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Brigitta Schröder

Menschen mit Demenz achtsam begleiten

Blickrichtungswechsel leben

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026072-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026073-3

epub:    ISBN 978-3-17-026074-0

mobi:    ISBN 978-3-17-026075-7

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Inhalt

 

 

  1. Vorworte
  2. Einführung
  3. Basismodul – Menschen mit Demenz achtsam und wertschätzend begleiten
  4. Einleitung
  5. 1 Leitgedanken
  6. 2 Spielvarianten
  7. 3 Kommunikationswege
  8. 4 Berührungsformen
  9. 5 Kreativitätsangebote
  10. 6 Musik – Bewegung – Lachen
  11. 7 Ein Wort der Abrundung
  12. Reflexion des Erlebten I
  13. Vertiefungsmodul – Individuelle Sinnfindung
  14. Einleitung
  15. 1 Selbsterkenntnis – Lebenslauf reflektieren
  16. 2 Selbstwahrnehmung – Gefühle aufspüren und leben
  17. 3 Selbstsorge – Psychohygiene einüben
  18. 4 Selbstreflexion – Existenzielle Fragen erörtern
  19. 5 Selbstliebe – den Blickrichtungswechsel leben
  20. 6 Ein Wort der Abrundung
  21. Reflexion des Erlebten II
  22. Materialien
  23. Bedenkenswertes oder Wegzehrungen
  24. Angaben bei besonderen Situationen
  25. Checklisten
  26. Gedicht »Der Seelenvogel«
  27. Lachen schenkt Lebensenergie
  28. Ritualisierte Gespräche ermöglichen
  29. Spiele mit Worten – mit Worten spielen
  30. Die zwölf persönlichen Rechte
  31. Gern gesungene Lieder
  32. Nachwort
  33. Literatur zum Weiterlesen

Vorwort

von Werner Widmer

 

Zwei Jahre nach ihrer Erstlingsausgabe »Blickrichtungswechsel« überrascht uns Brigitta Schröder mit einem noch stärker praxisbezogenen Werkbuch zum Zusammenleben mit Menschen mit Demenz. Die Lektüre beglückt und bereichert einen, egal ob man nun mit Menschen mit Demenz zu tun hat oder mit Veränderungen, die jeder Mensch mit fortschreitendem Alter an sich beobachten kann.

Die aufgeführten Lebensweisheiten – in einem einzigen Satz formuliert oder in wunderschönen kurzen Geschichten treffend zum Ausdruck gebracht – eignen sich nicht nur, wenn wir mit Menschen mit Demenz zusammen sind, genauso gut kann man mit ihnen eine Vorstandssitzung eröffnen! Das zeigt, dass wir alle am gleichen Leben teilhaben, Menschen mit und ohne Demenz. Was glücklich macht, ist letztlich – so der überraschende Befund nach der Lektüre – für Menschen mit Demenz das Gleiche wie für Menschen ohne Demenz. Oder mit anderen Worten: Was sich bei Menschen mit Demenz aufhellend bewährt, kann für Menschen ohne Demenz gar nicht falsch sein.

Mit diesem Verständnis wird die Begleitung, Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz zu einer gemeinsamen, geteilten Lebenserfahrung von »zwei Gewinnern«, um es in der Sprache von Brigitta Schröder zu sagen.

Genug der Harmonie, zurück in die Realität: Angesichts der extrem großen, bis zur Erschöpfung führenden Belastung, die viele Angehörige von Menschen mit Demenz bezeugen, scheint die lebendige Leichtigkeit, die diese Texte durchwehen, von einer anderen Welt zu sein. Der Gegensatz zwischen den beiden Positionen springt ins Auge.

Trotzdem spricht nichts dagegen, die kreativen Angebote von Brigitta Schröder selbst auszuprobieren. Es könnte ja sein, dass wir ihre beglückenden Erfahrungen im Zusammensein mit Menschen mit Demenz auch machen. Es wäre schade, wenn wir solche Chancen ausließen und uns nicht auch selbst einen so positiven Ausblick auf mögliche Altersphasen gönnen und dabei auch unser eigenes Älterwerden aus einem positiveren Blickwinkel heraus erleben.

Herbst 2014

Dr. Werner Widmer

Direktor der Stiftung

Diakoniewerk Neumünster – Schweizerische Pflegerinnenschule

Zollikerberg/Schweiz

Vorwort

von Thomas Klie

 

Von wegen, das ist kein Leben mehr, ein Leben mit Demenz.

