Lucy Diamond

Diät-Pralinen

Roman

Aus dem Englischen von Nicole Seifert

1. Fix und fertig

MADDIE

 

Der peinlichste Moment überhaupt? Davon gab es schon einige in meinem Leben. Einmal ging ich die Harborne High Street hinunter, und mein Rock steckte aus Versehen im Höschen. Ich hab zwar gemerkt, dass die Leute kicherten und auf mich zeigten, dachte aber, das wären nur die üblichen Idioten, die denken, Übergewichtige sind entweder taub oder völlig immun gegen verletzende Kommentare.

Als mich eine freundliche Frau darauf hinwies, dass ich den Passanten einen hübschen Anblick böte, dachte ich, ich sterbe vor Demütigung. Es klatschte sogar jemand, als ich hinten an meinem Rock zerrte. Ich hab richtig gemerkt, wie mein Gesicht rot und heiß wurde. Im Café Nero musste ich mir dann erst mal zwei Mandelcroissants und einen großen Cappuccino genehmigen, bevor ich auch nur daran denken konnte, mich wieder auf die Straße zu trauen.

Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass mich das Ewigkeiten verfolgt hat. Aber dann ist letzten Sommer bei der Arbeit was passiert, das noch tausendmal peinlicher war. Noch peinlicher sogar als damals mit sieben, als mein Kopf in einem Tor feststeckte (über eine Stunde lang) oder als ich bei dem Versuch, ein Foto von meiner Familie zu machen, rückwärts in einen Teich gefallen bin.

Ich arbeitete in Teilzeit bei einem der großen Radiosender in Birmingham, und ich liebte meinen Job. Na ja, bis zu jenem Tag jedenfalls. Das Radio war schon mein Freund, als ich noch ein schüchterner Teenager war, der im Schatten seiner gestylten Mutter stand. Mein Vater hatte unsere Familie schon lange verlassen – ein Glück für ihn –, es gab also zu Hause nur noch Mom und mich. Dabei war sie nicht gerade ein Fan des ruhigen Familienlebens. Jedes Wochenende gab sie Dinner- und Cocktailpartys und füllte das Haus mit schicken, schrill lachenden Frauen und kräftigen Kerlen mit dröhnenden Stimmen aus dem Theater. Ich verkrümelte mich lieber mit meinem Radio und diversen Süßigkeiten nach oben.

Das Radio hat mir an unzähligen Abenden Gesellschaft geleistet. Mein Lieblings-DJ war ein Typ mit honigsüßer Stimme, der Alex Morley hieß und mir das Gefühl gab, nur zu mir zu sprechen. Ich habe ihn mir als großen Mann vorgestellt, mit strubbeligen strohblonden Haaren, funkelnden blauen Augen und zerschlissenen Jeans. (Und ungefähr so sexy wie Sawyer aus Lost.) Ich habe es mir dann in meinem Sitzsack gemütlich gemacht, Lakritzschnecken gemampft und in Zeitschriften geblättert, während Alex mir was vorspielte. Die Enttäuschung war riesig, als Mom für mich ein signiertes Foto von ihm besorgte und sich herausstellte, dass er schwabbelige Pausbäckchen hatte, leicht schielte und dass nur ein paar fusselige Strähnchen seine Glatze überdeckten.

Na ja, wie auch immer. Durch das Radio habe ich mich weniger allein gefühlt, und ich konnte Alex Morley sogar seine schreckliche Frisur und seine gutgepolsterten Wangenknochen verzeihen (es stand mir schließlich kaum zu, darüber zu urteilen!). Seit damals träumte ich davon, dass eines Tages ich es sein würde, die in ein Mikrophon sprach und jemandem das Gefühl gab, mit der Welt in Verbindung zu stehen 

In meinem späteren Job war das allerdings nicht besonders wahrscheinlich, leider. Ich war Produktionsassistentin bei unserem lokalen Sender, Birmingham FM, und hatte das Glück, für Chip Barrett zu arbeiten, den Silberfuchs mit der sanften Stimme, der seit Jahren die Mittagssendung moderierte und bei «Frauen eines gewissen Alters» sehr beliebt war. Aber seit der neue Controller, Andy, angefangen hatte, sollte der Sender cooler und moderner werden. Also wurde der arme alte Chip ins Nachtprogramm verbannt, zwischen zwei und sechs Uhr morgens. Für seine alte Sendung wurde das hinterhältigste Biest im ganzen Land gefunden – für die ich dann das Pech hatte zu arbeiten.

