Über das Buch

Ein Sommer in der Provence.

Nach mehr als dreißig Jahren kehrt Ava zum ersten Mal in die Provence zurück – zu jenem Weingut, auf dem sie als Kind viele glückliche Sommer verbrachte und das sie nun von ihrem Großvater geerbt hat. Nach dem Ende ihrer Ehe hofft sie hier auf einen Neuanfang, aber das für seinen preisgekrönten Rosé berühmte Château Saint-Clair ist in einem desolaten Zustand. Der attraktive, junge Provençale Jacques möchte sie dabei unterstützen, das Weingut wiederaufzubauen, doch Ava muss herausfinden, was sie wirklich will – kann sie tatsächlich hier ein neues Leben beginnen?

Ein Roman, so schön und leicht wie ein Sommerabend mit einem Glas Rosé

Über Ruth Kelly

Ruth Kelly reiste in ihrer Kindheit mit ihren Eltern um die ganze Welt, bevor sich die Familie in Somerset niederließ. Sie arbeitete als Fernsehproduzentin und -autorin, schrieb als vielfach ausgezeichnete Journalistin für die »Grazia«, »Daily Mail« und andere große Zeitungen in England und verfasste mehrere Bestseller als Ghostwriterin. Mit Hilfe ebenso vieler Tassen starken Kaffees wie Yogasessions verfasste sie »Das zauberhafte Weingut in der Provence«, den ersten Roman unter ihrem Namen.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson, Kristin Hannah und Imogen Kealey ins Deutsche.

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Ruth Kelly

Das zauberhafte Weingut in der Provence

Roman

Aus dem Englischen von Gabriele Weber-Jarić

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Einunddreißigstes Kapitel

Zweiunddreißigstes Kapitel

Dreiunddreißigstes Kapitel

Vierunddreißigstes Kapitel

Fünfunddreißigstes Kapitel

Sechsunddreißigstes Kapitel

Siebenunddreißigstes Kapitel

Dank

Impressum

Prolog

Provence, Sommer 1985

Ava spuckte die Weintraube aus. »Igitt, die ist aber bitter!«

Ihr Großvater brach in lautes Lachen aus, das prompt in einen Hustenanfall überging.

Fest klopfte er sich auf die Brust. »Weil sie noch nicht reif ist, meine Kleine.« Er hielt die Traube zwischen Zeigefinger und Daumen hoch. Helles Sonnenlicht fiel hindurch und verwandelte die violette Farbe der Frucht in durchsichtiges Lavendelblau.

»Wir müssen die Trauben im richtigen Augenblick erwischen. Deshalb kosten wir sie regelmäßig und testen ihre Süße.« In einer typisch französischen Geste des Überschwangs breitete er die Arme aus. »Und wenn sie reif sind, ernten wir sie!«

Ava kicherte.

»Aber …« Sein Zeigefinger wackelte hin und her, »es gibt nur einen kleinen Zeitraum, in dem der Zauber wirkt.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht drei, vier Tage. Wenn wir diese Zeit verpassen …«

Ava starrte ihn mit offenem Mund an und wartete gespannt auf das Ende des Satzes.

»Dann gibt es eine Katastrophe!«

Nun ging er einfach weiter. Ava stand wie angewurzelt da, zuerst vor Schreck und dann, weil ihr zig Fragen durch den Kopf schossen.

»Also sind die Weintrauben nur ein paar Tage lang reif, Grandpapa?«, rief sie ihm nach.

»Oui. Komm mit.« Ava lief zu ihm. Der trockene Kalkboden knirschte unter seinen staubbedeckten Schuhen. Dann und wann streckte er die Hand aus und berührte die Blätter der Rebstöcke so zärtlich und sanft, als streichelte er einen geliebten Hund.

Ava war ihm dicht auf den Fersen und hielt abrupt inne, wenn er stehen blieb, um die nächste Traube zu kosten.

Unter der brennenden Nachmittagssonne traten ihre Sommersprossen besonders deutlich hervor.

Plötzlich drehte ihr Großvater sich um und sah sie eindringlich an.

»Ich werde dir jetzt ein kleines Geheimnis verraten, Ava«, flüsterte er.

Ava riss die Augen auf und wartete aufgeregt.

»Diese Trauben hier«, er winkte über die Rebenreihen hinweg, »die bilden das Herz meines Weinbergs. Sie stammen von meinen ältesten Rebstöcken. Weißt du, was das bedeutet?«

Ava schüttelte den Kopf.

»Es bedeutet, dass sie am kräftigsten sind. Ihre Wurzeln haben sich tief in die Erde gegraben und erreichen Nährstoffe, an die andere Rebstöcke nicht herankommen.«

Leise ächzend ließ er sich auf die Knie nieder, stützte sich mit einer wettergegerbten Hand auf der Erde ab und umfasste den Stamm eines Rebstocks mit der anderen. Seine Handrücken waren voller Altersflecken.

»Très fort, voller Kraft«, murmelte er und rüttelte ganz leicht an dem Stamm. »Sie saugen Mineralien auf und lassen sie hier entlang in die Höhe steigen.« Er zeichnete den Weg mit dem Zeigefinger nach. »Und dann hierhin.« Fasziniert beobachtete Ava, wie der Finger zu den Früchten hinauf wanderte. Ihr Großvater zupfte die nächste Traube ab. Der Rebstock zitterte kurz, dann stand er wieder still.

»Wenn sie reif sind, werden sie meinem Rosé eine Süße verleihen, wie es keine andere Rebe schafft.«

Er legte die kleine rote Frucht in Avas Hand. Als er sich aufrichtete, knackten seine Knochen.

Ava betrachtete ihren Großvater voller Ehrfurcht, doch er blickte zum Château hinüber. Mit schmalen Augen verfolgte er das Auto ihrer Eltern, das die staubige Zufahrt entlangbrauste.

»Was ist?«, fragte Ava.

Er murmelte etwas auf Französisch.

»Komm, Kleine, ich bringe dich ins Haus.«

Erstes Kapitel

England, November 2017

Ava klemmte sich ihr Handy zwischen Schulter und Ohr, denn die Hände brauchte sie, um mit dem schwerfälligen Schloss ihrer Haustür fertigzuwerden.

Über ihren Nacken liefen Regentropfen, und am Telefon jammerte Mark – sie konnte sich kaum auf das Schloss konzentrieren, doch endlich drehte sich der Schlüssel, und die Tür ging auf.

Erleichtert trat sie ins Warme.

