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Von Andrea Conrad bereits erschien:

Gefährliche Liebe unter dem Hakenkreuz.

ISBN 978-3-86361-319-8 Auch als E-book

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de

Originalausgabe, Oktober 2014

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

 

Coverfoto: Coverfoto: © Fotolia.de

 

Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus. 

 

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-418-8

ISBN epub 978-3-86361-419-5

ISBN pdf: 978-3-86361-420-1

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Personen

 

 

 

Alles könnte perfekt sein

„Die Zeit des Tauschhandels ist lange vorbei, Heinrich. Wir haben den achten Oktober 1955 - eine neue, stabile Währung und das Wirtschaftswunder greift auch langsam hier in Mainz“, sagte Richard, während er sich streckte. Es war jetzt die fünfte Position, an die sie das neue Büfett geschoben hatten.

„Ich weiß, Herr Lehrer“, entgegnete Heinrich und stützte sich grinsend an der Seitenwand des Möbelstücks ab. „Aber ich konnte nicht nein sagen, als Frau Längler mir vorgeschlagen hat, dass ich das Büfett als Bezahlung für die Portraitaufnahmen nehmen soll. Das gute Stück ist einfach zu schön.“

„Du hast ja recht. Aber warum ist dir nicht vorhin eingefallen, dass es an dieser Wand hier besser steht?“ Richard schob sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Da waren noch die beiden jungen Männer da, die es angeliefert haben.“

„Da schien die Sonne nicht. Erst jetzt mit dem Einfall des Lichts kann ich sehen, dass es an der Wand besser wirkt. Und jetzt komm. Noch einen Ruck und wir haben es.“ Er bückte sich wieder.

„Das ist keine Fotografie, die ausgeleuchtet werden muss“, sagte Richard lachend und packte mit an. Mit vereinten Kräften schoben sie das Büfett das letzte Stück bis an die Wand.

„Perfekt!“ Heinrich machte einen Schritt zurück und besah sich sein neues Möbelstück. „Besser könnte es nicht sein. Möchtest du auch ein Glas Wasser?“

„Das ist das mindeste, was du mir anbieten kannst, damit du die Schufterei wieder gut machst.“ Richard sah schelmisch zu seinem Freund hinüber, der sich umdrehte und in die Küche ging.

Er legte eine Hand auf den neuen Schrank und atmete erst mal durch. Das Büfett erinnerte ihn an Heinrichs Onkel. Ein Änliches hatte in dessen Wohnung gestanden, als er damals nach dem Unfall von ihm behandelt wurde. Durch den Unfall, im Frühjahr 1933, hatten er und Heinrich sich kennengelernt – sich ineinander verliebt.

„Hier.“ Heinrich hielt ihm ein Glas hin. Es war beschlagen von der Kälte des Wassers. „Wo bist du wieder mit deinen Gedanken?“

„Ich musste gerade an deinen Onkel denken. Ein ähnliches Büfett stand in seinem Wohnzimmer“, sagte er und leerte dann das Glas in einem Zug.

„Stimmt.“ Heinrich trank einen Schluck. „Weißt du was, Richard. Als Dank für deine Hilfe lade ich dich heute Abend zum Essen ein. Lass uns mal wieder in das kleine Weinlokal um die Ecke gehen.“

„Wirklich? Von mir aus gerne.“ Richard strahlte ihn mit seinen blauen Augen an. Es war lange her, dass sie gemeinsam ausgegangen waren. In den letzten Monaten hatte Heinrich sich komplett seiner Weiterbildung als Fotograf verschrieben und begonnen, Aufnahmen für die Herausgabe eines Bildbandes zu machen. „Ich mache mich nur schnell frisch. Dann können wir los.“

„Warte noch.“ Heinrich hielt ihn am Arm fest, legte ihm die Hand in den Nacken und gab ihm einen Kuss. „Danke für die Hilfe.“