«Guten Morgen, Birmingham! Ich bin Collette McMahon, und ich bin hier, um eure Augen zum Funkeln zu bringen und ein Lächeln auf euer Gesicht zu zaubern.» Das sagte sie jeden Tag zu Beginn ihrer Sendung. Sie war eine ziemliche Schlange, denn während sie dieses ganze süßliche Zeug redete, gestikulierte sie wild in meine Richtung oder schickte eine E-Mail, in der stand: «MADDIE, WIR HABEN HIER DRIN KEINEN KAFFEE MEHR!!!»

Jedes Mal überkam mich der Wunsch, ihr eine runterzuhauen. Ich bin Maddie Lawson, und ich bin hier, um dir einen spitzen Bleistift ins Auge zu rammen und dir eine zu kleben, Collette! Denn erstens hasste ich E-Mails in Großbuchstaben (viel zu aufdringlich), und zweitens war es nicht mein Job, der Moderatorin ihren Scheißkaffee zu bringen, und das wusste sie ganz genau.

(Hatte ich erwähnt, dass Collette McMahon gertenschlank ist und sehr attraktiv, mit schulterlangen schwarzen Haaren und graublauen Augen mit unverschämt langen Wimpern? Das machte es noch schlimmer.)

An diesem speziellen Tag kam Collette mal wieder zu spät. Ihre Sendung begann um elf Uhr morgens, und wir sollten beide um Punkt zehn da sein, damit wir den Ablauf mit Becky, der Produzentin, durchgehen konnten und genug Zeit hatten, alles vorzubereiten. Chip war immer schon um neun im Studio gewesen, er schrieb dann noch seine Überleitungen und bastelte an seiner Playlist – ein vollendeter Profi. Aber Collette flatterte herein, wann es ihr passte.

«Goooott, ist das heiß draußen», sagte sie, als sie gegen halb elf hereingebummelt kam, ihre Tasche auf den Tisch schleuderte und sich die riesige Designer-Sonnenbrille in die Haare schob. Sie hatte eine laute Stimme mit ziemlich vornehmem Akzent und wollte gern, dass jeder mitbekam, wann sie das Gebäude betrat. «Alles klar? Alle bereit für eine großartige Sendung?»

Becky sah verwirrt aus. «Sag du’s mir, Collette», antwortete sie. «Wo hast du gesteckt?»

Collette zog eine Grimasse. «Kein Grund, zickig zu werden», sagte sie. Dann guckte sie in meine Richtung, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. «Hol uns einen Kaffee, Schätzchen, ich verdurste. Ist ziemlich spät geworden gestern.»

Kein bitte, wie ihr vielleicht bemerkt habt. Und dieses nervige «Schätzchen», als wäre ich sechzehn oder eine Praktikantin oder so was. Dabei war ich doch ein Jahr älter als sie, die dumme Kuh.

Ich wollte gerade aufstehen, als Becky eine Hand auf meinen Arm legte, um mich davon abzuhalten.

«Maddie hat keine Zeit, rumzurennen und dir Kaffee zu machen», sagte sie kühl. «Wir brauchen sie hier, damit sie mit uns die Sendung vorbereitet. Also, wenn du so weit bist, sollten wir jetzt den Ablauf durchgehen. Wir sind in nicht mal einer halben Stunde auf Sendung, also lass uns schnell machen.»

Collette wirkte eingeschnappt, befahl einer der Sekretärinnen, ihr Kaffee zu holen, und erdolchte mich mit ihren Blicken, als wäre es meine Schuld.

