Cover

Schlesien, Sommer 1914. Als Lydia von Gedigk eine Stelle als Erzieherin im Forstschloss von Wölfelsgrund angeboten wird, glaubt sie, dass Gott ihr einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Wäre da nur nicht der dunkle Fleck in ihrer Vergangenheit, der sie wie eine tickende Bombe in den Hochwald begleitet. Muss sie ihren neuen Dienstherrn, Graf Wedell, darüber in Kenntnis setzen? Wie würde er darauf reagieren? Doch kann es ihr überhaupt gelingen, das Geheimnis für sich zu behalten?

Kurz darauf löst das Attentat von Sarajevo den Krieg in Europa aus – und auch im Forstschloss explodiert die Bombe. Lydia sieht die einzige Chance zum Frieden für sich darin, dem Grafen ins Frontgebiet nach Frankreich zu folgen ...

Die Hochwald-Saga spielt in der schlesischen Grafschaft Glatz und der Provinzhauptstadt Breslau. Über drei Generationen, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, wird die wechselvolle Geschichte einer eng mit den schlesischen Wäldern verbundenen Familie erzählt.

Michael Meinert wurde 1979 in Datteln geboren. Er ist verheiratet und lebt heute in Mülheim an der Ruhr. Schon als Kind fand er zum Glauben an Jesus Christus. In der Hochwald-Saga, in der er tiefgehende und aktuelle Glaubensthemen mit der Handlung verwebt, entführt er die Leser ins historische Preußen.

www.michael-meinert.eu

 

Michael Meinert
Die Verstoßene
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Die Bibelzitate sind der Elberfelder Übersetzung (Edition CSV Hückeswagen) entnommen.

Titelfoto: © Lee Avison / Trevillion Images

Autorenfoto: © Tim Fuhrländer

Lektorat: Friedhelm von der Mark

Umschlaggestaltung: DTP-MEDIEN GmbH, Haiger

eBook-Erstellung: ceBooks.de, Alexander Rempel

Paperback:

ISBN 978-3-942258-09-8

Bestell-Nr. 176.809

eBook (ePub):

ISBN 978-3-942258-59-3

Bestell-Nr. 176.859

Copyright © 2019 BOAS media e. V., Burbach

Alle Rechte vorbehalten

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Inhaltsverzeichnis

Buchbeschreibung

Autoreninfo

Impressum

Widmung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Nachwort

Für eine, die Ähnliches erlebt hat wie die Hauptfigur dieser Geschichte. Ohne deine Offenheit und dein Vertrauen wäre dieses Buch nie entstanden. Danke!

Vorwort

1914 in Wölfelsgrund, Vauquois, Varennes-en-Argonne, Neuvilly. Sie wundern sich, warum ich Sie ausgerechnet in Dörfer schleppen will, von denen Sie vielleicht noch nie etwas gehört haben? Und ich kann Ihnen verraten: Es sind wirklich Dörfer, sie alle haben gerade einmal zwischen 100 und 1 000 Einwohner. Sollte ich mit Ihnen im Jahr 1914 nicht lieber nach Berlin, London, Paris und Sankt Petersburg reisen? – Wenn Sie sich mit großer Politik und Diplomatie beschäftigen wollen, haben Sie zweifellos recht. – Wollen Sie aber nicht? Sondern lieber das Schicksalsjahr Europas hautnah erleben? Wie die Leute damals in den kleinen Städten und Dörfern? Dann sind Sie in diesen Orten genau richtig.

Warum ich ausgerechnet diese Orte ausgewählt habe? Wölfelsgrund, dieses 700-Seelen-Dorf am Fuß der Sudeten, etwa 100 Kilometer südlich von Breslau in Schlesien, ist gleichsam der Heimathafen der Hochwald-Saga. Und die französischen Dörfer? – Autoren erzählen zwar viel, aber sie können auch schweigen.

Da Sie nun einmal das Jahr 1914 erleben wollen, gebe ich Ihnen gern etwas Orientierung an die Hand. So finden Sie im Anschluss an das Vorwort eine Karte des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1871 bis 1918, in die auch der ungefähre Verlauf der Westfront (Stand Ende 1914) eingezeichnet ist. Damit Sie mir nicht in Ostfrankreich verloren gehen, versorge ich Sie zudem mit einer Kartenskizze des Grabensystems rund um Vauquois. Und zur Zeit des überbordenden Militarismus dürfen ein paar Soldaten als Geleitschutz natürlich auch nicht fehlen. Damit Sie die Herrschaften richtig ansprechen, liefere ich Ihnen eine Liste der Dienstgrade gleich mit.

Da wir gerade bei der Truppe sind: Für dieses Buch hatte ich eine Menge guter Kameraden, ohne die ich es nie hätte schreiben können. Da ist zunächst der Spieß oder Kompaniefeldwebel. Wie die sogenannte Mutter der Kompanie für geschmeidige Abläufe sorgt, schafft mir meine Frau immer die nötigen Freiräume für Recherche, endloses Hacken auf der Laptop-Tastatur und stundenlange Konferenzen mit dem Herrn Lektor.

Womit wir schon beim nächsten Kameraden sind: dem beinharten Unteroffizier, der jeden Fehler, jede Schwäche aufdeckt und ausmerzt. Das geht – ganz unmilitärisch – nicht ohne Diskussionen ab, aber immer in guter Kameradschaft.

Ganz neu in der Truppe: zwei Gefreite in der Schreibstube. Elisabeth und Johannes haben mein schier unleserliches Manuskript (Manuskript im buchstäblichen Sinne) mühevoll abgetippt und gleich kommentiert. Ein starkes Rückgrat der Armee!

Unverzichtbar: der Geheimdienst. Ich kann gar nicht alle aufzählen, die mir Informationen beschafft haben. Besonders im medizinischen Bereich war viel Spionagearbeit notwendig, aber auch Fragen zu allen möglichen anderen Kleinigkeiten habt ihr mir geduldig beantwortet.

Was wäre eine Armee ohne Sanitätsdienst? Meine Testleserinnen haben für die medizinische Erstversorgung des Manuskripts gesorgt, haben Verbände angelegt, manchmal nur ein Pflaster aufgeklebt oder durch nette Nachfragen den Autor neu motiviert. Ein Hoch auf meine Frontschwestern Franziska, Liliane, zweimal Elisabeth, Catharina und Sarah.

Kurz vor Schluss kommen noch die Pioniere, die sich mit technischem Sachverstand des Buches angenommen haben, als es fast fertig war: die Korrekturleserinnen, die jeden Buchstaben, jedes Satzzeichen auf Rechtschreibung und Grammatik geprüft haben.

Und über allem steht der große Generalfeldmarschall: mein Gott, Herr und Heiland Jesus Christus, von dem alles kommt und für den alles ist. Meine Bitte an Ihn ist, dass er dieses Buch samt seiner Botschaft mit Seinem Segen begleitet.

Wem dient nun diese ganze Heerschar? Natürlich Ihnen, meine Leser. Damit Sie jetzt endlich aufbrechen können, zuerst nach Breslau und dann in die Dörfer und Dörfchen. Na los, blättern Sie schon um!

Mülheim an der Ruhr, im August 2019

Michael Meinert

© Deutsches Historisches Institut, Washington, DC / James Retallack, 2007.