Mag der moderne Mensch es als große Kränkung empfinden, wenn er von der Diagnose Demenz erfährt, mögen manche Prominente für sich ausschließen wollen, dass sie nicht mehr so sind, wie sie sich gern sehen: etwa ein Hans Küng oder ein Udo Reiter. Es bleibt eine der zentralen Aufgaben der Gesellschaften, die sich das Prinzip der Menschenwürde in ihre Verfassung geschrieben haben, Menschen mit Demenz ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die Rede vom »Pflegefall«, die zum Teil dramatische Medikalisierung von Menschen mit Demenz, die immer noch massenhafte Einschränkung von Freiheitsrechten: Sie zeigen, dass das Versprechen der Humanität noch mit einem langen kulturellen Reifungs- und Lernprozess verbunden ist. Würde entsteht im sozialen Miteinander, in der Begegnung mit und zwischen Menschen. Das gilt auch und gerade für Menschen mit Demenz, die bisweilen wie Fremde im eigenen Land, die fremd Gewordenen ihrer Familie, auch sich selbst als Fremde erscheinen. Diese Fremdheit gilt es akzeptierend zu überwinden und eine neue Gastfreundschaft einzuüben. Das gelingt, wenn wir in Menschen mit Demenz etwas von dem entdecken, was Leben ausmacht, was auch unsere Lebensfragen berührt. Von Sinnfenstern eines Lebens mit Demenz ist die Rede. Damit wird dem Wortsinn von Demenz, »ohne Sinne/von Sinnen«, ein anderes Deutungsangebot entgegengestellt. Es darf nicht romantisch verklären, welche Belastungen, welches Leid, welche Verlusterfahrungen für Menschen mit den Prozessen dementieller Veränderungen verbunden sind. Doch helfen solche Sichtweisen, zu denen auch Brigitta Schröder in ihrem Buch einlädt, Demenz anders zu sehen, zu deuten und Menschen mit Demenz anders zu begleiten. »Wir müssen alle etwas Dementisch lernen«, davon war in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. Keine andere, keine gleichmachende Sprache war damit gemeint, sondern das Erlernen einer Haltung, das Aufnehmen von Wissensbeständen über das, was ein Leben mit Demenz ausmacht, ein »Blickrichtungswechsel« im Alltag, zu denen auch Brigitta Schröder einlädt. Ob als Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Mitbürgerinnen und Mitbürger: diese Kompetenz im Dementischen, sie ist eine wichtige Voraussetzung für ein modernes inklusives Gemeinwesen, das auch Ja sagt zu einem Leben mit Demenz und auch Ja sagt zu Menschen mit Demenz. Dabei sind sorgende Gemeinschaften gefragt, sich des Themas und der Menschen anzunehmen, sowohl der Menschen mit Demenz als auch ihrer Angehörigen: Das Thema Demenz darf nicht Familien überlassen werden, auch Profis sind im Sinne einer Menschenwürde gewährleistenden Weise nicht mit dem Thema und den Menschen mit Demenz alleinzulassen. Auch dürfen bei allen Verpflichtungen, die dem Staat sozialpolitisch zukommen, die Erwartungen an ein menschenwürdiges Leben mit Demenz nicht alleine an Transferleistungen des Staates und seine Qualitätssicherungsaktivitäten geknüpft werden. Wir alle sind gefragt, wenn es darum geht, ein menschenwürdiges Leben für Menschen mit Demenz zu gewährleisten.

Brigitta Schröder ist eine neugierige Frau, eine weltläufige, eine lebenskluge, die ihre Erfahrung aus dem unmittelbaren Umgang und der Vermittlung von Wissensbeständen an Profis und an andere Helfer weitergibt. Ihr Buch lässt anknüpfen an eigene Erfahrungen, es lädt ein, sich Menschen mit Demenz emotional zu öffnen und die Begegnung mit Menschen mit Demenz auch dazu zu nutzen, das eigene Leben zu reflektieren. Für die, die sich auf die Art von Brigitta Schröder, die vielfältigen Angebote des Buchs, von Gedichten über neue Sichtweisen bis hin zu praktischen Tipps, einlassen mögen, für sie ist es ein hilfreicher und lebensdienlicher Ratgeber. Man spürt dem Buch an: Es ist kein heute so häufiges Rezeptbuch für den richtigen, qualitätsgesicherten Umgang mit Menschen mit Demenz, an dessen Ende messbare Erfolge in Richtung Lebensqualität stehen. Es ist von einer lebenserfahrenen Frau geschrieben, die dazu ermutigt, sich mit der ganzen Person, dem jeweils einzigartigen Gegenüber, dem Menschen mit Demenz achtsam zu öffnen.