„Bei der Bezahlung, gerne.“

Lachend ging er in Heinrichs Arbeitszimmer und die Wendeltreppe nach unten in seine Wohnung. Es war ein Segen, dass Heinrich nach dem Krieg dieses Haus hier in der Mainzer Innenstadt gekauft hatte. Im Erdgeschoss befand sich sein Fotogeschäft. Die Wohnung im ersten Stock hatte Richard offiziell von ihm gemietet. Von hier aus war er mit dem Fahrrad in zwanzig Minuten in der Volksschule, an der er unterrichtete. Die Wohnung im zweiten Stock war Heinrichs Reich. Die kleine Wohnung unter dem Dach bewohnte Fräulein Sophie Immerin, ein junges Mädchen aus Richards Heimatort, das eine Ausbildung zur Verkäuferin hier in Mainz absolvierte. Von der Wendeltreppe, die beide Wohnungen in eine verwandelte, wussten die wenigsten Menschen. So konnten sie nach außen hin den Schein wahren. Ein bitteres Possenspiel – aber unabdingbar. Richard warf einen kurzen Blick auf den Stapel Klassenarbeiten, die auf seinem Schreibtisch auf ihn warteten. Er würde wohl einen Teil des Sonntags opfern müssen, um sie zu korrigieren.

„Was soll’s“, sagte er zu sich selbst, ging dann in sein Schlafzimmer mit dem angrenzenden Bad und zog sein Hemd aus. Er freute sich darauf, mal wieder einen geselligen Abend mit Heinrich zu verbringen. Kurz begutachtete er sein Gesicht im Spiegel. Nächsten Mittwoch würde er neununddreißig Jahre alt werden. Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild. Nein, die Anzeichen des Alters schienen noch gut verborgen. Im Gegensatz zu Heinrichs brauen Haaren zeigten sich bei ihm noch keine Anzeichen von grauen Strähnen. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und wusch sich dann seinen Oberkörper. Sich mit dem Handtuch abtrocknend, ging er zurück in sein Schlafzimmer. Vor seinem Schrank blieb er stehen und überlegte, was er anziehen sollte. Durch die offene Tür zu seinem Arbeitszimmer drang leise klassische Musik zu ihm hinunter. Heinrich hatte das alte Grammophon angestellt. Mit Rauschen untermalt, erschallte Beethovens 9. Symphonie. Richard summte mit und holte ein weißes Hemd aus dem Schrank. Langsam begann er die Knöpfe seines Hemdes zu schließen. Einen nach dem anderen, während er sich von der Musik mitnehmen ließ. Er dachte über ihre Situation nach. Im Vergleich zu anderen homosexuellen Paaren ging es ihm und Heinrich blendend. Keiner der Nachbarn und entfernten Bekannten ahnte etwas – hatte Kenntnis von der Treppe. Trotzdem verzweifelte er manchmal an ihrer

Situation. Zu gerne hätte er seine Gefühle für seinen Freund in der Öffentlichkeit gezeigt. Die Engstirnigkeit der Menschen hinderte sie beide daran, hielt sie davon ab, sich offen zu geben. Er schüttelte den Gedanken ab. Den heutigen Abend wollte er in vollen Zügen genießen. Er zog seine Schuhe an, griff nach dem Portemonnaie, seiner Jacke und zog den Schlüssel aus dem Schloss. Wie vereinbart kam Heinrich in dem Moment die Stufen im Treppenhaus nach unten, als Richard seine Wohnungstür abschloss.

„Können wir?“

„Ja.“ Richard nickte zustimmend und ging dann hinter Heinrich die alte Treppe nach unten. In den vier Jahren, die sie jetzt hier gemeinsam wohnten, hatte er gelernt, welche der alten Holzstufen knarrte und welche nicht. Von der gewohnten Musik unter seinen Füßen begleitet und mit Beethovens Symphonie im Ohr trat er ins Freie. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Die laue Luft umfing ihn, als er auf der Straße stand und darauf wartete, dass sein Freund die Haustür abschloss. Gemeinsam gingen sie in Richtung Weinlokal.

„Guten Abend, Herr von Wiesbach. Herr Rosenberg.“ Die Eheleute Veith, die sich für einen Abendspaziergang bereitgemacht hatten, grüßten sie. Herr Veith hob seinen Hut an. Heinrich wiederholte die Geste, während Richard freundlich nickte. Im Gegensatz zu ihm machte Richard sich nichts aus Hüten. Er liebte es, wenn ihm der Wind durch die Haare fuhr. Heinrich war zu sehr der Aristokrat, um sich seine Haare vom Wind durcheinander bringen zu lassen. Im Lokal angekommen setzten sie sich an einen kleinen Tisch in der Ecke.

„Es ist lange her, dass wir beide hier waren“, sagte Richard, als er sich setzte.