Kartografie: Mapping Solutions, Alaska.

Infanterie der kaiserlichen Armee

Bemerkung

Mannschaftsdienstgrade

Grenadier, Füsilier, Schütze etc.

Gefreiter

Unteroffiziersdienstgrade

Unteroffizier

meist Führer einer Korporalschaft (ca. 30 Mann)

Sergeant

Vizefeldwebel

Feldwebel

Offiziersstellvertreter

Fähnrich

Offiziersanwärter im Rang eines Feldwebels

Offiziersdienstgrade

Feldwebelleutnant

Leutnant

meist Zugführer (bis zu 60 Mann starke Einheit)

Oberleutnant

meist Stellvertreter des Kompaniechefs

Hauptmann

meist Chef einer Kompanie, einer bis zu 250 Mann starken Einheit

Major

meist Kommandeur eines Bataillons, einer etwa 1 000 Mann starken Einheit

Oberstleutnant

meist Stellvertreter des Regimentskommandeurs

Oberst

Kommandeur eines Regiments, einer ca. 3 000 Mann starken Einheit

Generäle

Generalmajor

Generalleutnant

meist Kommandeur einer Division, einer ca. 10 000 - 30 000 Mann starken Einheit

Generaloberst

Oberbefehlshaber einer Armee

Generalfeldmarschall

Breslau, 13. Juli 1914 (Montag)

Baronesse Lydia von Gedigk presste die Umschläge mit den Bewerbungen fest an sich. Seit sie ihn vor ein paar Tagen zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in Breslau gesehen und er versucht hatte, sie anzusprechen, stand ihr Entschluss fest: Sie musste fort aus Breslau, wohin er zurückgekehrt war und wo sie ihm jederzeit begegnen konnte. Und sie musste fort aus der Enge des Pensionats, wo Fräulein von Steinbach als Vorsteherin die Knute schwang. Hin nach Berlin, wo niemand nach dem Fehler ihrer Vergangenheit fragen würde. Und wo sie als Gouvernante in einer der ersten Familien endlich Anerkennung finden könnte.

Sie drückte den Hut fester auf den Kopf und sah zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Hoffentlich fing es nicht wieder an zu regnen. Es würde sich bestimmt nicht gut machen, wenn ihre Bewerbungen regendurchweicht in Berlin einträfen. Ehrfürchtig strich sie mit dem Finger über den Umschlag, der an die kaiserliche Familie gerichtet war. Der Kronprinz hatte bereits vier Söhne im Alter von drei bis acht Jahren, vielleicht würde es ihr mit ihren hervorragenden Zeugnissen sogar gelingen, Erzieherin eines künftigen deutschen Kaisers zu werden.

Träumerin!, schalt sie sich selbst. Seit damals solltest du keine Träume mehr haben.

An der Kreuzung mit der Schweidnitzer Straße blieb sie stehen und sah den Stadtgraben entlang. Seit einigen Jahren bevölkerten immer mehr Automobile die Straßen, und der Geruch von Pferdemist wurde mehr und mehr vom Gestank nach Abgasen und Öl, das Klappern der Hufe durch das Knattern und Hupen der selbstfahrenden Karossen abgelöst. Sie sollte sich daran gewöhnen, in Berlin würde es bestimmt noch schlimmer sein.

Als sich eine Dame mit riesigem Hund näherte, der knurrend und sabbernd auf sie zu zerrte, setzte sie rasch einen Fuß auf die Straße, um den Stadtgraben zwischen sich und die Bestie zu bringen. Im selben Augenblick öffnete der Himmel wieder seine Schleusen. Hätte sie doch bloß ihren Schirm mitgenommen!

Rasch schob sie die Bewerbungen unter den Mantel, übersprang eine Pfütze am Straßenrand, die von den Regenschauern der letzten Stunden übrig geblieben war, und hastete über die Straße. Nur schnell das Postamt erreichen, ehe der Regen durch ihren Mantel drang und die Briefe durchnässte. Sonst müsste sie sie wieder neu schreiben, und zwar heimlich, damit Fräulein von Steinbach nichts von ihren Plänen erfuhr. Die verbohrte Pensionatsleiterin würde gewiss nicht davor zurückschrecken, ihr an ihrer neuen Stelle zu schaden, besonders wenn es sich um eine herausragende Stellung handeln sollte.

Sie zog ihren Hut tiefer in die Stirn – plötzlich erklang grelles Hupen, jemand schrie: „Fräulein! Passen Sie doch auf!“ Sie ließ den Hut los – der Wind riss ihn mit sich fort –, und fuhr in die Richtung herum, aus der das Hupen ertönte.

Ein Automobil schoss direkt auf sie zu, der Fahrer zerrte am Lenkrad – Lydia sprang zur Seite und landete mit dem Fuß auf der Bordsteinkante; irgendwo schepperte und klirrte etwas, sie verlor das Gleichgewicht, schlug mit dem Knie auf den Rinnstein und fiel in die Gosse.

Als sie versuchte, sich aufzurichten, schoss ein stechender Schmerz durch ihren rechten Knöchel und sie sank auf den Bordstein.

„Fräulein? Sind Sie verletzt?“

Sie sah auf und wischte sich das Wasser aus den Augen. Ein fein gekleideter Herr mit sorgfältig gestutztem Henriquatre1 beugte sich über sie.

„Meine Briefe ...“ Sie fingerte unter ihren Mantel, dann wanderte ihr Blick in die Gosse. Dort lagen sie, zerquetscht, durchweicht, beschmutzt. „Warum müssen Sie bei diesem Wetter so rasen?“

„Warum springen Sie so unachtsam auf die Straße?“ Er ging neben ihr in die Hocke. Bäche von Regenwasser gingen über sein Gesicht nieder, sein akkurater Seitenscheitel löste sich mehr und mehr auf. „Ihre Briefe können Sie neu schreiben, aber meine schöne neue Beckmann Sport-Limousine, die ich soeben erst in der Fabrik abholte ...“

Lydia sah zu dem Automobil hinüber, das an einer Laterne zum Stehen gekommen war. Scherben lagen auf der Straße, an der Front war allerlei zerbeult und weiße Dampfschwaden stiegen auf. Ein Mann in Chauffeursuniform machte sich an der Motorhaube zu schaffen. „Was ist eine Beule in Ihrem Wagen verglichen mit meinen Briefen, an denen meine Zukunft hängt?“ Ganz abgesehen davon, dass der Steinbach auffallen würde, dass sie das Pensionat verlassen hatte, wenn sie so lange ausblieb und auch noch derangiert und humpelnd zurückkehren würde. Zumal sie schon in zwanzig Minuten einen Termin bei der Vorsteherin hatte.

Er stand auf und sah zu seinem Wagen hinüber. „Verstehe einer, warum Sie solch ein Aufheben um Ihre Briefe machen. Es ist doch eine Kleinigkeit, sie neu zu schreiben.“

Währenddessen betastete Lydia ihren Knöchel. Er war angeschwollen und schmerzte stechend, aber sonst schien sie bis auf ein paar Schürfwunden und ein aufgeschlagenes Knie nichts abbekommen zu haben.