Die Sendung war eine Mischung aus Musik und Gesprächen, mit Anrufern und verschiedenen Ratespielen, je nach Wochentag. Zu meinem Job gehörte es, das Gerüst der Sendung zu erstellen, lokale Themen zu recherchieren, über die Collette vielleicht reden wollte, und Interviewpartner zu organisieren. Chip hatte gern Geschichten gemocht, in denen es menschelte – über den guten Samariter von nebenan oder das Mädchen, das Leukämie hatte und nochmal nach Disneyland fahren durfte, so etwas in der Art. Betty und ich wussten immer noch nicht genau, was Collettes Geschmack traf. Bisher schien sie vor allem daran interessiert zu sein, sich über Prominente lustig zu machen und Klatsch und Tratsch zu verbreiten.

«Okay», fing ich an und sah auf meine Notizen. «Um 11.15 Uhr haben wir die Mittwochs-Anrufrunde – da könnten wir was über die Sommerferien machen, die bald anfangen und –»

«Nee.»

Ich starrte Collette irritiert an, weil sie mich so dreist unterbrochen hatte. «Äh … na ja, eine Menge unserer Hörerinnen sind Mütter, und deshalb –»

«Deshalb wollen sie über die verdammten Schulferien ganz bestimmt nicht sprechen, Schätzchen!», schnaubte sie. «Schon mal was von Realitätsflucht gehört? Was hast du sonst noch?»

Ich sah mit brennendem Gesicht auf meine Notizen. Chip hätte niemals so mit mir geredet. «Also, heute Abend werden die Birmingham-Restaurantpreise verliehen», begann ich zögernd. «Vielleicht …»

Sie schnalzte mit der Zunge. «Nicht besonders sexy», sagte sie. «Hör mal, überlass das mir, ja? Mir fällt für die Anrufrunde schon was Besseres ein. Was noch?»

Und so ging es weiter, Becky wurde ähnlich behandelt. Auch gefiel Collette das Mittwochsrezept von Phil, dem Küchenchef, nicht. («Ziemlich langweilig, oder? Er soll uns was Exotischeres vorschlagen.») Bei der Erwähnung einer Samba-Band, die ins Studio kommen und was vorspielen würde, verdrehte sie die Augen. Und als Becky sie an das Mittagsquiz erinnerte, gähnte Collette doch tatsächlich.

«Wir sollten langsam anfangen», sagte Becky irgendwann schnippisch und wickelte eine ihrer kastanienbraunen Korkenzieherlocken fest um den Finger. (Immer ein schlechtes Zeichen.) «Collette, ich fürchte, du wirst improvisieren müssen. Maddie, kümmerst du dich bitte um die Überleitungen.»

«Keine Sorge», sagte Collette, die Ruhe selbst, und stolzierte in den Aufnahmeraum.

«Natürlich», sagte ich – und war meinerseits alles andere als ruhig. Ich wusste inzwischen, wie Live-Sendungen im Radio funktionierten, klar. Aber bei Chip war immer jede Minute der dreistündigen Sendung geplant gewesen. Heute sah der Programmablauf erschreckend dünn aus, da Collette die Hälfte des Materials, das Becky und ich zusammengetragen hatten, ablehnte.

Ich hätte mir allerdings keine Sorgen zu machen brauchen. Collette hatte immer eine Menge zu sagen, das meiste entnahm sie direkt der Sun. Außerdem gab es ein ziemlich langes Telefonat, in dem es vor allem darum ging, die Big Brother-Teilnehmer niederzumachen. Kurz darauf begann sie einen Monolog darüber, ob sie sich am Wochenende die Haare kurz schneiden lassen sollte.

Und dann ließ sie die Bombe platzen.

«Ihr wollt im Sommer doch alle so gut aussehen wie möglich, oder, Leute?», gurrte sie ins Mikro. «Deshalb starte ich heute die Macht-Birmingham-schön-Kampagne, und zwar hier und jetzt. In den nächsten Monaten wird sich mein ganzes Team von Birmingham FM einer Schönheitsoffensive unterziehen.»

Becky wirkte nervös. «Wovon redet sie denn da?», zischte sie in meine Richtung. Wir saßen nur ein paar Meter von Collette entfernt, waren aber durch die schalldichte Glasscheibe des Studios von ihr getrennt. «Weißt du irgendwas davon?»