Mark redete unverdrossen weiter, beklagte sich über seinen Arbeitstag. Ava las den kleinen Stapel Post von der Fußmatte auf, ließ die Hausschlüssel in die Schale auf dem Flurtisch fallen und trat ihre feuchten Stiefeletten ab. Dann schälte sie sich aus der nassen Jacke, wickelte ihren geblümten Chiffonschal ab und hängte beides an die Haken neben dem Spiegel.

Sie sah fürchterlich aus, stellte sie fest und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse.

Auf dem Heimweg von der Arbeit war sie in einen Platzregen geraten, der aus ihrem dunklen, schulterlangen Haar klebrige Strähnen gemacht hatte. Außerdem war die Wimperntusche zerlaufen und zog sich in Schlieren über ihre Wangen.

Auf feuchten Socken überquerte sie den Flur zur Küche.

Der Geruch des Chicken Korma vom vergangenen Abend lag noch in der Luft, doch bevor sie lüftete, brauchte sie ein Glas Wein, um den Stress ihres Arbeitstags fortzuspülen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Mark redete pausenlos seit über zwanzig Minuten, hatte es aber noch kein einziges Mal geschafft, sie zu fragen, wie es ihr gehe.

Sie klemmte das Telefon wieder zwischen Ohr und Schulter und schraubte den Verschluss einer Flasche Sauvignon Blanc ab.

Der Weißwein schwappte ins Glas, und sie ließ es beinahe bis zum Rand volllaufen. Dann endlich nahm sie einen Riesenschluck und spürte, wie die Säure in ihrem Rachen brannte.

Mark schaffte es so gut wie nie, einen vernünftigen Wein zu besorgen. Er kaufte Sonderangebote, zwei Flaschen zum Preis von einer, fünfundzwanzig Prozent Rabatt, alles war ihm recht. Verärgert betrachtete Ava die zahlreichen Flaschen Fusel im Weinregal, die noch darauf warteten, geleert zu werden.

Sie unterbrach Mark mitten im Satz und fragte: »Was meinst du, wann du zurückkommst?«

Seit dreieinhalb Wochen war Mark für die Baufirma, für die er arbeitete, im Norden Englands tätig. Ava erinnerte sich dunkel, dass er von einem Autobahnhotel erzählt hatte, das sie in der Nähe von Leeds errichteten.

»Wird nicht mehr lange dauern, mein Schatz. Aber Projekte wie dieses brauchen nun mal ihre Zeit.«

Allerdings sah es Mark nicht ähnlich, so lange fortzubleiben, ohne wenigstens am Wochenende nach Hause zu kommen. Zwar gefiel es Ava nach dreiundzwanzig Jahren Ehe durchaus, ein wenig Zeit für sich allein zu haben, doch langsam wurde es ihr zu viel.

Sie wollte eine konkrete Antwort. »Ich gehe morgen einkaufen, es wäre gut, wenn ich es etwas genauer wüsste.«

»Hör auf, mich zu triezen!«, fuhr er sie an. »Ich habe hier schon genug am Hals.« Im Geist sah Ada, wie sich seine blauen Augen verengten.

Wie so oft in jüngster Zeit ließ sie ihm seinen unfreundlichen Ton durchgehen. Sie hatte gelernt, dass es besser war, Mark nicht zu verärgern.

Stattdessen begann sie damit, die Post durchzusehen. Seine Stimme wurde zu weißem Rauschen.

Sie öffnete den ersten Briefumschlag mit dem Zeigefinger. Er enthielt einen Rabattgutschein ihres Lieblingsmodegeschäfts, und Ava fragte sich, wann sie sich das letzte Mal etwas Neues zum Anziehen gegönnt hatte. Alles, was sie an Geld übrig hatten, gaben sie für Sophie aus – oder für längst überfällige Reparaturarbeiten an ihrem Haus.

Doch wenn sie ganz ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie einfach das Interesse an ihrem Äußeren verloren hatte. Für die Arbeit besaß sie drei Hosenanzüge, und zu Hause trug sie am liebsten einen Schlafanzug und darüber ihre lange blaue Strickjacke, die laut Mark einem Bademantel glich, und das war nicht als Kompliment gemeint.

Sie legte den Gutschein zur Seite. Mark sprach nun über Sophie, die ihr Studium an der Birmingham University begonnen hatte.

»Sie hat mich heute angerufen und wollte einen Hunderter für ein neues Kleid.«

Ihre Tochter wusste genau, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte. Aber er war selbst schuld, er hatte ihr immer jeden Wunsch erfüllt. Ava durfte die Rolle des Bösewichts spielen, die Mutter, die Nein sagte und andauernd gemein war, während Mark der Vater war, der nichts falsch machen konnte.

Ava riss den nächsten Brief auf.

»Sophie hat zig Kleider, die sie noch kein einziges Mal getragen hat«, antwortete sie. »Und – «

Der Rest des Satzes blieb ihr im Halse stecken. Sie schloss die Augen, öffnete sie langsam wieder. Doch die Zahlen auf dem blütenweißen Briefbogen ihrer Bausparkasse starrten sie noch immer unverändert an.

»Ja, aber du weißt doch, wie sie reagiert, wenn wir ihr einen Wunsch abschlagen, und – «

Sie unterbrach ihn. »Mark?«

»Was ist?«

»Das kann nicht wahr sein«, murmelte sie und drehte das Schreiben um. Vielleicht standen die richtigen Zahlen ja auf der Rückseite?

»Was hast du denn?« Mark klang nervös. Es war, als rechnete er bereits mit einer schlechten Nachricht. »Ist alles in Ordnung?« Nicht nur nervös, sondern auch schuldbewusst. Nach gut zwanzig gemeinsamen Jahren kannte Ava jede Nuance seiner Stimme.

»Nein, ist es ganz und gar nicht. Unsere Bausparkasse behauptet, dass wir seit sechs Monaten mit der Ratenzahlung im Verzug sind.«

An diesem Punkt hätte Mark sich empören und die Bausparkasse als einen Haufen unfähiger Schwachköpfe bezeichnen müssen, stattdessen schwieg er.

Avas Magen zog sich zusammen.

»In ihrem Brief steht, dass wir ihnen fünfzehntausend Pfund schulden.«

Mark war noch immer still.

»Das Haus soll beschlagnahmt werden«, fuhr sie fort, nun eindeutig panisch, ihre Stimme überschlug sich. »Mark, hörst du mir überhaupt zu?«

Einen Moment lang fragte sie sich, ob er aufgelegt hatte, doch dann hörte sie ihn einatmen und in geschäftsmäßigem Ton antworten.

»Das regle ich schon, bleib bitte ganz ruhig.«

Ruhig? Das Wort wirkte auf sie wie ein rotes Tuch.