„Danken Sie Gott lieber, dass nichts Schlimmeres passiert ist.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Sie können doch gehen? Oder soll ich einen Arzt rufen?“

„Ich danke. Es wird schon gehen.“ Sie ergriff seine Hand und richtete sich auf. Was für eine imposante Gestalt! Sie war ja selbst schon größer als die meisten Frauen, aber dieser Herr überragte sogar sie um Haupteslänge.

„Sind Sie sicher, Fräulein?“ Er winkte seinem Chauffeur. „Bitte einen Schirm für die Dame.“

Vorsichtig belastete sie ihren Fuß. Der Schmerz wurde stechender, aber sie würde den Weg zurück zum Pensionat schon schaffen. „Es geht mir gut.“

Der Bedienstete hastete mit einem Schirm herbei und hielt ihn über sie.

„Lassen Sie mich Ihnen wenigstens eine Droschke besorgen.“ Er nahm dem Chauffeur den Schirm ab.

„Danke, ich werde laufen.“ Dann hatte sie vielleicht die Möglichkeit, unbemerkt ins Pensionat zu huschen. Wenn sie dagegen in einer Droschke vorfuhr, würde das erst recht die Aufmerksamkeit auf sie lenken.

Er zuckte mit den Schultern. „Wie Sie wünschen. Aber bitte nehmen Sie wenigstens meine Karte und melden Sie sich, wenn Sie sich doch stärker verletzt haben.“

Sie starrte auf das feine Papier. Zuerst sprang ihr die Grafenkrone ins Auge. Dann las sie den Namen. Graf Claus Ferdinand Grüning von Wedell. Der Bruder ihrer ehemaligen Pensionatsfreundin Franzi von Wedell. Ausgerechnet einer der reichsten und angesehensten Großgrundbesitzer Schlesiens.

Sie sah an sich hinunter. Ihr Kleid war zerrissen und verdreckt, ein Schuh zerschrammt und sie war völlig durchnässt. So konnte sie unmöglich noch länger in der Gegenwart dieses vornehmen Herrn bleiben.

Er strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. „Wenn auch Sie mir Ihren Namen nennen wollten ...“

Besser nicht. Der Name Gedigk hatte keinen guten Klang mehr. Ihretwegen. Sie knickste, obwohl das zu ihrem derangierten Zustand so gar nicht passte und der stechende Schmerz im Fußgelenk dabei beinahe unerträglich wurde. „Mein Name tut nichts zur Sache.“ Rasch fischte sie ihre Bewerbungen aus der Pfütze und eilte, so schnell ihr Fuß es zuließ, davon.

„Aber Fräulein, so nehmen Sie doch wenigstens den Schirm!“

Einen Blick über die Schulter werfend, sah sie noch, wie er eine Droschke heranwinkte. Rasch bog sie in eine Nebengasse ein. Zu dem Termin mit der Steinbach kam sie jetzt unvermeidlich zu spät.

„Sie sind spät dran, Herr Graf.“

Die Stimme der Pensionatsvorsteherin schrillte in Wedells Ohren und er verstand sofort, warum seine Schwester Franziska ihn vor dieser Beißzange mit der Fanfarenstimme gewarnt hatte. Dies schien tatsächlich ein höchst streng geführtes Pensionat zu sein, und er hatte Mühe, sich vorzustellen, dass er hier eine solche Perle von Lehrerin finden könnte, wie Franzi ihre ehemalige Mitpensionärin beschrieben hatte.

Wedell verbeugte sich nur widerwillig vor dem verknöcherten Fräulein, das hinter einem massiven Mahagonischreibtisch thronte. „Bitte verzeihen Sie. Es gab auf dem Weg hierher einen kleinen Zwischenfall.“

„Ich liebe so etwas nicht.“ Fräulein von Steinbach funkelte ihn durch ihr Lorgnon an. „Bitte nehmen Sie Platz. Sie sind also der Bruder meiner ehemaligen Schülerin Franziska Elisabeth von Wedell, die ich vor neun Jahren wegen ungebührlichen Verhaltens der Anstalt verweisen musste.“

Knirschend presste Wedell die Zähne aufeinander. Jetzt bloß kein unbedachtes Wort, sonst stünde seine Nichte weiterhin ohne Erzieherin da. „Ich bin nicht hergekommen, um über meine Schwester zu sprechen. Meine Zeit ist dafür zu kurz bemessen, da ich den letzten Zug nach Habelschwerdt unbedingt erreichen muss. Mein Automobil ist leider nicht mehr fahrtauglich.“

„So ergeht es einem mit dem neumodischen Kram.“ Die Steinbach zog einen Brief hervor. „Sie schrieben mir, dass Sie eine Gouvernante für Ihre Nichte, die Tochter Ihrer Schwester Franziska Elisabeth von Schenck, suchen.“

„Ganz recht. Ich musste die letzte Erzieherin unter anderem wegen Lieblosigkeit meiner Nichte gegenüber entlassen. Meine Schwester hat mir eine Ihrer Lehrerinnen, ein gewisses Fräulein von Gedigk, wärmstens ...“

„Kinder vom Schlage Ihrer Schwester sind nur mit Strenge – um nicht zu sagen: mit Härte – zu rechten Menschen zu erziehen“, schrillte die Steinbach dazwischen.

„Gnädiges Fräulein, ich bitte Sie ...“ Wedell ballte die Faust in seinem Schoß, dann fuhr er ruhiger fort: „Bitte unterlassen Sie es, meine Schwester zu diskreditieren. Es geht hier um meine Nichte.“

Die Steinbach funkelte ihn aus ihren meergrauen Augen an, dann warf sie wieder einen Blick auf den Brief. „Sie erwähnten, dass Ihre Schwester und ihr Mann als Missionare am Tanganjikasee in Deutsch-Ostafrika tätig sind. Wie ich Franziska kenne, hätte ich erwartet, dass sie ihr Kind lieber selbst unterrichtet – und sei es mehr schlecht als recht –, als es allein nach Deutschland zurückzuschicken.“

Wedell verdrehte die Augen. Musste er seine Schwester jetzt auch noch vor der Steinbach rechtfertigen? „Das war allerdings eine Überlegung, jedoch wünscht Franziska eine bessere Bildung für ihre Tochter, als sie selbst zu vermitteln vermag. Und eine Lehrerin in den Urwald zu holen – Sie können sich vorstellen, dass es noch schwieriger wäre, eine dafür geeignete Person zu finden.“

„Tja, hätte Ihre Schwester damals mehr Bildungseifer an den Tag gelegt ...“

Er atmete tief durch, um eine harsche Antwort zu unterdrücken. „Ich gebe Ihnen recht, gnädiges Fräulein. Aber denken Sie auch an einen möglichen Krieg. Sollte sich der gegenwärtige Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ausweiten, werden unsere Kolonien unweigerlich dort hineingezogen. Deshalb ist es besser, meine Nichte ist in Wölfelsgrund in Sicherheit.“

„Hat Ihre Schwester noch weitere Kinder?“ Fräulein von Steinbach drehte ihr Lorgnon zwischen den mageren Fingern.