«Nein», sagte ich, ebenfalls nervös. Mir gefiel das boshafte Blitzen in Collettes Augen nicht, als sie zu mir herübersah.

«Ich zum Beispiel werde ein paar Beauty-Produkte testen, die uns das Bliss Spa vom Perfect Body-Fitnessstudio freundlicherweise geschickt hat.» Unbeirrt laberte sie weiter. «Und ich werde Vorher/​Nachher-Fotos in meinen Blog stellen, also seht sie euch an! Ich habe auch ein paar Shampoos und Proben von Saks für Becky organisiert, unsere wunderbare Produzentin. Die könnte sie mal ausprobieren.»

Becky lächelte – erleichtert, glaube ich – und zeigte Collette den erhobenen Daumen.

«Und was ist mit unserem süßen Controller, Andy Fleming?», fuhr Collette fort. «Schließlich ist er mein Boss … Also habe ich was ganz Besonderes für ihn: einen Tag im Spa des Serenity Hotels. Der hat’s gut! Wollen wir mal hoffen, dass er sich daran erinnert, wenn es um die jährliche Gehaltserhöhung geht, was, Andy?» Sie lachte über ihren eigenen Witz, dann sah sie mich an, und sofort fühlte ich mich wie eine Maus, die von einer gefährlichen Kobra entdeckt worden war.

«Und für Maddie, unsere Superassistentin …», gurrte Collette mit leuchtenden Augen. Sie machte eine Pause und lächelte dann ihr Killer-Lächeln. «Also, Maddie wird den Pfunden den Kampf ansagen! Ja, so ist es: Maddie wird eine FatBusters-Diät-Gruppe ausprobieren. Solche Gruppen gibt es in der ganzen Stadt, geht auf unsere Website, wenn ihr selbst ein paar Kilos loswerden wollt. Ich halte euch auf dem Laufenden, wie wir in den nächsten zwei Wochen vorankommen, also bleibt dran …»

Schnapp. Das Schicksal der Maus war besiegelt, die Kobra hatte gesiegt.

Meine Hände zitterten, mein Mund war trocken, und ich hätte am liebsten vor lauter Scham losgeheult. Ich brauchte jeden verbliebenen Fetzen Stolz, um nicht im selben Moment aus dem Studio zu rennen.

«Alles okay, Maddie?», fragte Becky besorgt.

Collette hatte den neuesten Hit von Girls Aloud aufgelegt und tanzte herum, als wäre nichts gewesen. Doch ihre Worte waren wie ein Stachel, der immer noch tiefer eindrang. Maddie wird den Pfunden den Kampf ansagen! Maddie wird eine FatBusters-Diät-Gruppe ausprobieren!

Diese schreckliche, schreckliche Frau! So eine Ziege. Jeder bekam irgendwas Nettes, nur ich nicht. Ich war die Witzfigur.

«Maddie? Alles okay?»

Ich nickte Becky stumm zu, war aber nicht imstande zu sprechen. Collette McMahon hatte gerade Tausenden von Hörern erzählt, dass ich fett war und etwas dagegen tun musste. Sie hatte mich vor der ganzen Stadt gedemütigt.

 

Als Kind war ich dünn. Groß und dünn, mit langen knochigen Beinen und spitzen Ellbogen. Aber irgendwie hat sich das geändert. Irgendwie bin ich immer dicker und dicker und dicker geworden, bis ich einen Meter fünfundfünfzig groß war und über hundert Kilo wog. Halb Frau, halb Kloß, das war ich. Im Supermarkt spürte ich die Blicke der Leute. Diese Blicke wanderten von mir direkt in meinen Einkaufswagen, offenbar in der Erwartung, dort Berge von Knabberzeug und Süßigkeiten vorzufinden. Also ignorierte ich sie und legte noch mehr Obst und Gemüse hinein. Das erwarteten sie nämlich nicht. Ich genoss die überraschten Gesichter. Sie wussten natürlich nicht, dass ich das andere Zeug online bestellte. Es wurde geliefert, wenn die Kinder in der Schule waren – meine geheimen Freuden: Käse, tütenweise Chips und diese kleinen Schokoriegel, die man auf Kindergeburtstagen verteilt. Guck, wie brav ich bin, sagte ich mir, wenn ich ein Mini-Mars aufriss und meine Zähne darin versenkte. Nur ein winziger kleiner Schokoriegel für mich! Später aß ich dann noch vier weitere. Bis ich am Ende des Tages schließlich auch die restlichen verschlang.

