszugeben.

Davon ausgenommen war natürlich sein Freund Kurt. Er lebte im Mittelland auf einer Anhöhe mit wunderschöner Aussicht auf die Dörfer, in der Ferne die Autobahn und weit hinten am Horizont die Bahn. Sein Haus hatte er perfekt eingerichtet; es hätte jeder Zeitschrift für schöneres Wohnen zur Ehre gereicht. Und seinen Garten pflegte er so liebevoll, dass kein Efeu und kein Unkräutlein sich in den kurzgeschorenen Rasen verirrten. Ihre Freundschaft bewährte sich seit gut dreißig Jahren, als sie gemeinsam im Militärdienst litten. Kurt kannte alle seine Schwächen, Kellenberger die seinen, und Kurt riet ihm dazu, sich trotz seiner unangenehmen Erfahrung mit Helen wieder nach einer Frau umzusehen.

Bei der Universal Bank kannte der Jurist seit langem den Generaldirektor Peter Danuser. Als er ihm telefonisch Matter als neuen Kunden anzeigte, klagten sie zunächst einträchtig über die Arglist der deutschen Behörden. Aber die Universal Bank sei nicht gefährdet, versicherte Danuser. Ihr Personal sei sorgfältig ausgewählt, sehr gut bezahlt und habe keinen Grund, die Bank oder deren Kunden zu verraten. Er lasse ihm sofort die notwendigen Dokumente für Herrn Matter zustellen.

Kellenberger wusste, dass es keine Rückfragen geben würde, wenn er Danuser alles sauber ausgefüllt zurücksandte. Beim Fragebogen setzte er als Matters Beruf «Steuerexperte» ein. Die Herkunft von dessen Mitteln umschrieb er mit «sehr erfolgreiche Betätigung im Finanzbereich unter Ausnützung seiner fundierten Spezialkenntnisse»; und schließlich bestätigte er, Matter persönlich gut zu kennen.

Als alles bereit war, bestellte der Anwalt Matter in seine Kanzlei. Es war Abend, und sie waren allein. Kellenberger ließ ihn alle Formulare unterzeichnen und legte seinen Begleitbrief an Danuser dazu.

«Jetzt können Sie das Ganze versenden, und in zwei Tagen ist Ihr Konto bereit.»

Matter schüttelte den Kopf. «Schicken Sie die Originale an die Bank und einen Satz Kopien an mich.» Dann fügte er maliziös hinzu: «Und vergessen Sie nicht die Auszahlung des Darlehens.»

Als Matter gegangen war, blätterte Kellenberger die Dokumente nochmals durch. Beim Blatt «Unterschriftenregelung» hielt er inne. Er hatte Matter als einzigen Zeichnungsberechtigten eingesetzt, die drei Felder darunter waren leer. Einem Impuls folgend, ging er hinaus ins Sekretariat. Dort gab es zum Ausfüllen von Formularen noch eine altmodische Schreibmaschine mit Farbband und Walze. Er spannte das Blatt ein und setzte sich als zweiten Zeichnungsberechtigten ein. Dann fügte er seine Unterschriftenprobe bei, kopierte alle Dokumente und stopfte sie in die Umschläge. Er verließ das Büro und warf die beiden Sendungen in den nächsten Postkasten. Falls ihn Matter je darauf ansprechen sollte – der Anwalt glaubte es nicht –, würde er es als reinen Routinevorgang darstellen. Bei Auslandkonten sollte nie nur eine einzige Person unterschriftsberechtigt sein.

Seine Vermutung erwies sich als richtig. Matter hatte seine Kopien nicht angeschaut. Ihm ging es nur ums Geld, nicht ums Papier.

4

Einige Tage später brachte die Post Matter die Bestätigung der Universal Bank, dass 3 850 000 Franken auf sein neues Konto einbezahlt worden seien. Die Bank schrieb dazu, sie offeriere gerne ihre Dienste bei der sorgfältigen Anlage seines Guthabens und stehe überhaupt jederzeit zu seiner Verfügung. Dem Anwalt hatte Peter Danuser eine Kopie geschickt und sich für die neue Geschäftsbeziehung bedankt. Es erwies sich bereits als nützlich, dass dieser ebenfalls unterschriftsberechtigt war. So erfuhr Kellenberger, dass Matter sich über seine zwei Millionen hinaus noch weitere Beträge zu erpressen verstanden hatte.

In derselben Post fand Matter neben den Bankmitteilungen die Todesanzeige über das Ableben seines Schulfreundes Sebastian Bogdan in London. Bogdan hatte ihm imponiert, weil er sich bei keiner Schurkerei erwischen ließ. Die Beisetzung war auf den kommenden Samstag angesetzt. Matter beschloss sofort, hinzureisen und das Wochenende mit seiner Freundin zu verbringen. Seine Frau orientierte er beim Mittagessen.