„Einen Sohn, er ist aber noch zu klein, als dass er allein in Deutschland bleiben könnte. Falls sich jedoch die Kriegsgefahr verschärfen sollte, wird meine Schwester mit ihm nach Wölfelsgrund zurückkehren.“

Die Steinbach hielt ihr Lorgnon vor die Augen und sah erneut auf den Brief. „Viola Neema von Schenck heißt das Kind – was ist das überhaupt ...“ Sie räusperte sich. „Nun ja, ein befremdlicher Name.“

Wedell schnippte eine Fluse von seinem Rock. „Vermutlich meinen Sie den Zweitnamen meiner Nichte. Neema ist ein Suaheli-Wort und bedeutet Gnade.“

„Der erste Name ist nicht viel schicklicher. Dass Ihre Schwester ihre Tochter nach dem Instrumente benannte, das sie so abgöttisch liebt ...“

„Gnädiges Fräulein“ – Wedell warf einen Blick zu der massigen Standuhr hinüber –, „ich vermute, dass Sie meinem Wunsch gemäß Fräulein von Gedigk zu diesem Gespräch geladen haben. Ich ersuche Sie nun dringend, das Fräulein rufen zu lassen.“

„Eigentlich müsste Fräulein von Gedigk längst hier sein. Ich bestellte sie zur gleichen Zeit wie Sie.“ Die Steinbach legte ihr Lorgnon auf den Tisch. „Aber es ist mir ganz recht, vorher einige Augenblicke mit Ihnen allein reden zu können.“

„Aber ich muss unbedingt den Zug ...“

„Das erwähnten Sie bereits“, trompetete die Steinbach. „Ich für mein Teil habe manchmal Schwierigkeiten, mich mit Fräulein von Gedigks Lehrmethoden eins zu machen. Ich stehe auf dem Standpunkte, dass jungen Gemütern Disziplin, Respekt und Gehorsam beizubringen ist. Fräulein von Gedigk hingegen ist mehr Freundin als Lehrerin ihrer Schülerinnen.“

„Sie wollen damit andeuten, dass Fräulein von Gedigk nicht Ihrem Idealtyp einer Lehrerin entspricht?“ Und in Gedanken fügte er hinzu: Das spricht unbedingt für das Fräulein.

„Meine Anschauungen habe ich dargelegt. Disziplin, Respekt und Gehorsam sind die Tugenden, die Deutschland groß gemacht haben. Wehe unserem Vaterlande, wenn diese Säulen untergraben werden. Ich beobachte mit Sorge, dass liberale Erziehungsmethoden mehr und mehr Anhänger finden.“

„Ich nehme an, dass Fräulein von Gedigk ihre Schülerinnen trotzdem zu führen weiß? Schließlich kann man auch durch Güte leiten.“

Die Steinbach schoss einen scharfen Blick auf ihn ab und um ihre Mundwinkel zuckte ein verstohlenes Grinsen, das aber sofort wieder der missbilligenden Miene Platz machte. „Ich gebe zu, dass Fräulein von Gedigks Schülerinnen in ihrem Unterrichte höchst aufmerksam sind, gute Leistungen erbringen und auch sonst durchweg ihren Anweisungen folgen.“

Wedell legte den Kopf schief und sah die Steinbach an. Was ging hier vor? Obwohl die Leiterin die Methoden ihrer Lehrerin unverkennbar missbilligte, war dies nun wiederum ein deutliches Lob – schließlich wusste die Steinbach aus seinem Brief, dass er von der Lehrerin seiner Nichte neben der nötigen Strenge vor allem Güte, Verständnis und Einfühlungsvermögen verlangte. Wollte die Vorsteherin diese missliebige Lehrerin loswerden und er bot ihr die willkommene Gelegenheit dazu? Aber wenn das so war: War Fräulein von Gedigk dann wirklich eine so hervorragende Lehrerin? Denn bei aller Meinungsverschiedenheit über Erziehungsmethoden – deshalb versuchte man doch nicht, eine exzellente Lehrerin loszuwerden.

„Ich möchte mir von dem Fräulein gern selbst ein Bild machen. Wenn Sie sie nun bitte rufen lassen.“

„Es ist mir unverständlich, wo sie bleibt. Aber Ihnen scheint Unpünktlichkeit ja nicht so viel auszumachen.“ Die Steinbach erhob sich. „Ich werde selbst nachsehen.“

Heute machte ihm Unpünktlichkeit sehr wohl etwas aus. Wenn er den Zug nicht mehr erreichte, würde das seinen gesamten Zeitplan durcheinanderwerfen, denn er musste schon in einer Woche zum Manöver einrücken und konnte sich keinen längeren Aufenthalt in Breslau erlauben. Wenn ihm nur dieses unachtsame Mädchen nicht vor den Wagen gelaufen wäre!

Keuchend erreichte Lydia das Pensionat. Das würde ein Donnerwetter von der Steinbach geben, weil sie viel zu spät kam. Aber noch schlimmer war: Die Vorsteherin hatte dadurch zweifellos mitbekommen, dass sie das Pensionat verlassen hatte, und würde nun wissen wollen, wo sie gewesen war. Und wenn sie erfuhr, dass sie sich auf Stellen in allerhöchsten Kreisen beworben hatte, würde sie ihr alle nur erdenklichen Felsbrocken, wenn nicht sogar gleich die gesamten Sudeten in den Weg legen.

„Ach, das gnädige Fräulein geruhen doch noch zurückzukehren.“ Fräulein von Steinbachs Fanfarenstimme schrillte in der hohen Eingangshalle. „Aber wie sehen Sie aus? Haben Sie mit dem Bahnhofspöbel gerauft?“

Lydia verbarg die durchweichten Bewerbungen unter ihrem Mantel und löste den nassen Haarknoten. „Ich hatte einen kleinen Unfall. Es ist aber nicht der Rede wert.“

„Und darüber versäumen Sie den Termin mit mir! Ich hatte Sie für vier Uhr am Nachmittage in mein Büro bestellt! Wo sind Sie überhaupt gewesen?“

„Ich wollte nur zum Postamt.“ Sie strich sich eine nasse Haarsträhne hinters Ohr. „Ich werde mich trocknen und umkleiden, dann komme ich sofort zu Ihnen.“

„Ausgeschlossen.“ Die Steinbach packte sie am Arm. „Sie kommen sofort mit. Der Herr Graf ist in Eile.“

„Der Herr Graf?“ Wie vielen Grafen sollte sie heute denn noch begegnen? „Ich dachte, Sie wollten mit mir ...“

„Der Herr Graf sucht eine Gouvernante für seine Nichte. Sicherlich wird er Ihnen ein Salär bieten, das Sie gar nicht verdienen. Ich sage Ihnen: eine ausgezeichnete Stellung. Noch dazu gar nicht weit entfernt von hier.“

Lydia löste ihren Arm aus dem Griff der Steinbach. „Ich weiß doch genau, dass Sie mich lieber gestern als heute entlassen würden.“

„Es ist schlimm genug, dass die Schirmherrin des Pensionates Sie trotz Ihrer verwerflichen Vergangenheit so protegiert. Aber diese Stelle sollten Sie unbedingt annehmen. Der Herr Graf ist ein feiner Charakter, und es ist doch sicher in Ihrem Sinne, eine Stellung in einem vornehmen Hause anzunehmen.“

Hier stimmte etwas nicht. Natürlich wollte die Steinbach sie so schnell wie möglich loswerden. Sie konnte ihr einfach nicht verzeihen, was damals passiert war. Aber dass sie ihr dazu eine exzellente Stelle anbot, passte einfach nicht. Die Steinbach hatte sie immer nur schikaniert, warum sollte sie ihr jetzt eine ausgezeichnete Stelle gönnen, ja, geradezu aufnötigen? Die Sache musste einen Haken haben!