Das Problem war, ich liebte Essen. Das war schon immer so gewesen. Ich konnte kein Rezeptbuch zum reinen Vergnügen lesen – hmmmm, Hähnchenpastete und Kartoffelpüree mit Soße … ooooh, Schweinelendchen mit Knoblauch und Lorbeerblättern … mariniertes Lamm auf Rosmarinkartoffeln … Ich saß im Bett und bemühte mich, nicht auf die Seiten zu sabbern.

Es gibt aber auch nichts Besseres, als wenn Familie und Freunde am Tisch sitzen, die Küche voller wohlriechender Essensdämpfe, und ich mit gerötetem Gesicht und überglücklich einen riesigen Braten mit knusprigen, goldenen Kartoffeln servieren kann. Die Oooohs! und Aaaahs! und Das ist so köstlich! und Maddie, du bist die Größte! Wer würde das nicht mögen?

Die Kehrseite war, dass mir immer weniger gefiel, wie ich aussah. Ich schaute überhaupt nicht mehr in den Spiegel, weil ich keine Lust hatte, meine Doppelkinne zu zählen. Das Fett schien wie eine wabbelige rosa Hülle über mich gekrochen zu sein. Vom Hals bis über meine Knie. Auch um meine Taille befanden sich mehrere deutlich sichtbare Rollen, und wenn ich mich setzte, hatte ich immer Sorge, dass der Stuhl zusammenbrach.

Ich träumte davon, wieder dünne, schön geformte Beine zu haben, einen flachen Bauch, einen überschaubaren Hintern. Heimlich wünschte ich, ich hätte den Mut (und das Geld), mir das Fett absaugen und den Magen verkleinern zu lassen.

Glücklicherweise schien es Paul nichts auszumachen. Mein Mann liebte mollige Frauen. «Mehr zum Festhalten», sagte er liebevoll, wenn auch eher unromantisch. «Für mich siehst du immer noch aus wie eine Prinzessin, Babe.»

Wenigstens sah einer von uns das so.

 

Am Tag nach der Radio-Pleite wurde dann alles noch schlimmer. Die Schule meiner Kinder feierte den «Tag des Sports», und die Mütter sollten ein Wettrennen veranstalten: Willkommen in der Hölle.

Ich hatte nur wenig geschlafen und fühlte mich immer noch verwundbar wegen des vergangenen Tages. Meine Tochter Emma spürte diese Schwäche und stürzte sich auf mich.

«Mom, weißt du noch, dass heute Tag des Sports ist?», fragte sie. «Du kommst doch heut Nachmittag, oder?»

«Ähm …», hob ich an und strich Butter auf einen Frühstückstoast. Ich hatte den Nachmittag frei und eigentlich vorgehabt, mit der Heckenschere den Dschungel zu bearbeiten, zu dem unser vernachlässigter Garten geworden war.

«Bitte, Mom, du kommst nie zum Tag des Sports!», beklagte sich nun auch ihr Bruder Ben. «Alle anderen Mütter kommen.»

«Außerdem möchte ich so gerne, dass du zuschaust, wenn ich mit Amber das dreibeinige Wettrennen mache», fügte Emma hinzu. «Wir haben so viel geübt, und wir sind wahnsinnig schnell. Wir könnten sogar gewinnen!»

Ich blieb stumm. Es war ja überhaupt kein Problem, ihnen dabei zuzusehen, wie sie übers Spielfeld rannten. Ich hatte nur all diese Horrorgeschichten über die obligatorischen Wettrennen der Mütter aus den letzten Jahren gehört, und es war absolut klar, dass mich keine zehn Pferde dazu bringen würden, da mitzumachen.