»Wir verlieren unser Haus und ich soll ruhig bleiben?«

Mark hatte von jeher die Gabe besessen, Tatsachen zu verdrehen und Dinge schönzureden. Ava hatte einen Großteil ihrer Ehe damit zugebracht, sich für Fehler zu entschuldigen, die eigentlich seine gewesen waren.

»Ohne dich hätten wir das Problem nicht! Was meinst du, was es mich kostet, dich und Sophie zufriedenzustellen? Und zum Dank habe ich nun Schulden.«

Ava zählte weiß Gott nicht zu den Frauen, die von ihren Männern teure Geschenke erwarteten. Sie dachte nicht materialistisch, sondern neigte eher dazu, ihre Wünsche ganz hintanzustellen.

Für einen Moment raubte sein Vorwurf ihr die Sprache, doch dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Wo ist das Geld geblieben, Mark? Was hast du damit gemacht?«

Tief in seinem selbstsüchtigen Herzen wusste auch Mark, dass Ava ihn noch nie gezwungen hatte, Geld für sie auszugeben. Und so gern er ihr die Schuld in die Schuhe geschoben hätte, diesmal musste er klein beigeben.

Wie sich herausstellte, hatte er mehrere Zehntausend Pfund bei einem Immobilienprojekt an der Costa del Sol verloren.

Ava schaffte es gerade noch bis zu einem Hocker am Frühstückstresen, dort hielt sich fest, bis der Schwindel nachließ.

Kredithai. Im Geist wiederholte sie das Wort, das Mark benutzt hatte, als könne es ihr helfen, die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage zu begreifen.

»Ein Kredithai?«

»Ja, irgendwo musste ich das Geld zur Investition ja hernehmen. Und dann ist der Deal geplatzt.«

Vor ihrem inneren Auge stapelten sich die Schulden zu einem Turm, der jeden Moment über ihnen zusammenbrechen würde.

»Wer ist dieser Kerl?«

Mark räusperte sich. »Das muss dich nicht kümmern, Liebling.«

Ava stellte sich den Rest der Geschichte vor.

»Du hast den Betrag noch nicht zurückgezahlt, oder?« An die Höhe der Zinsen wollte sie gar nicht erst denken.

Der Himmel mochte wissen, was sie getan hätte, wenn Mark in diesem Moment vor ihr gestanden hätte. In ihrem ganzen Leben war sie noch nicht so wütend und enttäuscht gewesen, hatte sie sich nicht so hintergangen gefühlt.

Gerade als sie dachte, schlimmer könnte es nicht werden, sagte Mark, dass er nicht nach Hause käme, um mit ihr nach Lösungen zu suchen.

»Ich glaube, das wäre für dich nicht gut. Ich möchte außerdem nicht, dass eine Spur zu unserem Haus führt. Lass mich das regeln. Du weißt, dass ich dich liebe und du mein Ein und Alles bist.«

Avas Wut wurde schlagartig von Angst abgelöst.

»Mark, bitte, du musst zu mir kommen. Du kannst mich jetzt nicht alleinlassen!« Tränen traten in ihre Augen.

In einem verzweifelten Versuch, die Distanz zu überbrücken, stellte sie sich sein Gesicht vor – die attraktiven, markanten Züge, das freche Grinsen, den dunklen Bartschatten.

»Sei stark, für mich und für Sophie«, sagte Mark nur zum Abschied.

Ava hatte zu weinen begonnen. »Bitte, Mark …«

Sie wollte ihn fragen, wann er sich wieder melden werde, doch er unterbrach sie und verkündete, er müsse nun Schluss machen. Dann war er fort und mit ihm das Leben, das sie bisher gekannt hatte.

Für eine Weile saß Ava benommen und reglos in der stillen Küche.

Sie sah sich um. Die Küche war voller Erinnerungen. Zehn Jahre lang hatten sie gespart, um sich dieses kleine Reihenhaus leisten zu können. Nun fühlte sie sich allein wie nie zuvor in ihrem Leben.

Sie nahm das Glas Wein, leerte es in einem Zug und verzog das Gesicht, als sie die Säure schmeckte. Dann griff sie nach der Flasche, schenkte sich das nächste Glas ein und trank.

Sie starrte auf die Terrassentür, folgte wie gebannt den Regentropfen, die über die Glasscheibe rannen. Sie wischte sich über die Augen und versank in Grübeleien.

Wie konnte das bloß geschehen sein?

Natürlich hatte sie nichts gemerkt. Sie hatten getrennte Konten – Mark kümmerte sich um die Hypothekenzahlungen und ihre Kreditkarten, sie beglich die Gas- und Stromrechnungen. Ihr Gehalt als Empfangsdame war nicht wirklich der Rede wert. Sie hatte einen undankbaren Job in einem Verkaufshaus von Range Rover, wo sie sich meistens mit arroganten Londonern, die aufs Land gezogen waren, abgeben musste. Leute mit Geld, aber ohne Manieren.

Dabei hatte sie immer von einer eigenen Konditorei geträumt. Sie hatte selbst backen wollen, alles vom einfachen Zitronenkuchen bis zur Schwarzwälder Kirschtorte, hatte kreativ sein und ihre Kunden glücklich machen wollen.

Sie nahm noch einen Schluck und fragte sich, was aus ihrem Leben geworden war.

Wie hatte Mark so dumm sein können, ihr Geld bei einem zwielichtigen Immobilienprojekt zu verspielen? Sie wusste, dass er ein Träumer war, das hatte ihr anfangs an ihm gefallen, die kühnen Ideen. Sie hatte sich gesagt, eines Tages würde ihm der große Coup gelingen.

Ihre Freunde hatten sie vor ihm gewarnt und versichert, wenn sie ihn heirate, werde es ihr später leidtun. Sie hatte nicht auf sie gehört. Das tat man nie, wenn man verliebt war.

Die Folge davon war, dass sie nun kaum wusste, an wen sie sich Hilfe suchend wenden konnte. Die Freunde von früher hatten ihr den Rücken gekehrt, wollten nicht mehr hören, wie sie Mark verteidigte. Sollte sie nun reumütig zu ihnen zurückkriechen?

Wieder griff sie nach ihrem Glas.

Sie hatte gehofft, der Wein würde sie betäuben, doch stattdessen steigerte er ihre Panik. Tausende Fragen rasten ihr durch den Kopf, bis sie es nicht mehr ertrug, auch nur eine Sekunde länger allein zu sein.

Sie nahm das Telefon und scrollte durch die Liste der zuletzt getätigten Anrufe. Es gab nur einen Menschen, der infrage kam, jemand, der sie nicht mit einer Ladung von »Habe-ich-es-dir-nicht-gesagt?« bombardieren würde.

Emilia hob nach dem dritten Klingelton ab.