„Kommen Sie schon!“ Wie die Krallen eines Geiers umfasste die Hand der Leiterin erneut ihren Arm. „Der Herr Graf ist in höchster Eile.“

„Aber ich kann doch nicht in diesem Aufzug ...“ Lydia wies an sich hinunter. Vielleicht war die Stelle ja auch objektiv betrachtet exzellent, dann sollte sie besser einen guten Eindruck hinterlassen. Auch wenn ihr Ziel eigentlich in Berlin und dort vielleicht sogar in der kaiserlichen Familie lag.

„Wenn Sie sich zuerst umkleiden, wird der Herr Graf abgereist sein und die Stelle anderweitig vergeben. Also kommen Sie schon.“ Die Steinbach zog sie durch die Eingangshalle zur Treppe.

Was hatte Gott mit ihr vor? Warum wurden binnen einer Stunde erst ihre Bewerbungen zerstört und ihr dann eine andere Stelle angeboten? War das Zufall? Oder Führung? Aber warum sollte sie dann in ihrem derangierten Zustand zu diesem Grafen? Er würde sich doch umgehend mit einem spöttischen Lächeln empfehlen und eine andere Lehrerin für seine Nichte suchen.

Ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, standen sie vor der Tür zu Fräulein von Steinbachs Büro. Mit fliegenden Fingern band Lydia sich die Haare wieder zusammen.

* * *

Als die Steinbach die Bürotür öffnete, blieb Lydia wie angewurzelt stehen. Der Mann, der sich gerade erhob, war niemand anderes als – ihr Unfallgegner! Im Gegensatz zu ihr hatte er es sogar geschafft, sich ein trockenes Jackett anzuziehen.

Auch er schien nicht weniger überrascht zu sein. „Sie sind Baronesse von Gedigk?“

„Und Sie suchen eine Erzieherin?“

„Sie kennen sich bereits?“, trompetete die Steinbach.

Wedell verbeugte sich. „Wir hatten bereits das Vergnügen ...“

Lydia räusperte sich und warf ihm einen warnenden Blick zu. Die Steinbach musste nicht erfahren, unter welch sonderbaren Umständen sie sich soeben begegnet waren, sonst würde das nur unnötige Nachfragen provozieren.

Der Graf sah sie an, dann zuckte es um seine Mundwinkel. „Wir trafen uns zufällig.“ Er sah auf seine Taschenuhr. „Bitte lassen Sie uns rasch beginnen. Mein Zug geht schon in vierzig Minuten.“

„Also nehmen wir Platz.“ Die Steinbach nahm ihren Thron hinter dem Schreibtisch ein; Lydia und Wedell setzten sich auf die Stühle auf der anderen Seite.

„Also, meine Liebe“ – die Steinbach schien ihrer Stimme eine Spur von Wärme geben zu wollen –, „hier ist der Herr, der Ihnen eine hervorragende Stellung bietet.“

Wedell sah Lydia an und zeigte ein hintergründiges Lächeln. „Zuerst möchte ich Sie ein wenig – und anders – kennenlernen, Baronesse, ehe ich Ihnen eine Stellung anbiete. Sicherlich erinnern Sie sich noch meiner Schwester?“

„An Franzi? Aber selbstverständlich!“ Lydia musste unwillkürlich lächeln.

„Jeder, der sie kannte, wird dieses renitente Wesen nicht vergessen“, brummte die Steinbach.

Wedell zog die Augenbrauen zusammen, seine braunen Augen blitzten.

Doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr Lydia fort: „Ich habe sie immer bewundert. Sie hat sich nie von Widerstand unterkriegen lassen. Ich war zwar nur drei Jahre mit ihr zusammen hier, aber ich habe nie wieder eine so starke Persönlichkeit getroffen.“

„Es freut mich, dass Sie so über meine Schwester sprechen.“ Wedell warf der Steinbach einen Seitenblick zu. „Sicherlich wissen Sie, dass Franzi in Deutsch-Ostafrika verheiratet ist und inzwischen zwei Kinder hat. Das ältere, ihre Tochter Viola, ist sieben Jahre alt und seit einigen Monaten bei mir im Forstschloss zu Wölfelsgrund, um eine deutsche Erziehung zu genießen. Leider musste ich schon zwei Gouvernanten entlassen.“

„Das tut mir leid. Bei Kindern in diesem Alter sollten die Bezugspersonen nicht ständig wechseln.“ Lydia klemmte ihren Rock so zwischen die Beine, dass der Graf die zerrissenen Stellen nicht bemerken konnte.

„Dann verstehen Sie, wie wichtig meiner Schwester ist, dass Viola endlich eine dauerhafte Erzieherin bekommt.“

„Sie sehen also, Fräulein von Gedigk“, schrillte die Steinbach dazwischen, „dass Ihnen hier eine langfristige Stellung geboten wird.“

„Sicherlich erkennt die Baronesse selbst die Vorzüge und Nachteile einer Stellung, die ihr angeboten wird“, entgegnete Wedell. Dann wandte er sich wieder Lydia zu. „Können Sie mir sagen, wie Sie die Erziehung meiner Nichte angehen würden?“

Würde er mit ihren abwechslungsreichen Methoden einverstanden sein oder besonderen Wert auf Strenge und Disziplin legen? „Ich halte nicht viel von verstaubten Lehrbüchern und dumpfen Unterrichtsräumen. Zweifellos muss Ihre Nichte auch Theorie erlernen, aber ich möchte den Unterricht so lebendig wie möglich gestalten. Das mag gelegentlich außerhalb Ihres Schlosses geschehen, um ihr auch praktischen Anschauungsunterricht zu geben. Wenn ich mich nur um eine Schülerin zu kümmern habe, sollte das leicht möglich sein.“

„Derzeit sind Sie wohl eher gewohnt, mehrere Schülerinnen auf einmal zu unterrichten. Wird es Ihnen nicht schwerfallen, dann nur noch eine Schülerin zu betreuen?“

„Ich stelle mir diese persönliche Art des Unterrichts besonders reizvoll vor. Sie gestattet mir, individuell auf meine Schülerin einzugehen, und bietet mir mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Und selbstverständlich würde ich mich besonders freuen, die Tochter meiner Pensionatsfreundin zu unterrichten. Allerdings habe ich auch meine gesamte Klasse ins Herz geschlossen.“

„Fräulein von Gedigk meint, dass zu einer einzelnen Schülerin eine engere Bindung entsteht, worauf sie viel Wert legt.“ Die Steinbach klopfte mit den langen Fingernägeln auf die Tischplatte.