«Das ist mein letztes Jahr in Highbridge», fuhr Emma in leicht anklagendem Ton fort. «Und du warst nicht bei einem einzigen Tag des Sports. Letztes Jahr, als ich das Sackhüpfen gewonnen hab, hätte ich mir so gewünscht, dass du da gewesen wärst …»

Langsam fühlte ich mich unwohl. Ich bin morgens um Viertel vor acht nicht gerade auf der Höhe meiner Schlagfertigkeit und kann es nur schwerlich mit den Finessen einer Zehnjährigen aufnehmen.

«Ich muss arbeiten», sagte ich, stellte den Teller mit Toasts auf den Tisch und nahm mir einen.

«Aber nicht heute Nachmittag», entgegnete Emma vorlaut. «Du arbeitest doch donnerstags nur vormittags, oder nicht? Da kannst du doch am Nachmittag kommen.» Ihre Augen verengten sich, und dann holte sie zum Tiefschlag aus. «Also, wenn’s dich interessiert, meine ich, wenn’s dir nicht egal ist!»

«Oh, Emma», seufzte ich. «Natürlich interessiert es mich.» Ihre Worte machten mir ein schrecklich schlechtes Gewissen, und schon hörte ich mich selbst sagen: «Na gut … ich komme.» Sie hatte mich bezwungen. Ein lausiger Tag des Sports. Ein blödes Wettrennen der Mütter, das nach wenigen Minuten vorbei wäre. Wie schlimm konnte das schon sein?

Wenige Stunden später wurde mir klar, wie schlimm so etwas sein konnte. Ich war schon verspannt, bevor überhaupt der Startschuss ertönte – mein Herz klopfte wie verrückt, mein ganzer Körper war ein einziges Nervenbündel. Die Sonne brannte und hüllte alles in gleißendes Licht. Die anderen Läuferinnen redeten fröhlich miteinander, aber ich war innerlich so aufgewühlt, dass ich mich nicht konzentrieren, geschweige denn mich bewegen konnte. Warum hatte ich mich nur dazu überreden lassen?

Die Mütter neben mir an der Startlinie trugen alle knappe Hemdchen und Shorts und zeigten ihre gebräunte Haut. Ich war der weiße Fleck am Horizont, die Einzige in langen XXL-Hosen und einem überdimensionalen Oberteil, das so wenig Fleisch wie möglich zeigte. Plötzlich wünschte ich, ich hätte den vierten Toast zum Frühstück nicht gegessen. Oder die fettigen, salzigen Fritten zum Mittagessen. Oder die Berge von Kuchen und Schokolade und Käse und Nudeln, die ich in den letzten Wochen verdrückt hatte 

Halt den Mund, Maddie, befahl ich mir. Zu spät ist zu spät. Außerdem befanden sich in der Menge zwei strahlende Kinder, die mir ermutigend zuwinkten. Ich erinnerte mich an Emmas zweiten Platz beim dreibeinigen Rennen mit ihrer Freundin Amber und an Bens begeisterten Gesichtsausdruck, als er an den anderen Zweitklässlern vorbeizog, um als Sieger das Ei auf dem Löffel ins Ziel zu bringen … Weiß der Himmel, wie eine Tonne wie ich zwei so schlanke, athletische Kinder hervorbringen konnte.

Als Mrs. Gable, die Konrektorin, zu uns herübersah und die Startpistole hob, entstand an der Startlinie leichtes Gedrängel. Ich entdeckte Vanessa Gray in meiner Nähe. Sie trug teuer aussehende Laufschuhe und hatte diesen entschlossenen Ausdruck in den Augen, den ich schon von den vielen Elternvertretertreffen an ihr kannte. Verstohlen schob sie ihren linken Ellbogen vor Jane Willis und setzte ihren Fuß ein paar Zentimeter weiter vor.

«Auf die Plätze …»

O Gott. Es geschah wirklich. Die Angst schwappte in mir herum wie das Wasser in einer Waschmaschine.

«Fertig …»

Vanessa Grays gesamte Haltung war angespannt, die Knie leicht gebeugt, wie ein Jaguar kurz vorm Sprung. Ihre Beine steckten in Radlerhosen aus Lycra, und die Haare wippten in einem perfekten, glänzenden Pferdeschwanz.

PENG!