Im Herbst 2014

Prof. Dr. Thomas Klie

Evangelische Hochschule Freiburg

Institutsleiter AGP – Sozialforschung

Einführung

 

 

In Deutschland leben schon heute 1,3 Millionen Menschen mit Demenz. In der Schweiz sind es rund 110 000. In wenigen Jahrzehnten werden sich die Zahlen aller Voraussicht nach verdoppeln und weiter steigen. Heilungschancen bestehen für die Betroffenen bisher nicht. Demenz ist bereits heute der häufigste Grund für Pflegebedürftigkeit im Alter.

Aufgrund dieser demographischen Entwicklung ist es nicht nur in allen medizinischen, pflegerischen und sozialen Bereichen wichtig, sich Wissen über die Veränderungen, die die Beeinträchtigung für die Betroffenen mit sich bringen, und sensible Formen des Umgangs mit diesen anzueignen. Die ganze Gesellschaft und die Gesellschaft als Ganzes haben sich dieser Herausforderung zu stellen. Wir alle sind aufgerufen, Menschen mit Demenz wertschätzend und ihre Lebensphasen bejahend zu begleiten und sie in ihrem So-Sein anzunehmen.

Die folgenden Texte sollen motivieren, sich in Offenheit mit diesen Veränderungsprozessen zu beschäftigen und eine Basis gedeihen zu lassen, aufgrund derer wir – trotz allen Defiziten – Kompetenzen bei den Betroffenen entdecken können. Auf dem Weg, eine kreative, phantasievolle und flexible Haltung zu erlangen, können Ängste aufbrechen. Diese erfolgreich zu bearbeiten, wird jedoch zu einer Befreiung führen können.

Folgende Volksweisheit verstärkt diese Sichtweise.

Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten,

können mit vielen kleinen Schritten

das Gesicht der Welt verändern.

Afrikanische Weisheit

Diese Aussage ermutigt, mitzuwirken, dranzubleiben, um gemeinsam das Gesicht der Welt humaner zu gestalten. Für Menschen mit Demenz bedeutet dies, dadurch Teilhabe und Integration zu erleben.

Alle, die sich von der Situation der Angehörigen, Begleitenden und der Menschen mit Demenz berühren lassen, alle, die sich für einen lebenslangen Lernprozess öffnen und bei sich anfangen, eine Haltung des Gebens und Nehmens zu entwickeln, beginnen den aufgezeigten Blickrichtungswechsel zu leben.

Das 2010 erstmals im Selbstverlag erschienene Buch »Blickrichtungswechsel. Lernen mit und von Menschen mit Demenz« ist aus der Praxis für die Praxis entstanden und als ein Lesebuch konzipiert.1 In kleinen Schritten wird das Thema aufgefächert und zur Umsetzung angeboten.

Für jeden Menschen gilt es, eine persönliche, individuelle Haltung zu entwickeln. Das Vorgehen ist prozessorientiert, deshalb bildet das Buch »Menschen mit Demenz achtsam begleiten. Den Blickrichtungswechsel leben« eine wichtige Ergänzung zum o. g. »Lesebuch«.

Das hier vorliegende Buch hat drei Teile. Die ersten beiden Teile »Basismodul« und »Vertiefungsmodul« ergänzen sich und haben nahezu eine identische Struktur.

Der dritte Teil mit Checklisten, Informationsblättern und im Buch abgedruckten weiteren Materialien können über den Webshop des Kohlhammer Verlags unter www.kohlhammer.de als elektronische Dateien heruntergeladen und damit ausgedruckt, ergänzt oder modifiziert werden. Die Autorin und der Verlag möchten den Nutzern dieser Materialien die Möglichkeit anbieten, diese dem Bedarf bzw. Erfordernissen ihrer Umgebung und Institution anzupassen. Möge dieses Angebot Zeit und Kraft sparen und bewirken, die eigene Haltung immer wieder neu zu überprüfen, um sich spielerisch von Belastendem und Stress zu befreien.