«Ich muss da hin. Ich reise Freitagabend und komme am Sonntag zurück.»

«Ich könnte dich begleiten. Es wäre schön, ein Wochenende mit dir in London.»

Matter schüttelte den Kopf. «Es werden etliche Schulkollegen dort sein. Man wird sicher nachher noch zusammen sein und Erinnerungen austauschen. Du würdest dich langweilen. Außerdem würde es glatt tausend Franken mehr kosten. So viel möchte ich für den guten Sebastian doch nicht ausgeben, haha.»

Er nahm die Karte, die in einer schönen kalligrafischen Schrift gedruckt war, am Nachmittag mit ins Büro.

Um siebzehn Uhr hörte er im Gang draußen die Schritte der Kollegen vom gleichen Stockwerk. Auf die Minute pünktlich verließen sie ihre Arbeitsplätze. Matter lehnte sich zurück. Er hielt nichts von dieser Eile am Feierabend. Jetzt war der Augenblick, da er seinen Gedanken freien Lauf lassen konnte.

Sein Blick fiel auf das Bild seiner Frau. Es gelang ihm, das Bild einer jungen Frau mit dunklen Mandelaugen und vollem langem Blondhaar in den Silberrahmen hineinzudenken. In einer halben Stunde würden sie sich treffen. Sylvia hatte Spanischunterricht; vor halb zehn würde sie nicht nach Hause kommen. Und jetzt, da ihm Geld in reichem Maß zur Verfügung stand, war es ohnehin an der Zeit, sich von ihr zu trennen. Sie war so bieder und langweilig geworden, und die Falten im Gesicht und am Bauch ließen sich mit allen Kosmetika – wie er diese Dosen und Tuben hasste, die überall im Bad herumstanden! – nicht wegzaubern. Und ihren Sohn hatte sie ebenfalls verdorben mit ihren ständigen Leitplanken und Richtlinien. Trotz seiner vierzehn Jahre weigerte sich Arnold hartnäckig, zu pubertieren. Er kiffte nicht und stellte nichts an. Wenn Leim auf den Stuhl des Lehrers geschmiert oder am Passat des Schulhausabwarts die Scheiben rosa gefärbt wurden, war Arnold nicht dabei. Seine Leistungen waren nicht gut und nicht schlecht, er wurde weder gescholten noch ausgezeichnet; es war, wie wenn es ihn gar nicht gäbe. Was immer an Persönlichkeit in ihm stecken mochte, verbarg er hinter einem scheuen, fast devoten Auftreten.

Herbert Matter schloss die Augen. Ich bin ein Glückspilz, dachte er, ich bin wirklich ein Glückspilz. Ich habe es ihnen gezeigt. Sollen die anderen statistische Größen bleiben, Material für Volkszählungen und Meinungsumfragen. Sollen sie weiterhin über Lohnerhöhungen um anderthalb oder zwei Prozent streiten. Ich fange jetzt an zu leben.

Dann dachte er: Bis es so weit ist, lebe ich unauffällig weiter wie bisher. Ich werde nicht mit Geld um mich werfen, höchstens manchmal ein Essen in einem der besseren Lokale. Heute Abend entscheidet sich, wie es weitergeht. Tanja wird sich freuen.

image

Tanja wartete auf Matter bei der letzten Tankstelle vor dem Grenzübergang ins Elsass. Das war jeden Mittwochabend ihr Treffpunkt, inmitten der französischen Grenzgänger, die mit ihren kleinen Renaults und Peugeots nach Hause fuhren. Dreizehntausend an der Zahl, wälzte sich ihr Zug jeden Morgen zur Arbeit nach Basel und jeden Abend zurück in die elsässischen Dörfer rund um die Grenze. Matter sah Tanjas blonden Schopf von weitem.

«Heute war er wieder unausstehlich», sagte sie, als sie die Zollstation hinter sich hatten. «Zwei Briefe waren schlecht formatiert, das Mailprogramm ist abgestürzt, ein Klient hat ihm das Mandat entzogen.»

Matter lachte. «Sei nachsichtig, mein Häslein. Kellenberger hat schwierige Zeiten hinter sich. – Heute Abend feiern wir, auf seine Kosten!»

«Hat alles geklappt?», fragte sie.

«Alles wie am Schnürchen. Alle drei haben bezahlt, die Bank hat heute die Bestätigung geschickt.»

Tanja lehnte sich an Matters rechte Schulter. «Du bist ein Genie», erklärte sie. «Mein Genie.»