Ungefähr vierzig Mütter rasten über den Sportplatz, die Jubelschreie und Anfeuerungsrufe der Zuschauer klangen in unseren Ohren. Vanessa sprintete voraus wie eine Besessene. Wahrscheinlich hatte sie das ganze Jahr lang dafür trainiert.

Ich dagegen keuchte, als würde meine Brust gleich explodieren. Wumm-wumm-wumm machten meine Turnschuhe (noch jungfräulich und weiß glänzend, gekauft nach einem guten Vorsatz für das neue Jahr) auf der Rennstrecke. Ich prustete wie eine Dampfmaschine, mein Gesicht war heiß und glänzend. Ich lief, so schnell ich konnte. Allerdings liefen die anderen Mütter irgendwie schneller.

Mein gequältes Lächeln gefror in dem Moment, in dem Vanessa Gray als Erste über die Ziellinie schoss und siegreich die Arme hochwarf, als hätte sie einen Weltrekord gebrochen. Widerstrebender Applaus von den Lehrern. Von denen mochte sie auch keiner.

Wumm-wumm-wumm. Vor mir ein Meer aus knackigen Hintern, rasenden Beinen und pumpenden Ellbogen.

Das Publikum, hundertsiebzig Kinder, saß im Schneidersitz auf beiden Seiten der Rennbahn. Alles um mich herum verschwamm. Hilfe! Ich war kilometerweit abgeschlagen. Inzwischen kamen noch andere Mütter über die weiße Ziellinie. Sie lachten und strichen sich die Haare aus dem Gesicht. Nur ich war noch auf dem Feld. Die Zeit schien stillzustehen.

Wumm-wumm-wumm.

Mrs. Gable erhob das Megaphon, um mich anzufeuern. Sie meinte es gut, gab mir aber den Rest. «Schneller, Mrs. Lawson, Sie schaffen das!»

O Gott, lass mich sterben, jetzt!

Die Kinder kicherten und lachten über die fette, unfähige, keuchende Mrs. Lawson, als sie endlich – endlich! – über die Ziellinie watschelte.

«Puuuh», keuchte ich und zwang mich zu lächeln, obwohl ich fürchtete, gleich einen Herzinfarkt zu erleiden. «Das reicht jetzt aber für diese Woche.»

Vanessa Gray hörte mich und schenkte mir ein frostiges Grinsen, das eindeutig Versager! bedeutete.

Ich suchte meine Kinder in der Menge, weil ich Bestätigung brauchte. Ich wollte sehen, dass ihre Daumen immer noch hochgereckt waren. Aber da stand Emma, mit vor Scham ganz roten Wangen, starrte mich finster an und blickte dann schnell in die andere Richtung. Ben wurde gerade von seinen Freunden aufgezogen und mit den Ellbogen bearbeitet. Er hielt zum Schutz die Arme vors Gesicht und sah verschämt zu Boden.

Mit jedem keuchenden Atemzug fühlte ich mich mehr wie die schlechteste Mutter im ganzen Land.

 

«Na, dann mach doch was dagegen», sagte Mom im Kommandoton, als ich später in ihrem Wohnzimmer saß und von meinem katastrophalen Tag des Sports erzählte. «Sieh’s positiv – als Motivation. Krieg deinen Hintern hoch und – warte mal.»

Ich versuchte, nicht zu stöhnen, als sie plötzlich mit ihrem türkisfarbenen Handy herumwedelte.

«Wo ist denn die Nummer vom Fitnessstudio? Die muss doch hier irgendwo sein», murmelte sie.

«Mom, ich geh nicht in dein Fitnessstudio», sagte ich. Aber sie hatte schon das Handy am Ohr, hob gebieterisch die Hand und verbot mir weiterzusprechen.

«Hallo, hier ist Anna Noble», säuselte sie. Die Stimme meiner Mutter klang so rauchig, dass sie einen eigenen Aschenbecher gebraucht hätte. «Ja, sehr gut, danke, Schätzchen. Ich wollte nur fragen, ob ich eine Probestunde für meine Tochter vereinbaren kann … Ja, sie möchte vielleicht einen Vertrag abschließen … Genau.»