„Guten Abend, die Herren.“ Die Wirtin begrüßte beide mit Handschlag. „Schön, dass Sie uns mal wieder beehren. Wir haben heute einen leckeren Schweinebraten mit Knödeln auf der Karte. Dazu einen schönen leichten Rotwein. Oder frisch gemachten Spundekäs mit einem herrlich spritzigen Weißwein.“

„Letzteres für mich bitte“, sagte Richard. Es kam nicht oft vor, dass er sich an die Regeln des jüdischen Glaubens hielt, aber heute war Sabbat. Zumindest in dieser Hinsicht wollte er den Tag entsprechend begehen.

„Ich nehme den Braten. Allerdings keinen Rotwein dazu. Für mich bitte einen Rosé“, beantwortete Heinrich das Angebot der Wirtin.

„Gerne, die Herren. Marie, du solltest doch längst oben sein.“ Sie sah ihre Tochter streng an, die sich an den Tisch gedrängt hatte. Zwei blaue Augen einer 10-jährigen strahlten Richard an.

„Hallo, Herr Rosenberg.“

„Hallo, Marie“, begrüßte er seine Schülerin.

„Haben Sie meine Arbeit schon korrigiert?“ Sie strahlte Richard an, während sie verlegen den Saum ihres Kleides in den Händen drehte.

„Marie, lass dein Kleid in Ruhe und Herrn Rosenberg seinen Frieden.“

„Aber, Mama ...“, setzte das Kind zum Protest an.

„Nein, Marie. Ich bin noch nicht dazu gekommen“, kam Richard ihr zu Hilfe. „Ich verspreche dir, Dienstag, wenn wir wieder Geschichte haben, gebe ich sie zurück.“

„Ich ...“

„Jetzt ist aber gut, Marie. Mach endlich, dass du nach oben kommst. Es ist spät genug.“ Bestimmend schob Frau Ende ihre Tochter aus der Gaststube und machte sich daran, die Bestellung auszuführen.

Richard ließ den Blick durch das Lokal streifen, betrachtete die anderen Gäste, grüßte hier Bekannte, dort Eltern von Schülern. Heinrich beobachtete ihn dabei. Wenn er an die Zeit zurückdachte, als sie sich kennengelernt hatten. Als der fürchterliche Verkehrsunfall sie zusammenführte. Damals war Richard ihm mit dem Fahrrad in den Wagen gefahren und der leicht humpelnde Gang seines Freundes erinnerte ihn immer wieder an Sekunden der Unaufmerksamkeit. Es hatte lange gedauert, bis er seine Schuldgefühle deswegen abgelegt hatte. Fast so lange, wie es dauerte, bis er seine Gefühle für Richard zuließ. Nachdem sein Vater ihm damals in Berlin auf die Schliche gekommen war, dass er eine Beziehung zu einem Mann hatte, und ihn hier nach Mainz strafversetzt hatte, musste er ihm versprechen – ihm hoch und heilig schwören – dass er diesem widerwärtigen Trieb nie wieder nachgeben würde. Dann hatte er Richard kennengelernt. Jung und unerfahren im Leben und vor allem unerfahren in der Liebe war er damals - gerade erst das Abitur bestanden.

„Es muss fürchterlich sein, wenn man zehn Jahre nach Kriegsende erst wieder nach Hause kommt.“

Richards Bemerkung brachte Heinrichs Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück. „Was meinst du?“

„Der Zeitungsartikel.“ Er deutete auf einen Mann, der zwei Tische weiter die Tageszeitung hochhielt und las. Eine fettgedruckte Schlagzeile war deutlich zu sehen: Die ersten 600 Spätheimkehrer gestern eingetroffen. „Ich habe den Artikel vorhin gelesen. Dass Adenauer es wirklich geschafft hat, die letzten Kriegsgefangenen heimzuholen. Das ist schon eine enorme Leistung.“

Heinrich nickte. „Unglaublich, wenn man bedenkt, dass noch 10.000 Männer in sowjetischer Gefangenschaft sind.“ Er trank einen Schluck Wein und sagte dann: „Was hältst du davon, wenn wir morgen einen Ausflug machen?“

„Gerne. Wir könnten Silke besuchen.“ In Richards Augen schimmerte das Licht der untergehenden Sonne, als er antwortete. „Wir sind seit Wochen nicht mehr im Weingut gewesen. Silke freut sich bestimmt, wenn wir kommen.“

„Eine gute Idee. Vielleicht haben sie ja auch noch etwas von dem Riesling. Der Vorrat geht langsam zur Neige.“

„Ich denke, du wirst bis zur nächsten Abfüllung warten ...“, setzte Richard an, als er unterbrochen wurde.