Ein Dankeschön an alle, die mich in meinem Handeln begleiten, ermutigen und unterstützen. Dank gebührt Peter Grämer, Dipl. Theologe und Dipl. Heimleiter, der sich als wichtiger Gesprächspartner und Ratgeber zur Verfügung gestellt hat. Der Stiftungsdirektor des Diakoniewerks Neumünster, Zollikerberg (CH), Dr. Werner Widmer, hat wiederholt bedeutungsvolle Geleitworte geschrieben. Dr. Ruprecht Poensgen, Verlagsleiter im Kohlhammer Verlag, und die Lektorin Anita Brutler haben mit Rat und Tat das Buch zum Abschluss geführt.

Einen herzlichen Dank an die Selbstlernenden, denen ich zurufe: »Glück auf!«. Dieser Ruf kommt aus dem Bergbau, wo ihn die Arbeiter vor ihrer beschwerlichen Tätigkeit unter Tage als Ritual einsetzen. Ihre Arbeit in der Tiefe ist vergleichbar mit der persönlichen inneren Arbeit. Der Weg zu sich selbst ist oft mühevoll, anstrengend und von alten Mustern, Prägungen und Glaubenssätzen durch Erziehung und Sozialisation verschüttet und versperrt. Es lohnt sich jedoch, an diesem Weg dranzubleiben, denn in unserem Selbstkern sind Kostbarkeiten verborgen, die wir als Schatzsucher bei uns und bei jedem Menschen und in jeder Lebensphase finden können. Das bewirkt unvergänglichen Reichtum und führt zur Lebendigkeit.

Wer das hier vorgestellte Konzept der achtsamen Begleitung von Menschen mit Demenz, also den Blickrichtungswechsel zukünftig mittragen, verbreiten und weiterentwickeln möchte, sei insbesondere auch auf das Nachwort und das dort zu findende Angebot für zukünftige Multiplikatoren hingewiesen (vgl. Seite 170).

Abschließend noch ein formaler Hinweis: Die hier abgedruckten Textinhalte sind oft mündlich überliefert, sie sind Fragmente aus Gesprächen oder auf eigene Notizen von Seminaren der Fort- und Weiterbildung zurückzuführen. Das ist der Grund, weshalb darauf verzichtet wurde, den Texten ein umfassendes Literaturverzeichnis anzufügen und nicht in jedem Fall nachgetragen werden können. Ich bitte hierfür um Verständnis.

Essen, im Oktober 2014

Brigitta Schröder

1     Erhältlich ist das Werk inzwischen in 3. Auflage (2014) im Verlag W. Kohlhammer.

 

 

 

 

Basismodul – Menschen mit Demenz achtsam und wertschätzend begleiten

Einleitung

 

 

Das Basismodul »Menschen mit Demenz achtsam und wertschätzend begleiten« belebt Gefühle, ermutigt, Grenzüberschreitungen zu wagen, um Schatzfinder bei sich und anderen zu sein.

Der Zugang zu sich selbst ist oft versperrt durch Erziehung, Sozialisation und starken Prägungen. Mit Neugierde, Phantasie, Kreativität und Flexibilität ist dieser Weg zu gestalten, um mit steten, kleinen Schritten dranzubleiben und weiterzugehen. Das Gewohnte, Eingeprägte und das Gesellschaftskonforme verblassen und verlieren an Bedeutung. Die stereotypen Fragen, die tief bei uns verwurzelt sind – »Was sagen bloß die anderen?« –, verlieren an Kraft.

Die eigenen Gefühle, auch die unangenehmen, sind wahrzunehmen, zu bejahen, um einen adäquaten Umgang mit den oft verdrängten, verneinten Emotionen einzuüben. Das stärkt das Selbstwertgefühl, fördert die Eigenverantwortung und bewirkt Authentizität.

»Achtsam und wertschätzend begleiten« beginnt bei jedem Menschen persönlich. Das bedeutet, nur wenn ein achtsamer und selbstliebender Umgang mit sich selbst eingeübt wird, entsteht die Basis, andere Menschen – und besonders solche mit Demenz – wertschätzend zu begleiten. Das Helfersyndrom, sowie die falsch verstandene Betreuung, erhalten dadurch keinen Raum.