«Möchte ich nicht!», zischte ich wütend und starrte sie an. Ganz bestimmt nicht. Fitnessstudios und ich passten einfach nicht zusammen. Ich hatte es mit Gymnastik probiert, aber wir waren ebenfalls kein gutes Paar – wie Fritten und Blutwurst: eine wirklich schlimme Kombination.

Und wieder fuhr ihre Hand hoch, wie bei einem Verkehrspolizisten. Stopp. Nicht sprechen.

Ich sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, aber sie schrieb irgendwas auf und merkte es nicht. «Diesen Samstag – oh, das ist wunderbar, Schätzchen, danke. Und vielleicht eine Tageskarte für den Rest der Familie? Ja, ein Erwachsener und zwei Kinder. Das ist großartig. Vielen Dank. Dann bis bald.»

Meine Mutter war in Birmingham recht bekannt, so eine Art Mythos. In den frühen Achtzigern war sie eins der Martini-Mädchen gewesen, damals, als alkoholische Getränke noch mit etwas mehr Sex beworben werden durften. Sie war die attraktive Frau im weißen Badeanzug, die in einer Flasche Bianco tauchte. Von allen Reklamewänden in Birmingham strahlte ihr makelloser Körper. Ich bin in der Schule damit aufgezogen worden («Ich hab heut Morgen die Möpse von deiner Mom gesehen») – aber das machte mir nichts. Ich war stolz auf sie. Außerdem hatte sie durch die Kampagne genug Geld für ein großes Haus in Edgbaston verdient und die Werbung als Sprungbrett für ihre spätere Karriere als Schauspielerin genutzt. Inzwischen war aus den langen Haaren ein glatter kastanienbrauner Bob geworden, und ihr Hals war ein bisschen faltig, aber sie hatte immer noch diese glühenden mandelförmigen Augen und fabelhafte Beine. Und offensichtlich glaubte sie immer noch, mich herumkommandieren zu können wie ein Kind.

Mit einem triumphierenden Blick legte sie das Telefon beiseite.

«Also, du bist Samstagmorgen um zehn bei einem Trainer namens Jacob gebucht», erklärte sie mir, stand auf und hielt eine Kristallkaraffe in meine Richtung. «Sherry?»

«Aber ich will nicht ins Fitnessstudio!», rief ich. Ich war vierunddreißig Jahre alt, aber ich fühlte mich wieder wie ein bockiger Teenager. «Ich will nicht zu diesem Jacob, ich …» Sie hielt mir immer noch die Karaffe entgegen, mit hochgezogenen Augenbrauen, als hätte sie meinen Ausbruch nicht mitbekommen. «Nein, danke», murmelte ich und knirschte mit den Zähnen.

Achselzuckend goss sie sich selbst etwas Sherry ein und nippte daran. Dann setzte sie sich neben mich auf das riesige rote Sofa und schlug graziös die Beine übereinander.

«Liebling», sagte sie sachlich. «Du bist hergekommen, damit ich dir helfe. Ich werde dir nicht wie Paul auf den Rücken klopfen und sagen, ‹Mach dir nichts draus, ich finde dich immer noch schön.›»

Ich senkte irritiert den Blick. Paul hatte tatsächlich genau das gesagt, als ich ihm die Geschichte erzählt hatte. Mach dir nichts draus, für mich bist du immer noch wunderschön. Was gibt’s zum Abendessen? Er schien kaum hingehört zu haben, es interessierte ihn überhaupt nicht, er hatte einfach das gesagt, was ich hören wollte.

«Ich bin deine Mutter», fuhr sie fort, als müsste ich daran erinnert werden. «Ich kann ein paar unangenehme Wahrheiten ertragen. Ja, du bist meine hübsche Maddie, die wunderbarste Tochter und der großartigste Mensch, den ich kenne.» Meine Augen kribbelten bei diesem unerwarteten Kompliment. «Aber du bist auch übergewichtig und alles andere als fit. Und deshalb werde ich dir dabei helfen, dieses Problem anzupacken.»

Ich hüllte mich in Schweigen und wünschte, ich hätte doch einen Sherry genommen. Einen ganzen Krug von dem Zeug.

«Samstag also», sagte sie, und damit war das Thema für sie beendet.