Er legte die Rechte auf ihren Schenkel. «Dank dir, Häslein. Ohne deinen Tipp wären wir heute nicht so weit.»

«Der Tipp war ja unabsichtlich. Aber du musst mir alles erzählen.»

«Klar. Bei einem feinen Essen und einem guten Glas Wein.»

«Einverstanden.»

«Und am Wochenende reisen wir zusammen nach London, wenn du nichts Wichtigeres vorhast.»

«Oh?» Sie strahlte. «Ich liebe Überraschungen.»

Es war bereits warm an diesem Aprilabend, und die offene Landschaft empfing sie in sattem Grün. Auf den Feldern blühten der Löwenzahn und das Wiesenschaumkraut, die Riegelbauten glänzten in allen Pastellfarben; Herbert Matter spürte den Frühling, und mit Tanja neben sich vergaß er seine siebenundvierzig Jahre und sein unvorteilhaftes Gesicht. Früher hatte ihn seine Mutter immer zu trösten versucht, wenn er sich über sich beklagte. Ein Mann muss nicht schön sein, lautete ihre Devise; es genügt, wenn er ein bisschen weniger hässlich ist als der Teufel.

Er hatte im Restaurant Zur alten Schmitte reserviert. Das ehrwürdige Lokal war teuer und im Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet. Matter bestellte eine Flasche Champagner, Moët Chandon, um auf ihre Zukunft anzustoßen.

Nach dem Essen, als die Dämmerung bereits einen blauen Schimmer über das Dorf, die Felder und die Bergrücken im Hintergrund warf, griff Matter in die Jackentasche. Er zog ein kleines Päckchen hervor und legte es auf den Tisch.

«Das ist für dich, mein Häslein. Du hast mir den Hinweis auf Plus-Minus AG gegeben, dein Chef hat gestanden und wurde weich wie Butter, als ich ihm die maximale Steuerforderung vorrechnete, haha.»

Tanja lachte. «Zusammen sind wir offenbar ein gutes Team.» Ihr Blick ruhte auf dem rostrot eingewickelten Päckchen. «Und die anderen beiden?», fragte sie.

«Es war reiner Zufall, dass ungefähr zur selben Zeit Hubers Frau ihren Mann denunzierte, aus reiner Wut, um ihm eins auszuwischen. Und Regenass», Matter schmunzelte, «habe ich in den Akten gefunden. Er ist ein Tölpel. Kann einem fast leidtun.»

«Und wie viel hast du jetzt insgesamt?»

«Drei Millionen achthundertfünfzigtausend.»

«Das tönt gut.» Tanja streckte die Hand nach dem Geschenk aus. «Darf ich es öffnen?»

«Klar, nur los!»

Matter schaute zu, wie Tanja das Geschenkpapier aufriss. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass er in der Lage war, seiner Freundin etwas Wertvolles zu schenken. Er hatte am Nachmittag für eine Stunde sein Büro verlassen. Bei einer Bankfiliale hob er zehntausend Franken von seinem Konto ab. Dann ließ er sich im schönsten Juweliergeschäft Diamanten zeigen. Es erstaunte ihn, wie klein die Klunkerchen waren. Geduldig hörte er sich die Erklärungen des Fachmanns an, dann entschied er anhand des Preises. Ein wunderschönes Stück, bestätigte der Verkäufer; 1,2 Karat, vvs. Geeignet für einen Ring oder als Herzstück eines Anhängers.

«Oh, wie schön, Herbert!»

Tanja stand auf, ging um den Tisch, umarmte Matter und drückte ihm einen Kuss auf die Stirne.

«Es ist recht, wenn es dir gefällt. Wir können in Ruhe überlegen, was wir damit machen. Einen schönen Ring oder einen Anhänger.»

«Oder wir lassen ihn, wie er ist, als Kapitalanlage.» Sie ging zurück zu ihrem Platz. «Sag, Herbert – Diamanten steigen doch im Wert, oder?»

Matter zögerte; diese Frage hatte er dem Verkäufer nicht gestellt. «Wahrscheinlich schon. Warum?»

«Nur so. Ist ein Zertifikat dabei?»

«Natürlich. Unten in der Schachtel.»

Sie fand das Dokument und studierte es. «Was bedeutet vvs?», wollte sie schließlich wissen.

«Jeder Diamant hat gewisse Unreinheiten, die von bloßem Auge kaum sichtbar sind», begann Matter seine Erklärung, zufrieden über sein neu erworbenes Wissen. «vvs heißt, dass nur ganz, ganz winzige Unreinheiten vorhanden sind. Es ist eine der höchsten Qualitätsstufen.»

«Das ist sehr gut.» Sie verschloss die Schachtel und verstaute sie in ihrer Handtasche. «Und jetzt?»