„Hallo, Heinrich. Herr Rosenberg.“

Richard nickte förmlich, als er Heinrichs Kollegen erkannte und dieser sich zu ihnen an den Tisch setzte. Günther war ihm eigentlich nicht unsympathisch, allerdings wusste er, wie der restliche Abend nun verlaufen würde.

„Günther, schön dich zu sehen“, begrüßte Heinrich ihn.

„Ich habe vorhin die Wettervorhersage gehört. Es soll morgen einen schönen Tag geben und somit stehen die Chancen gut für einen traumhaften Sonnenaufgang. Ich wollte morgen früh zeitig los und Bilder machen. Ich habe mir die neue Nikon S2 ‘chrome dial’ gekauft. Sie ist seit vergangenem Dezember auf dem Markt. Komm doch mit. Du kannst sie dann auch gerne ausprobieren. Das gibt bestimmt tolle Aufnahmen für dein Buch. Du arbeitest doch noch daran, Heinrich?“

„Das kann man wohl sagen“, murmelte Richard verstohlen in sein Glas. Als er das Leuchten in Heinrichs Augen sah, sagte er etwas lauter: „Vergiss nicht, dass du morgen noch einen Termin hast.“

„Das eine schließt das andere ja nicht aus, Richard“, erwiderte Heinrich. „Ich gehe morgens mit Günther die Bilder machen und dann habe ich nachmittags noch Zeit genug. Wo willst du denn hin, Günther? Hast du eine bestimmte Stelle im Blick?“

Richard lehnte sich zurück und trank einen Schluck von seinem Wein. Er freute sich für Heinrich, dass er seinen Erfolg als Fotograf so kontinuierlich steigern konnte. Es war schwer gewesen in den Jahren nach dem Krieg. Erst mit dem Beginn des Wirtschaftswunders waren die Menschen wieder in der Lage, ihr Geld für andere Dinge als Wohnung, Kleidung und Essen auszugeben. Langsam stieg das Verlangen nach Luxusgütern an. Aber Heinrich hatte es trotzdem geschafft. Das Vermögen, das er von seinem Vater geerbt hatte, war eine gute Grundlage gewesen.

Unlustig stocherte Richard in seinem Essen herum, das vor ihm stand. Ahnte er doch, was am Sonntag auf ihn zukam. Wahrscheinlich so, wie so viele Tage in der letzten Zeit. Heinrich machte sich hungrig über seinen Braten her und fachsimpelte mit Günther über die neuesten technischen Errungenschaften der Nikon S2. Richard nahm einen weiteren Schluck und zuckte jäh zusammen. Er stand auf und griff dann nach der Serviette, um sich den Wein von der Hose zu wischen.

„Alles in Ordnung?“ Heinrich sah ihn überrascht an.

„Ich ... ich weiß nicht.“ Er sah wieder an die Tür. Aber da stand niemand mehr. Er war sich sicher gewesen, dass er dort jemanden gesehen hatte, den er in diesem Leben nicht mehr sehen wollte. Aber jetzt erblickte er nur das blanke Türblatt.

„Richard, ist wirklich alles in Ordnung?“ In Heinrichs Augen lag Besorgnis. Sein Freund war schlagartig blass geworden.

 

Es war bereits dunkel, als sie das Lokal verließen und die angenehm frische Nachtluft einatmeten.

„Lass uns doch noch ein Stück am Rhein entlang gehen, Heinrich.“

Sie liefen nebeneinander her und sahen auf das ruhig dahinfließende Wasser und die Lichter von Wiesbaden, die sich darin spiegelten.

„Was war denn vorhin los, als du so erschrocken warst?“, nahm Heinrich das Ereignis von vor Stunden wieder auf.

„Nichts. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Aber ich habe mich wohl getäuscht“, antwortete Richard, obwohl ihm etwas sagte, dass er sich nicht getäuscht hatte.