Schon in der Bibel steht der Vers »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Der erste Teil des Verses ist vertrauter als der zweite. Das »wie dich selbst«-Lieben wird kaum eingeübt. Stattdessen wird dafür häufig ein »Eigenlob stinkt« verbreitet, um einem tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen »Egoismus« zuvorzukommen. Was heißt sich selbst lieben? Das ist viel schwieriger als wir ahnen und hat nichts mit Egoismus zu tun. Der Mut fehlt, sich selbst zu sein, sich selbst zu vertrauen und mit sich selbst achtsam, fehlerfreundlich umzugehen. Meistens sind wir unsere eigenen größten Kritiker.

»Eigenlob stimmt!« zu leben ist eine anstrengende Obliegenheit, denn es geht auch darum, unsere eigenen Grenzen und blinden Flecken, unsere Biografie mit ihren möglichen Verletzungen, Traumata und Prägungen zu bejahen, zu dieser zu stehen und sie anzunehmen. Gelingt uns dies, bewirkt dies eine Haltung, die zur eigenen Wertschätzung führt, die Fehlerfreundlichkeit fördert sowie zur Akzeptanz und Toleranz auch dem Nächsten, ja dem Kontrahenten gegenüber führt. Das heißt nicht alles zu bejahen oder sich hinter Aussagen zu verstecken: »Wir sind ja alles nur Menschen« oder »Wir können nichts machen«, sondern hellhörig zu sein, um missachtende, gewaltausübende Strukturen und belastende Abhängigkeiten zu verhindern.

Die folgenden Texte sollen ermöglichen, sich selber auf die Schliche zu kommen, um eine eigenverantwortliche, umsetzbare Haltung durch Selbsterlernen mit Selbstreflexion immer wieder neu leben zu lernen. Auch wird aufgezeigt, wie sich das »Ich« entwickelt und das »Selbst« zu befreien ist.

Das Kapitel »Leitgedanken« bildet die Basis für die folgenden fünf Einheiten, die als Ziel haben, die oft verkümmerten emotionalen Ebenen zu beleben. Die fünf Einheiten lauten:

•  Spielvarianten

•  Kommunikationswege

•  Berührungsformen

•  Kreativitätsangebote

•  Musik – Bewegung – Lachen

Diese Einheiten motivieren in Offenheit, sich mit Veränderungsprozessen auseinanderzusetzen, um einen Blickrichtungswechsel vorzunehmen. Dieser beschwerliche Weg ist individuell zu gehen. Er kommt häufig der Aufgabe nahe, aus einem halbleeren Glas ein halbvolles zu machen. Die Entscheidung, diese Aufgabe positiv anzunehmen, trifft jeder selbst, denn sie liegt stets in unserer eigenen Verantwortung.

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Der Weg ist schwer! Wie kann ich ihn leichter machen?

Das Leitmotiv des gemeinsamen Weges wird in folgender Nacherzählung verdeutlicht.

Die Steinsuppe

Auf dem Dorfplatz sitzt eine hoffnungslos traurige Gruppe. Die Menschen sind entmutigt, denn neben ihren täglichen Sorgen leiden sie auch an Hunger. Eine alte, fremde, fast unscheinbare Frau tritt in ihre Runde. »Was macht ihr für Gesichter, was ist los?«, fragt sie mit klarer Stimme. Die Anwesenden erschrecken und erzählen von ihrem Hunger und den wiederkehrenden Sorgen. Die alte Frau hört aufmerksam und anteilnehmend zu. Nach geraumer Zeit greift sie in ihre Tasche und sagt: »Hier habe ich einen Suppenstein. Wer holt einen Topf, wer bringt Wasser, wer facht ein Feuer an?« Verwundert blicken sich die Angesprochenen an, überlegen und machen sich auf den Weg. Nach einiger Zeit beginnt das Wasser im herbeigeschafften, großen Topf zu kochen. Vorsichtig legt die Fremde den Suppenstein hinein. Bedächtig rührt sie das kochende Wasser und fragt: »Wer hat Kartoffeln, Möhren, Kohl, Zwiebeln?« Wiederum machen sich Einige auf den Weg. Die eine bringt sogar Getreide mit und eine andere hat nichts anderes als Salz. Die Augen der Fremden leuchten. Andächtig rührt sie in der Suppe und ruft begeistert: »Kommt, esst von dieser Köstlichkeit.«

Lasst uns das Leben lieben, lasst uns die Liebe leben!