»Was ist passiert?«, fragte sie anstatt einer Begrüßung, als schwante ihr bereits Böses.

Ava wusste nicht, wo sie anfangen sollte, und kämpfte wieder mit den Tränen.

»Es geht um Mark. Diesmal hat er wirklich Mist gebaut.«

»O Gott. Ist es so schlimm?«

»Ja. Kannst du bitte herkommen?«

Emilia wohnte in der Nähe. Bereits in der Schule hatten sie sich geschworen, nie weiter als eine halbe Stunde voneinander entfernt zu leben, und daran hatten sie sich gehalten. Obwohl Emilia ihren Mann hatte zwingen müssen, mit ihr nach Surrey zu ziehen – wenn sie wollte, konnte sie sehr überzeugend und beharrlich sein.

Mark mochte Emilia nicht. Ava nahm an, dass sie ihm zu resolut war. Eine Frau, die ihren eigenen Willen durchsetzte, war ihm nicht geheuer.

Emilia wäre nie in diese Situation geraten, dachte Ava. Sie zog zwei Flaschen Wein aus dem Regal und trug sie leicht schwankend ins Wohnzimmer.

Sie stellte alles auf den Tisch, ließ sich auf das Sofa fallen und starrte an die Decke. Sie fühlte sich elend. Immer wieder ging sie das Telefonat mit Mark durch, spürte erneut den Schock und versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern. Plötzlich kam ihr ein Gedanke.

Sie setzte sich auf.

Wenn Mark die Hypothekenschuld vor ihr verborgen hatte, was hatte er dann noch für Geheimnisse?

Mit neuer Kraft, gespeist aus Wut und Alkohol, stürzte sie an Marks Schreibtisch, ein Monstrum aus lackiertem Kiefernholz. Eine Schublade nach der anderen riss sie auf und durchsuchte den Inhalt nach Hinweisen.

Der Vertrag eines Fitnessstudios, ein Parkausweis, eine Schachtel Büroklammern, ein Hefter, ein altes Handy von Nokia, das wahrscheinlich seit zehn Jahren kein Tageslicht mehr gesehen hatte. Sie wühlte weiter, warf die Sachen auf die Erde, wie ein Hund, der im Garten nach einem Knochen gräbt.

Die unterste Schublade rechts ließ sich nicht öffnen, ganz gleich wie fest sie daran zog. Ava sah sie böse an und lief wieder in die Küche, um etwas zum Öffnen zu suchen. Sie war nun wie besessen.

Sie kehrte mit einem Schraubenzieher zurück. Sie hatte noch nie etwas aufgebrochen und fand es wundervoll, ihre Wut an der Schublade auslassen zu können.

Sie stach auf das Schloss ein, rüttelte an der Schublade, stach erneut zu. Holzspäne flogen durch die Luft, dann hatte sie um das Schloss herum ein Loch herausgestanzt, das groß genug war, um mit den Fingern hindurchzukommen.

Mit einem Triumphschrei zog sie die Schublade auf.

Mit hämmerndem Herzen schaute sie hinein und hatte plötzlich Angst, etwas Furchtbares zu entdecken. Der Mark, den sie kannte, hielt nichts unter Verschluss – aber kannte sie ihn tatsächlich? Unschlüssig starrte sie auf den Inhalt – einen Haufen Unterlagen und aufgerissene Umschläge, alles kreuz und quer, als wäre jemand in Eile gewesen.

Zur Beruhigung atmete Ava tief durch, dann stürzte sie sich auf den Inhalt.

Selbst stundenlange Yoga-Atemübungen hätten sie nicht auf ihren Fund vorbereiten können.

Mit zitternden Händen zog sie die Kreditkartenauszüge hervor, deren Verfügungsrahmen längst ausgeschöpft waren. Achttausend Pfund waren am zweiten Februar abgebucht worden. Siebentausend Pfund von einer Kreditkarte, von deren Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte. Und so weiter und so fort.

Ihre Umgebung begann sich vor ihr zu drehen, so schnell, dass die Zahlen auf den Auszügen verschwammen. Ava sackte in sich zusammen und schluckte krampfhaft, um sich nicht zu übergeben.

Sie drückte eine Hand auf ihren Magen und schloss die Augen.

Wie konnte Mark ihr das antun? Wer war er wirklich? Innerhalb weniger Minuten war aus ihrem langjährigen Ehemann ein Fremder geworden.

Der Cocktail aus Geheimnissen, Lügen und billigem Wein war zu viel. Ava nahm die Embryonalhaltung ein und brach in raue Schluchzer aus.

Zweites Kapitel

England, Februar 2018

Gähnend drehte Ava sich auf den Rücken und wäre beinahe aus dem schmalen Gästebett gerutscht.

Als ihr einfiel, wo sie war, kroch sie tiefer unter die Bettdecke und starrte vor sich hin. Nun kam ihr auch wieder ins Bewusstsein, was aus ihrem Leben geworden war.

Vor vier Monaten hatte sie entdeckt, dass ihr Mann ihr ganzes Geld verschleudert hatte. Das Haus, das sie geliebt, in das sie all ihre Kraft investiert hatte, um daraus ein Heim zu machen, war an die Bank zurückgegangen und stand zum Verkauf. Und als wäre das nicht genug, lebte Mark nun mit einer Kollegin aus der Buchhaltung zusammen. Es war nichts »Festes«, wie er erklärte. Er habe sich mit ihr zusammengetan, weil Ava gesagt habe, sie brauche Zeit, um über das, was er angerichtet hatte, hinwegzukommen. Das habe er als Trennungswunsch interpretiert. Er hatte geschworen, dass vorher nichts gelaufen sei, aber das war wahrscheinlich auch gelogen. Emilia bezeichnete es als den letzten Bullshit. Ava war nicht mehr in der Lage, überhaupt noch irgendetwas zu beurteilen.

Ihr ganzes Leben lag in Trümmern. Sie logierte in Emilias Gästezimmer, inmitten von Koffern und Reisetaschen, in die sie ihre verbliebenen Sachen gestopft hatte.

Ihr Blick fiel auf eine winzige Spinne, die über die Decke kroch. Sie überlegte, ob sie einfach liegen bleiben solle, so lange, bis alles wie durch Zauberhand wieder in Ordnung gekommen war. Aber das würde Emilia nicht zulassen.

Wie aufs Stichwort ertönte ihre Stimme aus der Küche: »Ava, bist du schon wach?«

Ava stemmte sich hoch und sammelte ihre Kräfte, um das Bett zu verlassen. Ihre Füße sanken in den dicken, flauschigen Teppich ein. Ihre Haare standen wahrscheinlich in alle Richtungen ab, doch das war ihr gerade herzlich egal. Sie tappte in die Küche.