Sie gingen weiter. Vom Fluss zurück in die Stadt. Die restlichen Trümmergrundstücke ragten wie stumme Mahnmale an den Krieg in den Nachthimmel. Im Haus angekommen betrat jeder routinemäßig seine eigene Wohnung, um sich dann im zweiten Stock zu einem weiteren Glas Wein zu treffen. Heinrich kam gerade mit einer Flasche und zwei Gläsern an den Wohnzimmertisch, als das Telefon einmal klingelte und dann wieder erstarb. Beim zweiten Signalton gab er Richard ein Zeichen, das Gespräch entgegenzunehmen. Dieses Zeichen hatten sie mit Silke vereinbart. So wussten sie, dass es Richards Schwester war, die anrief, und es irrelevant war, wer von beiden an den Apparat ging.

„Hallo Silke. - Ja, es geht uns gut. Wir sind gerade heimgekommen. - Wirklich? Der alte Brummbär kommt nach Deutschland. Wann gedenkt unser großer Bruder denn zu kommen? - Du, hör mal. Das kannst du mir morgen alles ausführlich erzählen. Heinrich und ich wollen kommen. - Nein, genau kann ich dir das noch nicht sagen. Ich gebe dir morgen rechtzeitig Bescheid. - Ja, dir auch noch einen schönen Abend und sag Edgar einen Gruß und gib vor allem meiner bezaubernden Nichte ein Kuss von mir.“

„Samuel will zu Besuch kommen“, erläuterte Richard das Telefonat, nachdem er aufgelegt und neben Heinrich auf der Couch Platz genommen hatte.

„Wann?“ Heinrich schenkte ihnen ein und reichte seinem Freund ein Glas.

„Das wusste Silke noch nicht genau. Aber sie meinte bald.“

„Gott. Dann muss ich mich wohl für eine geraume Zeit unsichtbar machen.“ Er verzog halb belustigt das Gesicht. In den Augen des ältesten Rosenberg war er der Schuldige, der seinen Bruder der Homosexualität zugeführt hatte. Heinrich wusste, dass Samuel der festen Überzeugung war, wenn er aus Richards Leben verschwinden würde, könnte dieser wieder zu normalen Bahnen zurückfinden.

„Du bist so schon unsichtbar genug. Mehr ertrag ich nicht mehr.“ Richard kuschelte sich an Heinrichs Seite, ließ sich von ihm in den Arm nehmen und sog den Geruch seines Freundes ein.

„Musik?“

„Nein.“ Er hielt Heinrich am Arm fest, als dieser sich erheben wollte. „Bleib einfach hier. Wir haben in letzter Zeit so wenig voneinander. Und jetzt willst du morgen schon wieder in aller Frühe los. Der einzige Tag, an dem wir ausschlafen können. Den Morgen zu zweit genießen. Uns treiben lassen können.“ Er wusste, dass er den Vorwurf nicht aus seiner Stimme heraushielt.

„Versteh mich doch. Das Buch ist wichtig für mich. Es kann mir ganz neue Türen öffnen. Mir neue Kunden bringen. Bessere Kunden – zahlungskräftigere Kunden. Die letzten Jahre seit dem Krieg haben meine Kasse ziemlich geschmälert. Es ist ja auch zu deinem Vorteil.“

„Mir reicht unser Geld.“ Richard setzte sich auf und stellte sein Glas eine Spur zu hart auf den Tisch. „Ich brauche nicht noch mehr. Es vergehen oft Tage, ohne dass wir Zeit füreinander haben. Meist bist du bis spät am Abend in deiner Dunkelkammer und dann müde und erschlagen von der Arbeit.“

„Aber“, Heinrich legte dem aufgebrachten Richard beschwichtigend die Hand auf den Arm, begann mit den Fingern über den Stoff zu streicheln. „Wenn das mit dem Buch so funktioniert, wie ich mir das vorstelle, können wir uns einen richtig großen Urlaub leisten. Wer weiß, vielleicht können wir Samuel in Palästina bald einen Gegenbesuch abstatten.“

„Damit er dich öffentlich an den Pranger stellt? Du machst wohl Witze.“ Richard schob Heinrichs Hand weg und stand auf. „Außerdem heißt es seit fast zwei Jahren Israel und nicht mehr Palästina.“

„Ich weiß, Herr Lehrer.“ Heinrich war hinter ihn getreten und legte seinen Arm über Richards Brust. Er spürte die angespannten Muskeln. „Es tut mir auch leid, dass ich uns zurzeit so strapaziere. Ich verspreche dir, wenn das Buch abgeschlossen ist, mache ich langsamer.“

Mit der freien Hand fuhr er ihm sanft durch die Haare. Er lächelte, als er merkte, dass Richard den Kopf in die Berührung neigte, die Verspannungen der Muskeln nachließ und er sich gegen ihn lehnte.