Quelle unbekannt

1          Leitgedanken

 

 

1.1       Selbsterlernen

Selbsterlernen bedeutet ein unabhängiges Lernen. Es meint die Fähigkeit, alle notwendigen Maßnahmen selbstständig zu gestalten, um die Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu übernehmen. Das stärkt die Eigenständigkeit, die Motivation und den Lustfaktor. Diese Lernformen beginnen bei jedem persönlich. Erste Schritte sind deshalb, das schulische Lernen zu verlernen, das heißt sich vom bislang Erlebten zu distanzieren. Das ist oft mit rationalen, sachbezogenen Beurteilungen wie »richtig« oder »falsch«, mit selbstvernichtenden, moralischen Bewertungen wie »genügend« oder »ungenügend« verbunden, mit Leistungsdruck oder mit nur Vermittlung reiner Wissensinhalte.

Eingeprägte Verhaltensweisen sind loszulassen. Wichtig ist der experimentierfreudige Anfang, Neues zu wagen, Neugierde zu wecken, Lernbereitschaft zu entwickeln, um unbekannte, ungewohnte Wege zu gehen.

Der Umgang mit Menschen mit Demenz bedeutet, sich für völlig neue Denk- und Handlungsmuster zu öffnen, um sich auf deren Daseinsebene zu bewegen.

Auf den ersten Blick ist es beängstigend, bekannte Pfade zu verlassen, dennoch ist der Weg kraftspendend und belebend.

Folgender Text von Bertolt Brecht ermutigt, das Lernen in jeder Lebenslage einzuüben, um selbstverantwortlich, flexibel und individuell den Lernweg zu suchen und zu gehen.

Lob des Lernens

Lerne das Einfachste! Für die,

deren Zeit gekommen ist,

ist es nie zu spät!

Lerne das Abc, es genügt nicht,

aber lerne es!

Lass es dich nicht verdrießen!

Fang an! Du musst alles wissen!

Du musst die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl!

Lerne, Mann im Gefängnis!

Lerne, Frau in der Küche!

Lerne, Sechzigjährige!

Du musst die Führung übernehmen.

 

Suche die Schule auf, Obdachloser!

Verschaffe dir Wissen, Frierender!

Hungriger, greif nach dem Buch:

Es ist eine Waffe.

Du musst die Führung übernehmen.

 

Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!

Lass dir nichts einreden,

sieh selber nach!

Was du nicht selber weißt, weißt du nicht.

Prüfe die Rechnung, du musst sie bezahlen.

Lege den Finger auf jeden Posten,

frage: Wie kommt er hierher?

Du musst die Führung übernehmen.

Bertolt Brecht2

Jede Strophe dieses Textes endet mit dem eindringlichen Appell: »Du musst die Führung übernehmen«, das heißt, ich bin zuständig für meine Lebensgestaltung und übernehme die Verantwortung. Ich bin Gestalter meiner Gedanken, meiner Gefühle, meines Handelns und somit Lebensgestalter und kein Opfer. Die Aussage: »Der hat mich verletzt!« wandelt sich in: »Ich habe mich verletzen lassen«. Zeige ich mit dem Finger auf andere, weisen drei Finger auf mich selbst zurück. Das zeigt, wie wichtig es ist, immer bei sich selbst anzufangen.

Ich bin nie allein, sondern immer mit mir zusammen. Deshalb ist es so wichtig, einen wohltuenden Umgang mit sich selbst einzuüben und zu lernen, sich selbst auszuhalten.

Früher: Eigenlob stinkt!

Heute: Eigenlob stimmt!

Eigenlob bedeutet, dass ich liebevoll, mir entgegenkommend mit mir umgehe, auch mit meinen Ecken und Kanten, mit meinen Sonnen- und Schattenseiten. Das heißt, ich wertschätze mich in meiner »Bruchstückhaftigkeit«, ich nehme mich an und bejahe mich, mit meinen Gaben, Fähigkeiten, aber auch mit meinen Grenzen und Unzulänglichkeiten. Aus dem kraftvollen Zusammenspiel von Sonnen- und Schattenseiten wächst die eigene innere Kompetenz.