Wedell zupfte eine Fluse von seinem Jackett. „Ich habe die Baronesse schon verstanden. – Ihnen ist also eine persönliche Beziehung zu Ihren Schülerinnen wichtig?“

„Ja. Dann lernen sie leichter und mit größerem Interesse. Und ich vermute, dass meine Aufgabe bei Ihrer Nichte über die einfache Vermittlung des Lehrstoffes hinausgeht.“

„Das ist richtig. Ich verlange alle Tätigkeiten einer Gouvernante. Sie sollen ihr also neben dem Unterricht auch so gut als möglich die Mutter ersetzen und sie auf ihr künftiges Leben vorbereiten. Dazu gehört selbstverständlich auch eine christliche Erziehung im Sinne des Wortes Gottes – meine Schwester versicherte mir, dazu seien Sie bestens geeignet.“

„Oh, Fräulein von Gedigk ist meine frömmste Lehrerin. Die Bibel ist ihr steter Begleiter.“ Die Steinbach drehte ihr Lorgnon zwischen den Fingern.

Lydia presste die Lippen aufeinander. Jetzt war der entscheidende Augenblick. Sie musste dem Grafen den wunden Punkt ihrer Vergangenheit beichten. „Ich muss Ihnen jedoch gestehen, Herr Graf ...“

„Ich bin überzeugt, dass Fräulein von Gedigk alle Anforderungen mit Bravour meistern wird.“ Konnte die Steinbach sie nicht einmal ausreden lassen?

„Fräulein von Steinbach, ich möchte Sie bitten, das Gespräch nicht zu unterbrechen.“ Der Graf fuhr sich mit der flachen Hand über das dunkle Haar, in dem sich erste silberne Fäden zeigten. „Meine Zeit ist schon knapp genug bemessen, ich werde meinen Zug kaum noch erreichen können. – Baronesse, ich vermute, dass Sie eine Ausbildung zur Lehrerin vorweisen können?“

„Nach meiner Ausbildung hier im Pensionat besuchte ich zwei Jahre die Präparandenanstalt2 in Breslau. Dann wechselte ich zum Lehrerinnenseminar.“ Da war es passiert. Und sie musste es Wedell sagen. Ehrlichkeit war immer das Beste.

„Ihre Zeugnisse waren immer glänzend“, mischte sich die Steinbach erneut ein.

„Während des Lehrerinnenseminars ...“

„Seit letztem Jahr unterrichtet Fräulein von Gedigk hier im Pensionate Deutsch, Heimatkunde und Geschichte. Ihre Schülerinnen lieben sie abgöttisch.“

Warum hinderte die Steinbach, die sonst bei jeder Gelegenheit auf ihrem Fehltritt herumritt, sie daran, diesen zu gestehen? Es brachte doch nichts, zu verschweigen, was damals geschehen war. Oder sah sie etwa keine andere Möglichkeit, sie loszuwerden, weil die Schirmherrin des Pensionats einer Entlassung niemals zustimmen würde? Trotzdem musste sie es sagen. „Herr Graf ...“

„Diese Eckpunkte genügen mir vorerst.“ Der Graf lächelte sie an. „Die Empfehlung meiner Schwester wiegt viel bei mir. Ich biete Ihnen monatlich 80 Mark Gehalt bei freier Station und Verpflegung. Familienanschluss ist selbstverständlich. Wie schnell könnten Sie die Stelle antreten?“

Das war allerdings ein ordentliches Salär. „Ich muss mir zuerst klar werden, ob es Gottes Wille für mich ist. Und dann müsste Fräulein von Steinbach die Freigabe erteilen.“

„Ich werde Ihnen bei diesem exzellenten Angebote nicht hinderlich im Wege stehen.“ Natürlich, die Steinbach wollte sie lieber gestern als heute loswerden – obwohl es Lydia immer noch unwahrscheinlich vorkam, dass sie ihr diese zweifellos hervorragende Stelle gönnte.

„Sie müssen wissen, Baronesse, dass ich Sie am liebsten sofort mit nach Wölfelsgrund nehmen würde.“ Der Graf strich eine Falte aus seinem Rock. „Am kommenden Montag, also genau heute in einer Woche, muss ich zu einem zweiwöchigen Manöver einrücken. Ich kann es nicht verantworten, meine Nichte ohne Betreuung zu lassen, bis ich zurückkehre. Und die eine Woche bis zu meiner Abreise benötigen wir, um Sie in Ihre Pflichten einzuarbeiten.“

Lydia starrte in das markante Gesicht des Grafen. Sie konnte doch nicht binnen weniger Minuten entscheiden, ob sie ihre Pläne, in die Metropole Berlin zu gehen, aufgeben sollte, um eine Stelle in diesem verschlafenen Dorf Wölfelsgrund anzutreten! Und vor allem musste sie ihm immer noch sagen, was damals geschehen war – doch die Steinbach würde es jetzt und hier wohl weiterhin unterbinden. „Herr Graf, ich muss um etwas Bedenkzeit bitten.“

„Was gibt es da zu bedenken?“ Die Steinbach richtete ihre meergrauen Augen durch das Lorgnon auf Lydia. „Sie können doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dieses Angebot auszuschlagen.“

„Ich möchte die Entscheidung gerne mit meinem Gott treffen. Ich denke, der Herr Graf hat Verständnis dafür.“

„Selbstverständlich. Aber begreifen Sie bitte auch meine Lage. Bei der aktuellen politischen Situation in Europa, die Ihnen sicher nicht unbekannt ist, könnte es sogar schon bald dazu kommen, dass ich nicht nur für die Dauer eines kurzen Manövers eingezogen werde.“

Natürlich. Am 28. Juni war mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares der Funke in das Pulverfass Europa geflogen – noch wusste niemand, ob er zünden würde oder nicht. Seine Zeitnot war folglich nur zu begreiflich. Sollte sie also beherzt zugreifen? Aber dann musste er doch erfahren, was sie für eine Vergangenheit hatte! Sie musste nur schnell genug sein, ehe die Steinbach wieder eingriff. „Herr Graf, lassen Sie mich ...“

„Der Herr Graf macht Ihnen ein einzigartiges Angebot, Sie müssen nur noch zusagen!“, trötete die Steinbach. „Was wollen Sie sich da lange bedenken? Gerade in der jetzigen Situation! Seitdem Deutschland mit einem Blankoscheck an Österreich-Ungarn Bündnistreue in jedem Falle zugesagt hat, kann niemand davon ausgehen, dass sich Deutschland aus dem Konflikte mit Serbien heraushalten kann. Sollte es zum Äußersten kommen, befinden Sie sich in gesicherten Verhältnissen.“

„Halten Sie die Lage ebenfalls für so ernst, Herr Graf?“ Lydia schaute zum Bildnis von Kaiser Wilhelm II. an der Wand auf. 26 Jahre regierte der Friedenskaiser inzwischen schon, der letzte Krieg war 43 Jahre her – sollte es dem Kaiser nicht gelingen, einen Waffengang abzuwenden? „Glauben Sie auch, dass keine diplomatische Lösung mehr möglich ist?“

Der Graf fuhr sich mit der Hand über den Henriquatre. „Ich halte eine diplomatische Lösung nicht für ausgeschlossen. Es ist jedoch schwer zu beurteilen, wie wahrscheinlich sie ist.“

„Mit diesen aufrührerischen Serben muss einmal gründlich aufgeräumt werden!“ Die Steinbach schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, dass das Tintenfass bedenklich schwankte.