Sie blieben eine Zeit lang stehen und sahen auf das nächtliche Mainz. Lauschten der aufkeimenden Stille einer Stadt, die sich langsam zur Nachtruhe begab. Richard legte seine Hände auf Heinrichs Arm und streichelte ihn.

„Du hast mir so gefehlt in der letzten Zeit. Es ist fast schlimmer als damals, als du weg warst. Damals ...“

„Sch... Nicht an vergangene Zeiten denken, Richard.“ Er gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. „Wir haben den Krieg und den ganzen Wahnsinn überlebt. Nur das zählt.“

Richard drehte den Kopf so, dass er Heinrich ansehen konnte. Die letzten Lichter der Stadt leuchteten in den grünen Augen seines Freundes. Er zog das Gesicht dichter zu sich und streichelte mit der Zunge über Heinrichs Lippen. Dieser ging bereitwillig darauf ein. Der Kuss begann zärtlich, wurde fordernder. Langsam machten sich Heinrichs Hände an den Knöpfen von Richards Hemd zu schaffen. Zogen es schließlich aus dem Hosenbund, um dann über seinen Bauch und die Brust zu streicheln. Er drehte ihn zu sich um. Gab ihm einen Kuss auf die Stirn, während er sein eigenes Hemd aufknöpfte. Währenddessen schob sich Richards Hand in den Bund seiner Hose. Heinrich spürte Richards warmen Atem an seinem Hals, als dieser mit den Lippen darüber fuhr, und sein Verlangen, das stärker wurde. Als Richards Finger ihr Ziel erreichten, legte er den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

***

„Es ist doch noch mitten in der Nacht“, brummte Richard in das Kopfkissen, als der Wecker ihn aus dem Schlaf holte.

„Schlaf weiter.“ Heinrich beugte sich über ihn, um dem Schellen Einhalt zu gebieten, und gab ihm einen Kuss auf die Ohrmuschel. „Schlaf weiter. Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück und dann fahren wir zu Silke.“

Die Matratze ächzte leise, als Heinrich sich erhob und aus seinem Schlafzimmer schlich, um seinen Freund nicht weiter als nötig zu wecken. Er war selbst noch reichlich müde. Ein Blick auf die Wohnzimmeruhr zeigte ihm, dass er nur gute vier Stunden geschlafen hatte. Die Vorfreude auf den kommenden Sonnenaufgang und die Möglichkeit, die neue Nikon auszuprobieren, begannen die Schläfrigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben, als er sich wusch und anzog. Dann stellte er seine Ausrüstung zusammen und nahm ein kurzes Frühstück zu sich. Leise ging er aus der Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Richard nahm das Geräusch der sich schließenden Wohnungstür im Unterbewusstsein wahr. Drehte sich zu Heinrichs leerer Seite um und murmelte etwas in das Kissen. Dann fiel er in einen leichten Dämmerschlaf. Plötzlich schreckte er hoch und riss die Augen auf. Sein Pulsschlag hämmerte gegen seine Schläfen. Sein Atem ging stoßweise. Er versuchte ruhiger zu atmen. Mit angezogenen Knien saß er im Bett und bemühte sich, den Grund seiner Aufregung herauszubekommen. Fragmente seines Traumes kamen an die Oberfläche: Die Stelle im Wald, von der aus er mit Silke 1933 per Flugzeug die Flucht aus Deutschland antreten wollte. Heinrich und Samuel, die mit zur Abflugstelle gekommen waren. Und dann – er fröstelte, als das Gesicht deutlich von seinen Augen auftauchte – Siegfried. Heinrichs damaliger Zugführer, der sie mit der Waffe bedroht hatte. Das Gesicht, das er gestern Abend im Lokal gesehen hatte, war anders als das in seiner Erinnerung. Aber die Ähnlichkeit war frappierend. Konnte es sein, dass Siegfried wieder im Land war? Seit er und Silke 1946 zurück nach Mainz gekommen waren, war er ihm nie begegnet.