Matter lachte scheppernd. «Jetzt gehen wir zu dir. Hast du keinen Appetit?»

Tanja antwortete nicht gleich. Sie blickte ihn an, prüfend, wie ihm schien. Ihr Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Endlich sagte sie:

«Wir werden uns wohl wieder beeilen müssen. Damit du vor deiner Frau zu Hause bist.»

«Nicht mehr oft. Noch zwei Tage, dann fliegen wir nach London, ungestört ein ganzes Wochenende lang.»

«Und danach?»

«Ich trenne mich von Sylvia.»

«Weiß sie es schon?»

«Nein, noch nicht.»

«Und wann willst du es ihr sagen?»

«Wenn wir von London zurück sind.»

«Aha.» Dann fügte sie mit einem kleinen Schmunzeln bei: «In London kaufe ich dir eine schöne Krawatte.»

image

Am Freitagnachmittag, als Herbert Matter sich gut gelaunt anschickte, das Büro zu verlassen, beschäftigte sich sein Chef, Konrad Nägeli, noch intensiv mit seinen Amtspflichten. Als Abteilungsleiter Veranlagung oblag es ihm, von Zeit zu Zeit stichprobenweise die Steuerveranlagungen der ihm unterstellten Beamten zu überprüfen. Ohne besonderen Grund wählte er Matters Bereich. Er rief die zuletzt bearbeiteten Dossiers auf und gelangte so zu Huber, Regenass und Kellenberger. Bei allen fand sich Matters Genehmigungsvermerk; bloß die Steuerbeträge mussten noch errechnet und die Steuerrechnungen ausgefertigt und versandt werden.

Konrad Nägeli vertiefte sich in die elektronischen Akten. Bei Kellenberger fand er eine Notiz Matters «Vaduz überprüfen», aber keinen Hinweis, ob die Überprüfung stattgefunden hatte. Das Dossier Huber enthielt im Aktenverzeichnis den Hinweis auf den Eingang eines Briefes der Ehefrau Huber vom 7. März. Der Brief selber war nicht eingescannt; Nägeli würde ihn am Montag von Matter anfordern. Interessant war der Fall Paul Regenass. Nägeli verglich die beiden letzten Steuererklärungen und stellte sofort fest, dass Regenass im vergangenen Jahr angeblich bloß rund zwanzigtausend Franken für den Lebensunterhalt seiner Familie – ein Ehepaar und zwei Kinder – aufgewendet hatte. Jeder Laie musste erkennen, dass das nicht stimmen konnte.

Kopfschüttelnd schloss Konrad Nägeli die drei Dossiers. Matter war ein äußerst pflichtbewusster und sachkundiger Beamter. Nach fast zwanzigjähriger Zusammenarbeit betrachtete Nägeli ihn als Freund. Dennoch würde er am Montag einiges zu erklären haben.

image

Am Freitagabend bestand Sylvia darauf, Matter zum Flughafen zu fahren. «Wenn ich dich schon das ganze Wochenende nicht habe», erklärte sie. In der großen Halle mit den Check-in-Schaltern sah er von weitem Tanja; sie entdeckte ihn im gleichen Augenblick. In der Tasche trug er die Flugtickets für beide. Tanja machte ein paar Schritte in seine Richtung, dann hielt sie inne. Wahrscheinlich hatte sie erkannt, dass die rundliche Dame mit dem strengen Haarschnitt zu ihm gehörte. Um sein Entsetzen unter Kontrolle zu bringen, richtete er den Blick auf die Anzeigentafel mit den Flugbewegungen. Bei seinem Flug stand eine Anzeige: eine halbe Stunde Verspätung. Das war Matters Rettung.

Er wandte sich seiner Frau zu. «Schau, wie sich das trifft! Jetzt haben wir Zeit für einen Abschiedstrunk. Den Koffer gebe ich nachher auf.»

Im Lift nach oben zum Restaurant erkundigte sich Sylvia: «Warum fliegst du eigentlich nicht mit EasyJet? Das wäre doch viel billiger.»

Matter winkte mit einer großen Geste ab. Den Mittagsflug habe er nicht nehmen können, weil er im Amt stark beansprucht war. Und der nächste Flug morgen Vormittag kam nicht in Frage, weil er damit die halbe Beerdigung verpasst hätte. Also Swiss, leider. Dass er Business Class gebucht hatte, verschwieg er.

Im Restaurant fanden sie einen Tisch beim Fenster mit Blick aufs Flugfeld. Sie bestellten Getränke, Matter ein Bier und Sylvia einen Pfefferminztee. Er erhob sich.

«Entschuldige mich einen Augenblick. Ich muss zur Toilette.»