„Ihre politische Ansicht tut hier nichts zur Sache.“ Wedell stand auf. „Da ich meinen Zug nun ohnehin nicht mehr erreichen werde, kann ich Ihnen zugestehen, eine Nacht über mein Angebot zu schlafen. Ich werde morgen um elf Uhr wieder hier erscheinen. Ich bitte Sie, mir Ihre Entscheidung dann mitzuteilen.“

Lydia erhob sich ebenfalls. „Ich werde darüber beten und hoffe, dass Gott mir bis dahin eine Antwort gibt.“

„Herr Jesus, was soll ich bloß tun?“ Lydia kniete trotz der Schmerzen an ihrem aufgechlagenen Knie vor ihrem Bett. Es war bereits Dienstag halb elf Uhr – in einer halben Stunde würde Graf Wedell kommen und ihre Antwort einfordern.

Natürlich wollte sie fort aus dem Pensionat – oder vielmehr fort von Fräulein von Steinbach. Aber gleich heute? Der Abschied von Breslau würde ihr schwerfallen, schließlich hatte sie hier die Hälfte ihrer 24 Lebensjahre verbracht. Und ihre Kolleginnen im Pensionat hatten – bis auf Fräulein von Steinbach – den dunklen Punkt in ihrer Vergangenheit akzeptiert. Oder wenigstens hatten sie sich damit abgefunden und sagten nichts mehr dazu. Zudem würde sie ganz besonders ihre Schülerinnen vermissen, die sie von Herzen liebte. Und die an ihr hingen – wahrscheinlich, weil sie anders war als die übrigen Lehrerinnen.

Bei dem einen Mal, als sie das Pensionat verlassen hatte, um sich zur Lehrerin ausbilden zu lassen, war das Unheil geschehen, die Katastrophe ihres Lebens, die ihr niemand verzeihen wollte. Außer Gott.

Vielleicht fand sie genau in jenem Forstschloss zu Wölfelsgrund die Möglichkeit, auch Vergebung von Menschen zu erlangen? Dort hatte sie einen gläubigen Dienstherrn, und vielleicht wäre er der erste Christ, der ihr sagen würde: Was Sie getan haben, war falsch, aber wenn Gott Ihnen vergeben hat, habe ich kein Recht, Sie zu verachten. Doch dazu musste sie dem Grafen sagen, was geschehen war ... Und würde er ihr dann wirklich die gewünschte Absolution erteilen?

Nein. Darum hatte sie schon viel zu lange gekämpft. Und immer verloren. Das würde sie nicht noch einmal in Angriff nehmen. Stattdessen würde sie sich allein auf ihre Karriere konzentrieren, das einzige, das ihr geblieben war, seit sie aus der Gesellschaft ausgestoßen worden war. Selbst überzeugte Christen, sogar ihre Eltern eingeschlossen, wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben, obwohl sie alles bekannt und Gott ihr vergeben hatte.

Gouvernante in einem angesehenen Haus – angesehen war die Familie Wedell allemal. Allerdings würde ihre Stellung bei einem ledigen Dienstherrn auch viel Taktgefühl erfordern. Das Vorurteil, Gouvernanten wollten grundsätzlich Ehefrauen ihrer Arbeitgeber werden, hielt sich viel zu hartnäckig. Aber um ihrer Pensionatsfreundin Franzi, die sich um eine gute Erziehung ihrer Tochter sorgte, einen Dienst zu erweisen, würde sie auch diese Schwierigkeiten überwinden. Nachdem sie sich dort profiliert hatte, konnte sie, perfekt vorbereitet, immer noch den Sprung nach Berlin wagen.

Wenn es nur nicht ausgerechnet in diesem winzigen Wölfelsgrund wäre. Sie war eben ein Stadtkind. Und nun zunächst Wölfelsgrund statt Berlin? Außerdem lag Wölfelsgrund viel zu nah an Breslau, wo Alfred nach all der Zeit wieder aufgetaucht war. Und offenbar war er entschlossen, wieder an sie heranzutreten, was ihm in Wölfelsgrund vermutlich leicht gelingen könnte. In Berlin hatte sie bessere Möglichkeiten, unterzutauchen.

Ihr schwirrte der Kopf von all den Gedanken. „Bitte, mein Gott, gib Du mir Klarheit. Ich weiß nicht, was richtig ist.“

Plötzlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss ihrer Tür, dann wurde die Tür unsanft geöffnet.

„Was tun Sie denn da auf der Erde?“ Die Fanfarenstimme der Steinbach füllte das kleine Zimmer.

Lydia erhob sich von den Knien und glättete ihren Rock. „Ich habe gebetet. Und ich finde es nicht recht, dass Sie den Besitz eines Zweitschlüssels als jederzeitige Zutrittserlaubnis interpretieren.“

„Und? Hat Gott schon zu Ihnen gesprochen? Es kann doch nur in seinem Sinne sein, wenn Sie in einem frommen Hause eine Stellung annehmen.“

Sie sollte der Pensionatsleiterin lieber nicht sagen, dass sie gerade die Ablehnung von Gläubigen fürchtete – jedenfalls hatte sie sie von ihnen in überreichlichem Maße erfahren. „Warum wollen Sie eigentlich so dringend, dass ich das Pensionat verlasse? Habe ich Ihnen irgendetwas zuleide getan?“

„Das können Sie sich doch denken.“ Fräulein von Steinbach setzte sich an Lydias Schreibtisch. „Ich kann den Gedanken an ein schwarzes Schaf unter meinen Lehrerinnen nicht ertragen. Sie sind die einzige, deren Vergangenheit einen dunklen Punkt aufweist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es an diesem Pensionate nie eine Lehrerin Gedigk gegeben. Aber unsere Schirmherrin stellt ja niemanden lieber ein als ehemalige Pensionärinnen, egal, was sie auf dem Kerbholze haben. Wenn diese dann noch beste Zeugnisse mitbringen, gibt es schlichtweg kein Kriterium mehr, mit dem ich dagegenhalten kann.“ Sie senkte ihre Stimme. „Man munkelt, es gebe bei Ihrer Hoheit auch einen dunklen Punkt.“

Das war es also: Was der Steinbach wichtig erschien, war für die Schirmherrin ohne Bedeutung; sie fühlte sich dadurch bei den Einstellungen von Ihrer Hoheit übergangen.

Mit angewidertem Gesichtsausdruck schob die Steinbach Dumas’ Graf von Monte Christo, die Unterrichtslektüre ihrer Klasse, zur Seite. „Außerdem kann es nicht recht sein, dass die Eltern unserer Pensionärinnen im Unklaren darüber gelassen werden, was für eine Vergangenheit Sie haben. Doch die Prinzessin hat nun einmal strikt untersagt, etwas davon verlauten zu lassen.“

„Aber wenn Graf Wedell mich als Gouvernante für seine Nichte einstellt, ohne etwas davon zu wissen, halten Sie das für recht?“ Lydia ging ebenfalls zum Schreibtisch und starrte in ihre aufgeschlagene Bibel. Bitte, mein Gott, was soll ich tun?

„Das ist nicht meine Sache. Ich bin nur für die Schülerinnen dieser Anstalt verantwortlich. Was Sie mit Graf Wedell abmachen, verantworten Sie.“

„Noch ist mit dem Grafen gar nichts abgemacht.“

Die Steinbach stand auf – für Lydia war es eine Genugtuung, dass sie einen halben Kopf größer war als die Leiterin.