Er erhob sich, ging ans Fenster und sah hinaus. Es war ein strahlender Sonntagvormittag. Die Luft, die in das Zimmer drang, als er das Fenster öffnete, war angenehm warm, vertrieb die Kälte des Albtraums aus seinen Gliedern. Er verließ Heinrichs Wohnung über die Wendeltreppe und begab sich in sein Badezimmer, um zu duschen und sich anzukleiden. Nach einem knappen Frühstück – der Traum lag ihm wie ein Klotz im Magen – nahm er mit den Heften seiner Schüler auf der Terrasse Platz und begann mit dem Korrigieren der Klassenarbeiten. Die Arbeit verscheuchte seine dunklen Gedanken und er vergaß den Vorfall. Es war bereits weit nach Mittag, als Richard das letzte Heft zuschlug und sich streckte. Er stapelte sie und trug sie in sein Arbeitszimmer. Eine Zeichnung, die Marie ihm in der letzten Unterrichtstunde geschenkt hatte, hefte er mit Stecknadeln an die Wand. Neben die anderen Kunstwerke, die er im Laufe des letzten Schuljahrs gesammelt hatte. Dann nahm er sich ein Buch und vertrieb sich die Wartezeit in der Sonne sitzend mit Lesen. Irgendwann verlor er das Interesse an dem Text und seine wachsende Ungeduld mehrte sich. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es mittlerweile vier Uhr durch war. An einen Besuch bei seiner Schwester war somit nicht mehr zu denken. Er ging ans Telefon und rief sie an. Schließlich verließ er das Haus. Ziellos streifte er durch die Stadt. In seinen Gedanken einen endlosen Diskurs mit Heinrich führend, landete er schließlich am Fluss. Ein frisch verliebtes Pärchen, das kuschelnd und kichernd an ihm vorbeiging, verstärkte das Gefühl des Alleinseins. Er hob einen Stein auf und warf ihn im hohen Bogen ins Wasser und knurrte dabei: ‘Du verdammter Mistkerl’.

„Guten Tag, Herr Rosenberg.“

Richard drehte sich um und begrüßte seine Referendarin, die auf ihn zukam. Sie war seit Anfang des Schuljahres an der Schule und unterstützte ihn in Deutsch und Geschichte. Eine intelligente, hübsche junge Frau mit einer schnellen Auffassungsgabe und der richtigen Hand für die Kinder. Richard schätzte ihre Art.

„Guten Tag, Fräulein Mildenberger.“ Er nickte ihr freundlich zu. „Genießen Sie auch noch den Altweibersommer?“

„Das muss man doch ausnutzen.“ Ruth lehnte sich gegen das Geländer und schob sich eine Strähne hinter das Ohr, die sich aus ihrer Haarspange gelöst hatte. „Ich habe da noch eine Idee bekommen, wie wir den Kindern den Aufbau eines Aufsatzes näherbringen können. Was halten Sie davon, wenn wir ...“

„Was halten Sie davon“, unterbrach Richard sie, „wenn wir dabei ein paar Schritte gehen. Etwas weiter flussabwärts gibt es ein Lokal. Bei einem Glas Wein und etwas zu essen lässt es sich leichter über den Unterrichtsstoff sprechen.“ Langsam meldete sich der Hunger bei ihm. Das Frühstück lag bereits eine geraume Zeit zurück. Gemeinsam gingen sie am Ufer entlang und Richard lauschte Ruths Ideen – bereicherte sie mit seinen Einfällen.