Wie üblich raste Emilia schon früh am Morgen wie eine Mücke auf Speed herum.

Ava schleppte sich zum Frühstückstresen, hievte sich auf einen Hocker, stützte die Ellbogen auf die Platte und den Kopf auf die Hände.

»Sei nicht so schlaff!« Emilia stieß sie in die Seite. Ava schrak zusammen. Emilia knallte eine Schale mit Milch und Cornflakes vor sie. Lustlos rührte Ava darin herum.

»Du musst mir kein Frühstück machen.«

»Weiß ich.«

Emilia flitzte weiter herum und kippte einen Espresso, als wäre es Schnaps.

»Du und Paul, ihr müsst doch langsam genug von mir haben.«

Ava schlürfte einen Löffel aufgeweichte Cornflakes.

Emilia seufzte und schien sich zur Ruhe zu zwingen.

»Du kannst hier so lange bleiben, wie du möchtest. Das habe ich dir schon tausend Mal erklärt.«

»Ich weiß. Aber ich will euch nicht im Weg – « Avas Stimme brach.

Emilias Miene wurde liebevoll. Sie legte einen Arm um Ava und drückte sie an sich.

Ava versuchte halbherzig, sich zu befreien. »Lass, es geht schon.«

»Nein, tut es nicht.« Emilia drückte sie noch fester an sich, und Ava überließ sich dem Trost ihrer Arme.

Schließlich löste sie sich von ihrer Freundin und holte tief Luft, um noch ein paar Löffel Cornflakes zu essen und es dann irgendwie durch den Tag zu schaffen.

»Und?« Emilia verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du was von ihm gehört?«

Ava schüttelte den Kopf und fühlte sich noch schlechter. Nach der monatelangen Trennung fragte sie sich, ob das wirklich der richtige Schritt gewesen war.

»Es läuft alles über unsere Anwälte.«

»Gut. Du willst auch nichts mehr von ihm hören! Du brauchst Freiraum, um dich wieder aufzubauen.«

Avas Brust schnürte sich zusammen.

Emilias Blick wurde misstrauisch.

»Du willst ihn nicht wiederhaben, okay?«

Ava schwieg.

»Nach allem, was er getan hat, kannst du ihn gar nicht wiederhaben wollen. Der Geier weiß, was diese Frau in ihm sieht, Geld kann es nicht sein, er hat ja keins. Für ihn ist es was anderes, er hat jemanden gefunden, der ihn aushält. Aber lange geht das nicht gut.«

Emilia hatte aus ihrer Verachtung für Mark nie einen Hehl gemacht. Ava erinnerte sich an ein Essen bei einem Italiener. Emilia hatte sie ermuntert, sich ihren Herzenswunsch zu erfüllen und an einem Backkurs teilzunehmen. Mark hatte sich beinahe an seiner Pasta verschluckt. Hustend und röchelnd forderte er Emilia auf, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern – und Emilia ging ab wie eine Rakete. Die beiden gerieten sich in die Wolle, bis Ava ihrem Mann versicherte, sie habe nicht vor, ihre Stelle als Empfangsdame aufzugeben.

Ava war ihrer Freundin für ihren Beistand dankbar, doch ihre Motivationsreden machten sie oft einfach nur fertig.

»Ich bin stolz auf dich, Ava. Ich weiß, das müsste ich öfter sagen.«

»Bist du das wirklich?«

»Ja. Du hast es bis hierher geschafft, du darfst jetzt nicht aufgeben. Du bist an einem Tiefpunkt. Sich von jemandem zu trennen, ist furchtbar. Man denkt, es wäre das Ende der Welt, und fühlt sich, als wäre jemand gestorben. Man glaubt, das Leben würde nie mehr weitergehen und das Elend nie ein Ende nehmen.«

Ava runzelte die Stirn. Sollten das tröstende Worte sein?

»Aber es wird dir auch wieder besser gehen, das verspreche ich dir. Wenn du erst die Scheidung beantragt und herausgefunden hast, was du mit deinem Leben anfangen willst …«

»Scheidung?«, unterbrach Ava ihre Freundin verwirrt. »Wie kommst du denn darauf? Ich nehme mir bloß eine kleine Auszeit … ich meine … Mark und ich haben uns nur vorübergehend getrennt, und ich …« Sie seufzte tief. »Eigentlich weiß ich gar nichts mehr.«

Sie beugte sich wieder über ihre Cornflakes. Ihr Kopf war voller konfuser Gedanken. Aber »Scheidung«, das klang so ernst, so endgültig. Es bedeutete, zuzugeben, dass ihre Ehe gescheitert war, und das wäre schrecklich. Was würde sie ohne Mark tun? Die Vorstellung, im Alter von dreiundvierzig Jahren noch einmal neu anzufangen, war schlimmer als der Gedanke, obdachlos zu sein, Zigtausend Pfund Schulden zu haben oder ihrem Mann eines Tages die andere Frau verzeihen müssen. Es war sogar noch schlimmer, als sich auszumalen, wie sie nach seiner Rückkehr ihren Stolz hinunterschlucken müsste und ihn trotz allem nicht kritisieren dürfte. Und er würde bestimmt zurückkommen! Er musste nur noch erkennen, dass etwas Neues nicht unbedingt etwas Besseres war. Vielleicht war Mark kein idealer Ehemann, aber er war der einzige, den sie hatte. Ihre ganze Identität hing von dem Leben ab, das sie zusammen errichtet hatten. Wer wäre sie denn, wenn es dieses Leben nicht mehr gäbe?

Emilia war anders, sie verstand nicht, wie man sich von einem Mann so viel Mist bieten lassen konnte. Bei Mark versagte ihr Mitgefühl. Sie wollte nichts mehr von ihm hören.

Emilia trat an das geöffnete Fenster, steckte sich eine Zigarette an und inhalierte gierig.

»Ich weiß nicht einmal, ob er sich inzwischen einen Überblick über seine Schulden verschafft hat.« Wie weit sie sich schon auseinandergelebt hatten, dachte Ava unglücklich.

»Wen interessiert das? Das ist nicht mehr dein Problem.«

»Aber wenn Kredithaie hinter ihm her sind, dann – «

Emilia ließ sie nicht ausreden. »Du sollst kein Mitleid mit ihm haben!«

»Habe ich nicht.«

»Auch nicht mit dir selbst.«

»Nicht mal ein kleines bisschen?«

Emilia ließ eine Rauchwolke über den Mundwinkel entweichen und wedelte sie mit der Hand aus dem Fenster.