Im Umgang mit Menschen mit Demenz besteht die Gefahr, sie stets umsorgen und betreuen zu wollen und sich dabei aufzuopfern. Ich meine es gut, aber es tut nicht gut! Außendruck gibt Innendruck, deshalb brauche ich einen Ausdruck. Ich bin in Gefahr zu schlucken, statt auf meine Gefühle zu achten und ihnen Raum zu geben. Die Rechnung geht nur dann auf, wenn ich gut für mich selber sorge. Geht es mir gut, geht es auch meiner Umgebung gut. Es ist eine stetige Herausforderung, sich selber lieben zu lernen. Das ist die Voraussetzung dafür, Menschen mit Demenz, die in einer anderen Seins-Ebene leben, achtsam und wertschätzend begleiten zu können. Die Gelassenheit bekommt Raum, weil das Einlassen, das Loslassen und die Verhinderung des Verlassenwerdens immer wieder eingeübt wird. Ist es bekannt, dass in der afrikanischen Kultur Menschen mit Demenz als Halbgötter verehrt werden? Weshalb hat in unserem Kulturkreis diese Sichtweise keinen Raum?

Nochmals: Geht es mir gut, geht es auch meiner Umgebung gut. Auf diesem Weg komme ich immer mehr zu mir selbst, zu meinem inneren Kern. Der Text »Die Kraft im Menschen« verstärkt diese Aussage.

Die Kraft im Menschen

Ein orientalisches Märchen erzählt von Göttern, die zu entscheiden versuchen, wo sie die Kraft des Weltalls verstecken sollen, so dass der Mensch sie nicht finden und zerstörerisch verwenden kann.

Ein Gott sagte: »Lasst sie uns auf dem Gipfel des höchsten Berges verstecken.« Sie entschieden, dass der Mensch schließlich den höchsten Berg besteigen und die große Kraft finden würde.

Ein anderer Gott sagte: »Lasst uns die Kraft auf dem Grund des Meeres verstecken.« Wiederum entschieden sie, dass der Mensch schließlich auch die Tiefe der See erforschen würde.

Ein dritter Gott schlug vor: »Lasst uns die Kraft des Weltalls in der Mitte der Erde verstecken.« Aber auch dieser Vorschlag fand keine Zustimmung, weil sie befürchteten, dass der Mensch irgendwann auch dorthin finden würde.

Schließlich sagte der weiseste Gott: »Ich weiß, was zu tun ist. Lasst uns die Kraft des Universums im Menschen selbst verstecken. Er wird niemals daran denken, dort danach zu suchen.« Und so versteckten sie tatsächlich die Kraft des Universums im Menschen selbst. Ganz tief im Menschen.

Quelle unbekannt

Bin ich bereit, in die Rolle des Schatzgräbers zu schlüpfen?

1.2       Grunddynamik des Lebens

Eine große Lebenskunst ist darin zu erkennen, dass Gegensätze durch die Spannung ihrer Unvereinbarkeit zusammengehalten werden. Sie gewinnen ihre Wirkkraft aus der Beziehung zum Gegensatz, der durch die Spannung die Energie trägt, die nötig ist, einmal das eine oder das andere zu tun. Diese Einsicht verhindert das falschverstandene, weitverbreitete Harmoniebedürfnis.

Gegensatzpaare sind:

      Festhalten – Loslassen

      Einatmen – Ausatmen

      Nähe – Distanz

      Nehmen – Geben

      Spannung – Entspannung

Spannung und Entspannung sind einzuüben. Loslassen und Festhalten sind in der Begleitung bei Menschen mit Demenz besonders zu beachten, denn sie sind eine stete, sich wandelnde Herausforderung. Was jetzt richtig ist, kann im nächsten Augenblick das Gegenteil bewirken. Den eigenen Gefühlen vertrauen, intuitiv handeln, vor allem sich authentisch verhalten ist die Basis eines unbelasteten Miteinanders. Loslassen heißt nicht fallenlassen, sondern achtsam die Umklammerung lösen. Nur leere Hände können neu gefüllt werden.

1.3       Lebensbalance einüben

Die Lebensbalance ist eine Haltung, die unterstützt, Stressfallen und Burnout-Symptome zu umgehen. Die richtige Balance zu finden und zu erspüren, wann was dran ist, ist ein lebenslanges Einüben.

Folgende Erzählung zeigt anschaulich auf, wie vorzugehen ist.

Vom schwarzen und weißen Vogel