***

Mit mehr Aufnahmen, als er zu hoffen gewagt hatte, und einem schlechten Gewissen Richard gegenüber, schloss Heinrich die Tür zu seiner Wohnung auf. Das Licht der untergehenden Sonne schien durch die Fenster herein und blendete ihn. Er zog den Vorhang zu, stellte seine Ausrüstung ab und ging die Wendeltreppe nach unten. Nach ihm rufend durchquerte er die Wohnung seines Freundes - von Richard keine Spur. Er überlegte, ob er alleine zu Silke gefahren war. Es war ja möglich, dass er den Bus genommen hatte. Zurück in seiner Etage ging er zum Telefon und rief bei ihr an. Sein Anruf blieb unbeantwortet. Unschlüssig, was er tun sollte, betrat er die Küche und öffnete den Schrank mit den Lebensmitteln. Die Ereignisse und die Fülle an neuen Bildern hatten ihn das Essen vergessen lassen. Nun, als er den Tag Revue passieren ließ, begann der Hunger an ihm zu nagen. Mit einer großzügig belegten Brotscheibe in der Hand begann er seine Ausrüstung auszupacken. Die belichteten Filme legte er auf den Esstisch. Sich eine zweite Scheibe belegend, entschloss er sich, die Entwicklung der Bilder direkt in die Tat umzusetzen und nicht bis morgen damit zu warten. Wenn Richard sowieso nicht da war, dann konnte er auch arbeiten. Kauend ging er in sein Geschäft und verschwand in der Dunkelkammer. Im Rotlicht belichtete er das Fotopapier und tauchte die Bilder nach und nach in die verschiedenen Bäder. Langsam entwickelten sich die Aufnahmen, brachten die Stimmungen, die er mit der Kamera seines Kollegen eingefangen hatte, zur Geltung. Als er das letzte Foto vorsichtig mit einer Klammer zum Trocknen an der Leine befestigte, löschte er das Rotlicht und knipste die Neonröhre an. Er blinzelte in die Helligkeit und betrachtete seine neuesten Erzeugnisse. Ein Gefühl des Stolzes breitete sich in ihm aus, als er die Fotografien ansah. Günther hatte nicht zu viel versprochen, was die neue Kamera anging. Damit musste sein Buch ein Erfolg werden. Diese Landschaftsaufnahmen waren einfach zu gut, als dass sie in der Masse untergehen könnten. Er überlegte sich gerade eine Auswahl, welche Bilder er vergrößern sollte, als das wohlvertraute Lied der alten Stufen ihm mitteilte, dass jemand im Treppenhaus war. Da Fräulein Immerin erst morgen wieder von ihren Eltern zurückkommen würde, war ihm klar, wer sich da auf dem Weg nach oben befand. Er unterließ es, bis zum zweiten Stock zu laufen, und klopfte an Richards Wohnungstür, die kurze Zeit später geöffnet wurde.

„Richard, komm mit nach unten. Du musst dir die Bilder ansehen, die ich gemacht habe.“

„Muss ich nicht.“ Richard hatte ihm den Rücken zugewandt und ging bereits in sein Wohnzimmer, ohne ihn weiter zu beachten.

„Bitte, komm mit runter.“ Heinrich folgte ihm.

„Ich will nicht. Deine Bilder interessieren mich genauso viel, wie dich unser gemeinsamer Sonntag interessiert hat.“ Er fuhr herum. „Du hast es vorgezogen, den Tag mit Günther zu verbringen und deiner Leidenschaft zu frönen. Bitte – aber lass mich damit jetzt in Ruhe.“

Der Zorn, der in Richards blauen Augen stand, schlug Heinrich fast ins Gesicht. „Richard, es tut mir leid.“ Er kam einen Schritt auf ihn zu. „Ich habe die Zeit vergessen. Das Licht – die Beleuchtung – die Nikon - waren einfach zu gut, als dass ich die Gelegenheit hätte verstreichen lassen können.“

„Aber die Gelegenheit, mit mir einen Tag zu verbringen, die konntest du getrost verstreichen lassen?!“

„Ich sagte bereits, dass es mir leid tut.“

„Das reicht mir nicht, Heinrich.“

„Ich tue es doch für uns!“ Langsam stieg in ihm ebenfalls Zorn empor.

„Nicht für mich. Du tust es für dich und für dein Ego. Ich brauche nicht mehr Geld, um glücklich zu sein. Mir reicht unser Einkommen. Das habe ich dir gestern schon mal gesagt.“ Richard ging an ihm vorbei in den Flur. Heinrich folgte ihm.

„Verstehst du denn nicht, dass ich das auch für dich tue?“

„Nein, das verstehe ich nicht. Das einzige, was ich verstehe, ist, dass du mehr Zeit mit deinen Fotoapparaten verbringst als mit mir.“

Richard sah ihn wutentbrannt an.

„Wo warst du eigentlich?“

„Es geht dich nichts an, wo ich war. Es hat dich ja auch nicht interessiert, dass ich hier auf dich gewartet habe. Warum sollte ich dir Rechenschaft darüber ablegen, wie ich meinen Abend verbracht habe.“

„Du verdammter jüdischer Dickschädel.“

„Du verfluchter Aristokrat.“

Mit diesen Worten fiel Richards Schlafzimmertür vor Heinrich ins Schloss. Er blieb noch einen Moment davor stehen – überlegte, ob er die Diskussion weiterführen sollte – entschied sich dagegen.