Ava sah sie vorwurfsvoll an. »Machst du Paul noch immer vor, dass du nicht mehr rauchst? Warum bist du nicht ehrlich? Denk an die Geheimnisse, die es in meiner Ehe gegeben hat, und wohin sie geführt haben.«

»Es ist nur eine Zigarette, Schätzchen, weiter nichts.« Emilia drückte die Kippe in den Topf mit den vertrockneten Kräutern auf der Fensterbank und warf einen Blick auf ihre Uhr.

»Verdammt, ich komme zu spät zur Arbeit.« Sie deutete auf die Tür zum Bad. »Du auch! Also los. Bist du zum Abendessen hier?«

Ava schüttelte den Kopf. »Sophie kommt doch dieses Wochenende zu Besuch. Wir treffen uns zum Abendessen in einem Restaurant.«

»Wie schön. Grüß sie von mir! Sie kann auch bei uns unterkommen, wenn sie mag.«

Unterkommen, dachte Ava, das traf es genau. Sie lebte wieder wie eine Studentin, auf die Stufe ihrer achtzehnjährigen Tochter zurückentwickelt – hatte Haus und Mann verloren.

»Danke, richte ich ihr aus.«

Emilia stopfte die letzten Utensilien in ihre Handtasche. »Handy, Schlüssel, Zigaretten, Kaugummi …« Ihre Hand fuhr in den V-Ausschnitt ihrer maßgeschneiderten weißen Bluse, um die Polsterung ihres Push-up BHs zurechtzurücken.

»Wie sehe ich aus?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich um die eigene Achse: Sie trug einen Bleistiftrock, High Heels und eine ausgeschnittene Bluse. Das platinblonde Haar hatte sie auf der Seite gescheitelt und zerzaust, was verführerisch wirkte und Assoziationen von Emilia im Bett weckte.

Ada glitt von ihrem Hocker. Im Gegensatz zu ihrer Freundin, die immer stylisch war, trug sie einen ausgeblichenen Schlafanzug mit einem Muster aus kleinen Pinguinen, in dessen Hose das Gurtband fehlte. Sie schlurfte in Richtung Badezimmer.

»Nicht aufgeben«, rief Emilia ihr nach. »Bleib stark!«

Gleich darauf fiel die Haustür zu. Ava atmete auf. Endlich musste sie nicht mehr so tun, als hätte sie den Willen, zur Arbeit zu gehen.

Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf das Wohnzimmersofa. Sie könnte sich unter einer Decke verkriechen, den ganzen Tag Netflix-Filme schauen, Chips und Schokolade essen, und kaum jemand würde es merken.

Dann dachte sie an ihren elenden Job, an ihren Drecksack von Chef, und öffnete seufzend die Badezimmertür.

***

Acht Stunden lang saß sie am Empfang von Gary Lovetts Autohaus in der Hauptstraße, starrte auf die Menschen, die an den Schaufenstern vorbeiliefen, und den grauen Himmel, der hier und da zu sehen war. Es war heute sogar noch schlimmer, als sie befürchtet hatte.

Wenn Gary, ihr Chef, nicht gerade dabei war, einem trotteligen Londoner einen Wagen mit Allradantrieb anzudrehen, stützte er sich mit den Ellbogen auf den Empfangstresen und trug Avas Brüsten Sinnsprüche vor. An diesem Tag gab es zum Beispiel: »Wenn Fußball mir etwas über das Geschäftsleben beigebracht hat, dann, dass du immer nur ein Spiel auf einmal gewinnen kannst.« Auch den nächsten Spruch richtete er an ihre Brüste: »Wenn Sie es geschickt anstellen, sind Sie eines Tages da, wo ich jetzt bin.« Er zwinkerte ihnen zu. Allein bei seinem Anblick fühlte Ava sich dreckig.

In der letzten Stunde vor Arbeitsende beobachtete sie die Uhr, als würde sie nur dafür bezahlt, zählte erst die Minuten, dann sogar die Sekunden. Exakt zwei Minuten vor Beginn ihrer Freiheit nahm Ava ihre schlammfarbene Jacke von ihrer Stuhllehne und griff nach ihrer Handtasche. Sie wollte gerade aufstehen, als Gary einen Brief auf den Tresen legte.

Dann lockerte er Krawatte und Kragen.

»Sind wir etwa schon auf dem Weg nach Hause?«

Ava blickte noch einmal auf ihre Uhr. Sie hatte den Uhrzeiger wie besessen verfolgt, sie konnte sich nicht geirrt haben.

»Es ist sechs Uhr«, erklärte sie. Doch Gary war aus einem bestimmten Grund gekommen.

»Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Sie wieder auf dem Markt sind.« Er wackelte mit den Augenbrauen.

Ava warf Gemma aus dem Verkauf einen bösen Blick zu. Gemma schaute schnell weg und tat beschäftigt.

»Das ist mir neu. Soweit ich weiß, bin ich noch immer verheiratet.«

»Aber im Begriff, sich scheiden zu lassen?« Gary bohrte seine Zunge in die Innenseite seiner Wange.

Diese Frage schien eher eine Aussage zu sein. Ava wünschte, sie könnte sich verkriechen, aber sie saß inmitten eines großen Ausstellungsraums.

»Ich bin nicht im – «

»Wenn man ein erfolgreiches Geschäft führen will, muss man wissen, wann es Zeit zur Schadensbegrenzung ist.« Gary betastete sein zurückgekämmtes Haar, um zu prüfen, ob es noch gut festgeklatscht war.

Ava verdrehte die Augen. »Interessant.«

Er beugte sich vor. »Bei einem guten Angebot schlägt man zu.«

Ava fragte sich, wovon er redete.

»Na dann.« Sie wollte unbedingt gehen und stand auf. Garys Blick wanderte anzüglich über ihren Körper. Sie war schon fast an der Tür, als er ihr nachrief:

»Ich habe etwas für Sie.«

Ava schloss die Augen, zählte stumm bis zehn und öffnete sie wieder.

»Was denn?« Sie drehte sich zu Gary um.

Er hielt den Brief hoch.

»Es war nicht nur Gemma. Die Post hierher umleiten zu lassen, ist ein weiteres Indiz.« Er tippte an seine Nase.

Ava lächelte mit zusammengebissenen Zähnen und kehrte zurück. Doch als sie nach dem Brief greifen wollte, riss Gary ihn an sich und ließ ihn vor ihrer Nase baumeln.

»Herrgott nochmal«, murmelte sie.

»Vielleicht treffen wir uns irgendwann auf einen Drink?« Er wedelte spielerisch mit dem Brief.

»Nein.«

»Nur einen kleinen nach der Arbeit.«

»Nein!« Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte sie ihn auf, ihr den Brief zu geben.

Nach kurzem Zögern gehorchte er endlich. Ava steckte den Brief in ihre Handtasche.