„Ich rate Ihnen dringend“, trötete die Vorsteherin, „die Stelle anzunehmen. Man kann nicht wissen, wie lange die Prinzessin ihre Hand noch über Sie halten kann.“

„Was ist denn mit der Prinzessin? Sie ist doch trotz ihres hohen Alters noch recht rüstig.“

„Sie wollte dem Pensionate dieser Tage einen Besuch abstatten, musste ihn aber krankheitsbedingt absagen. Und Sie wissen genau, dass die Prinzessin ihre Besuche immer peinlich genau wahrgenommen hat – es scheint sich also um eine ernsthafte Erkrankung zu handeln.“ Ein winziges Grinsen huschte über das Gesicht der Steinbach.

Lydia starrte die Steinbach an. Wenn die Prinzessin wirklich sterben sollte, was bei ihren weit über 80 Jahren durchaus im Bereich des Möglichen lag, dann waren ihre Tage hier gezählt. Der Prinz, der die Schirmherrschaft dann übernehmen würde, würde sich vermutlich kaum um das Pensionat kümmern, sondern der Steinbach freie Hand lassen. Und eine ihrer ersten Amtshandlungen würde zweifellos ihre, Lydias, Entlassung sein.

Damit war die Wahl getroffen. Sie musste Wedell zusagen. Denn bis sie eine Stelle in Berlin bekam – vor allem eine, die ihren Vorstellungen entsprach –, konnte die Prinzessin längst gestorben sein und sie ohne Anstellung dastehen.

Soll das deine Antwort sein, Herr Jesus? Ich habe einfach ein ungutes Gefühl dabei! Wedell weiß noch nichts von meiner Vergangenheit – wird er mich nicht auch ablehnen wie alle anderen? Es wäre besser, sie würde gar nicht um seine Anerkennung kämpfen, sondern sich nur auf ihre Lehrerinnenkarriere konzentrieren. Wenn die kleine Viola von Schenck groß war, konnte sie sich mit entsprechend hervorragenden Referenzen auf eine Stelle in Berlin bewerben, was ihre Erfolgsaussichten deutlich erhöhen würde.

Lydia richtete sich hoch auf und sah der Steinbach in die meergrauen Augen. „Gut, ich werde Graf Wedell zusagen.“

„Ich wusste, dass Sie vernünftig sein würden.“ Die Steinbach lächelte – es war ein boshaftes Lächeln, das Lydia unwillkürlich einen Schauer über den Rücken jagte.

Sie klappte die Bibel zu. „Eine Frage habe ich noch: Gönnen Sie mir diese gute Stelle beim Grafen Wedell wirklich?“

Die Steinbach machte große Augen. „Warum sollte ich sie Ihnen nicht gönnen? Wo Sie in Stellung gehen, ist mir gleichgültig, solange es nicht in diesem Pensionate ist.“

Lange sah Lydia in diese grauen Augen, die kalt waren wie Eis. Sie glaubte ihr kein Wort. Ich fürchte, für die Annahme dieser Stelle werde ich noch einen hohen Preis bezahlen.

„Kommen Sie, der Graf müsste jeden Augenblick eintreffen – wenn er denn diesmal pünktlich ist.“

Lydia warf noch einen Blick in den Spiegel. Heute sah sie wenigstens ordentlich aus. Sie hatte extra ein Kleid gewählt, das zu ihren vergissmeinnichtblauen Augen passte. Und ihr dunkelbraunes Haar war auch ordentlich frisiert und zu einem schlichten Knoten aufgesteckt. Rasch wusch sie sich die letzten Kreidespuren von den Händen, dann folgte sie der Steinbach.

Kaum waren sie im Büro der Leiterin, als Graf Wedell eintraf. Für die Steinbach hatte er nur eine steife Verbeugung übrig, Lydia dagegen küsste er sogar die Hand. „Ich hoffe, Sie haben eine gute Nachricht für mich.“

Lydia atmete tief durch. War es wirklich eine gute Antwort? Ohne dass sie ihm etwas von Ihrer Vergangenheit gesagt hatte? „Herr Graf, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Bevor ich Ihnen antworte, möchte ich noch erwähnen ...“

„Selbstverständlich wird Fräulein von Gedigk die Stelle bei Ihnen annehmen.“ Die Stimme der Steinbach schrillte in Lydias Ohren.

Es hatte einfach keinen Sinn, wenn die Steinbach dabei war. Sie würde die Stelle also ohne Bekenntnis annehmen müssen und dem Grafen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit alles sagen. „Ich bin bereit, Ihr Angebot anzunehmen. Nur geben Sie mir bitte bis übermorgen Zeit, meine Angelegenheiten hier in Breslau zu ordnen. Ich möchte mich von meinen Schülerinnen und Kolleginnen verabschieden. Dann werde ich am Donnerstag mit dem Frühzug abreisen.“

„Ich würde Sie zwar am liebsten sofort mit mir nehmen, aber ich verstehe Ihre Gründe. Nun gut, ich werde am Donnerstag den Wagen nach Habelschwerdt zur Station schicken.“

„Ich danke Ihnen, Herr Graf.“ Lydia sah zur Steinbach hinüber – und bemerkte auf deren Gesicht ein Lächeln, das ihr boshaft und hämisch vorkam. Das war doch nicht nur ein Lächeln der Erleichterung, weil die unliebsame Lehrerin endlich ging!

Als sie das Büro verließ, spürte sie die Blicke der Steinbach wie ein Messer im Rücken.

Mit kreischenden Bremsen fuhr der Zug in den Bahnhof von Habelschwerdt ein. Lydia hievte einen ihrer Koffer hoch und kämpfte sich zur Tür. Von der Sonne geblendet musste sie die Augen einen Moment schließen, ehe sie ihren Blick über den Perron schweifen ließ. Es war kein herrschaftlicher Diener zu entdecken. Hatte er sich verspätet?

Als sie aussteigen wollte, eilte ein Schaffner herbei und streckte die Hand aus, um ihr den Koffer abzunehmen, doch dann wurde er von einem hochgewachsenen Herrn beiseitegeschoben. „Lassen Sie nur.“

Überrascht sah Lydia auf den eleganten Herrn hinab. „Herr Graf, Sie haben sich selbst bemüht?“

Er ergriff ihren Koffer. „So haben wir während der Fahrt zum Forstschloss bereits etwas Zeit, uns besser kennenzulernen. – Sicherlich haben Sie noch mehr Gepäck?“

„Selbstverständlich.“ Sie grinste. „Ich bin eine Frau.“

„Gut, dass ich nicht mit dem Einspänner gekommen bin.“ Er grinste zurück. „Das Automobil war aufgrund der Unaufmerksamkeit einer Dame allerdings nicht fahrbereit.“

Immerhin konnte er inzwischen über den Unfall scherzen – war das seine Art zu verzeihen?

Sie ging zurück in ihr Abteil, um das restliche Gepäck zu holen. Dabei schoss ihr durch den Kopf, was er eben gesagt hatte. So haben wir während der Fahrt bereits etwas Zeit, uns besser kennenzulernen.