»Denken Sie darüber nach. Ich bin nicht mehr lange zu haben!«, rief er ihr nach. »Wenn Sie Nein sagen, könnten Sie es später bereuen.«

Kopfschüttelnd und erschöpft griff Ava nach der Türklinke.

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Drittes Kapitel

Der Weg zu dem Restaurant, wo sie sich mit ihrer Tochter verabredet hatte, führte nicht direkt an ihrem alten Haus vorbei, deshalb fuhr Ava einen Umweg, sie konnte einfach nicht anders.

Sie drosselte ihr Tempo, als sie in die Sackgasse einbog, in der sie gewohnt hatte, und fuhr im Schneckentempo bis zur Nummer 21. An dem roten Backsteinhaus mit dem Zu-Verkaufen-Schild vor der Tür hielt sie an.

Sie erinnerte sich an den Tag ihres Einzugs, als wäre es gestern gewesen. Mark hatte sie leidenschaftlich geküsst und durch die weiß gestrichene Veranda hindurch über die Schwelle getragen. Sie wusste noch, wie unromantisch ihre Füße gegen den Türpfosten geknallt waren. Sophie war damals noch ein Kind und voller Energie. Sie rannte die Treppe im Haus rauf und runter und rief, dass sie ein Zimmer wie in einem Schloss wolle, mit Prinzessinnenbett und komplett in Rosa. Mark hatte es ihr natürlich versprochen.

Der graue Himmel schien schwer auf das Dach des Hauses zu drücken. Auf Avas Windschutzscheibe fielen die ersten Regentropfen. Plötzlich wirkte das einst so hübsche Häuschen kalt und abweisend, es war nur noch eine leere Hülle. Ein Teil der Möbel, die sie sich mühsam erspart hatten, war zum Bruchteil ihres Werts an einen Trödler verkauft worden, der Rest auf einer Müllhalde gelandet. Ihr Lieblingssofa wurde noch immer zum Kauf angeboten, Ava hatte in der vergangenen Woche nachgesehen. Die Überreste ihrer glücklichen Vergangenheit zu besuchen, war für sie zu einem masochistischen Ritual geworden.

»Glücklich« war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck für ihr früheres Leben, doch es hatte zumindest glücklich begonnen – voller Träume und Hoffnungen.

Ava hatte Mark im letzten Studienjahr kennengelernt. Er war der Student, der die Professoren wahnsinnig machte: klug, aber zu faul, um sein Potential zu nutzen.

Stattdessen heckte er lieber Pläne aus, wie man schnell zu Geld kommen konnte. Ava erinnerte sich an Abende, an denen sie sich im Haus seiner Eltern in sein Zimmer auf dem Dachboden verzogen hatten. Sie hatte immer den Kopf an seine Brust gelegt und zugehört, wie er ihr seine Ideen vortrug, sich vom steten Fluss seiner Worte einlullen lassen. Von einer Billigmarke für Kleidung war die Rede gewesen, die er über das Internet vertreiben wollte. Dann von einem Nachtclub. Dann hatte er erfahren, dass der Freund eines Freundes dringend mehrere Kisten Chardonnay aus Neuseeland losschlagen wollte, und die Idee eines niedrigpreisigen Weinladens wurde geboren.

Bei allem war Ava bereit gewesen, ihn zu unterstützen, denn ihr gefiel sein Elan. Er wiederum hatte anfangs lobend von ihrer Kreativität gesprochen und sie ermuntert, etwas daraus zu machen.

Ava backte leidenschaftlich gern, je komplizierter ein Rezept war, desto besser. Sie hatte vorgehabt, in einem Kurs zu lernen, wie man Torten verzierte, doch dann wurde Sophie geboren, und alles war anders geworden. Plötzlich war sie eine junge, berufstätige Mutter, die darüber hinaus kochen und einen Haushalt bewältigen musste. Folglich verschob sie die Verwirklichung ihrer Wunschträume auf später, immer weiter, bis sie allmählich verpufften.

Mark nahm eine Stelle bei einer Baufirma an und konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. Die übrige Zeit widmete er Sophie.

Mit der Zeit, jedoch so langsam, dass man es zuerst kaum wahrnahm, wurden sie wie Schiffe, die sich nur nachts kurz begegneten. Sie waren die Eltern einer bezaubernden Tochter, füreinander jedoch nur noch etwas mehr als Freunde.

Ava tröstete sich mit Geschichten von anderen Ehen, die nicht viel anders als ihre waren. Die meisten Ehefrauen von Marks Freunden hatten ihre Karriere zugunsten ihrer Familien aufgegeben. So gut wie alle klagten über ihr fehlendes Sexualleben. Avas Freundin Emilia zählte zu den wenigen Ausnahmen, die es geschafft hatten, sich beides zu erhalten.

Durch den einsetzenden Regen betrachtete Ava das Haus Nummer 21, wo sie so schwer und so oft dafür gekämpft hatte, ein Heim zu schaffen und ihre Familie zusammenzuhalten. Und wozu war das gut gewesen?

Sie tupfte eine Träne ab, doch neue quollen hervor, zu viele, um sie noch wegwischen zu können.

Sie versuchte, sich das Haus vorzustellen, in dem Mark nun mit ihr lebte. Wahrscheinlich war es makellos wie ein Vorführhaus, voller weicher, cremefarbener Sitzmöbel und mit einem dieser schicken Poufs, auf den er nach einem harten Arbeitstag die Füße legen konnte. Womöglich massierte sie ihm die auch, überschüttete ihn mit Aufmerksamkeiten, sah ihn mit verführerischem Lächeln unter blonden Locken hervor an. Sie hieß Gabby – in den vergangenen Monaten hatte Ava immer wieder ihre Facebook-Fotos studiert und sich dadurch ein Bild von ihr gemacht.

Beim Gedanken an diese Frau schnürte sich ihre Brust zu, und ihr Herz fing an zu rasen. Ihr Gesicht war tränennass, durch ihre verstopfte Nase bekam sie keine Luft mehr.

Mit unsteter Hand versuchte sie, den Motor zu starten und ihr Seitenfenster herunterzulassen. Doch es dauerte zu lang. Sie stieß die Tür auf und stürzte ins Freie. Schwer atmend lehnte sie sich gegen das Chassis und überließ sich dem Regen und der Kälte.

Bei den Bakers im Haus Nummer 23 bewegte sich die Gardine, doch das war ihr einerlei. Gierig sog sie die kühle, feuchte Luft ein und spürte, wie der Druck auf ihrer Brust langsam nachließ.

Tief einatmen und in drei kurzen Stößen ausatmen.

Der Regen war stärker geworden, doch Ava rührte sich nicht. Selbst als ihre Jacke durchweicht war, stieg sie nicht in ihr Auto, sondern betrachtete weiter ihr ehemaliges Haus. Die Mängel des Gebäudes, die Probleme ihrer Ehe, ihr Schmerz, all das wirkte plötzlich sehr weit weg, und sie hatte nur noch den Wunsch, in ihr früheres Leben zurückzukehren, wieder in ihre alte Haut zu kriechen und es im zweiten Anlauf besser zu machen.

Die Gardine eines Fensters der Nummer 23 wurde zurückgezogen. Mrs Baker presste ihre Nase an die Fensterscheibe. Im Geist hörte Ava sie sagen: »Was um alles in der Welt tut diese Person da?«

Mr Baker öffnete die Haustür, ein Lichtstreifen fiel auf die Straße, doch bevor er etwas rufen konnte, klingelte Avas Handy.

Ava löste sich aus ihrer Starre. Sie warf sich in den Wagen, zerrte die Handtasche aus dem Fußraum hervor und spürte dabei, wie der Schaltknüppel unangenehm in ihren Magen drückte.

»Hallo, Süße, bin schon auf dem Weg«, sagte sie hastig.

»Ich stehe vor Tante Ems Haus im Scheißregen«, antwortete Sophie. »Wo bist du?«

Ava hasste es, wenn ihre Tochter ausfällig wurde.

»Ich dachte, wir treffen uns im Restaurant.«

»Ich will zuerst meine Sachen irgendwo abstellen. Wie lange brauchst du noch? Mir ist kalt und ich werde nass und Tante Em ist nicht da.«

»Tante Em ist – «

»Wie lange, Mum?«

Für einen Moment schloss Ava die Augen und wünschte, Sophie würde sie ein einziges Mal mit dem gleichen Respekt behandeln, den sie für ihren Vater hatte. Sie hing an ihrer Tochter und konnte nicht fassen, wie selbstsüchtig sie geworden war. Am liebsten hätte Ava ihr erklärt, wie sehr ihre herablassende Art sie verletzte, doch ihr war kalt, und sie war nass und zu müde, um sich zu streiten.

»Zehn Minuten, höchstens.«

»Beeil dich.«

Ava steckte ihr Handy wieder in die Handtasche und stellte fest, dass der Brief herausgefallen war. Sie hob ihn auf, drehte ihn hin und her. Ein Luftpostbrief.

Aus ihrem regennassen Haar fiel ein Tropfen und landete genau auf ihrem Namen in der Adresse.

Madame Chiltern.

Wie lange es schon her war, dass sie ein Wort auf Französisch gelesen hatte.

Ein Luftpostbrief aus Frankreich. Abgestempelt in einem Ort der Provence.

Dort gab es nur einen Menschen, den sie kannte, und mit ihm hatte sie seit über dreißig Jahren nicht mehr gesprochen.

Als sich jemand in nächster Nähe räusperte, fuhr sie zusammen.

»Ist alles in Ordnung?«

Es war Mr Baker mit einem großen schwarzen Regenschirm, der sie besorgt ansah.

»Ja, danke«, sagte Ava und versuchte vergebens, sich die Nässe mit dem ebenso feuchten Jackenärmel aus dem Gesicht zu wischen.

»Alles bestens«, ergänzte sie. »Kein Grund zur Aufregung.« Sie lächelte und nahm an, dass sie gerade wohl ziemlich verrückt aussah.

»Sehr schön.« Mr Baker trat zurück.

Peinlich berührt schloss Ava die Wagentür, ließ den Motor an und wendete den Wagen. Gleich darauf raste sie aus der Sackgasse und fort von ihrem geliebten Haus. Aus dem Augenwinkel sah sie den Luftpostbrief auf dem Beifahrersitz liegen.

Viertes Kapitel

Provence, Sommer 1985

Ich will nicht weg von hier!« Ava schrie es immer wieder, bis sie keine Luft mehr bekam.

»Du tust, was ich dir sage!« Ihre Mutter packte ihr Handgelenk und zerrte sie zum Wagen.

»Lass mich los, lass mich los! Grandpapa, hilf mir!«

Ihr Großvater wollte nach ihr greifen, doch ihre Mutter stellte sich zwischen Ava und ihn.

»Sie kommt mit mir«, zischte sie.

»Tu das dem Kind nicht an. Sag es ihr!«

»Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, was er mir dann antut?«

»Ich habe alles versucht, aber du lässt mir keine andere Wahl.« Grandpapa fasste die Schultern ihrer Mutter, doch diese schüttelte seine Hände ab und riss die hintere Tür des alten, rotbraunen Citroën auf.

»Los, rein mit dir«, blaffte sie Ava an.

»Nein, ich will bei Grandpapa bleiben!« Ava versuchte, sich dem Griff ihrer Mutter zu entwinden, doch es gelang ihr nicht. Sie wurde grob auf den Rücksitz gestoßen.

»Du wartest hier und rührst dich nicht vom Fleck.« Ihre Mutter drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Ich bin gleich wieder da.« Sie knallte die Tür zu.

Avas Herz hämmerte so sehr, dass sie dachte, es würde zerspringen. Außerdem war es im Wagen zu warm, doch da sie sich nicht rühren durfte, wagte sie es nicht, ihr Seitenfenster zu öffnen.

Voller Entsetzen beobachtete sie, wie ihre Mutter mit ihrem Zeigefinger auf Grandpapa einstach und wie hässlich sie den Mund verzog.

Ava stiegen Tränen in die Augen. Ihr Großvater versuchte, ihrer Mutter gut zuzureden, dann hob er resigniert die Hände. Ava verstand nicht, was gesagt wurde, doch ihr war klar, gegen den Zorn ihrer Mutter kam Grandpapa nicht an.

Schließlich trat er zurück und schüttelte den Kopf. Avas Mutter kam zurückmarschiert, fluchend ließ sie sich auf dem Fahrersitz nieder, wieder wurde die Tür zugeknallt.

Für einen Moment saß ihre Mutter reglos da, nur ihr wütender Atem war zu hören. Dann ließ sie den Wagen an, riss am Schaltknüppel und fuhr mit quietschenden Reifen los. Ava war anscheinend Luft geworden.

Ava drehte sich um, hielt sich oben an der Rückenlehne fest und sah aus dem Rückfenster zu, wie ihr Großvater in dem Staub verschwand, den der Wagen aufwirbelte.

Ihre Mutter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich will kein Wort hören«, sagte sie mit zitternder Stimme und stellte das Radio an, um Avas Weinen zu übertönen.

England, Februar 2018

Sophie saß im Vorbau von Emilias Haus auf ihrem Rollkoffer, hatte die fellumrandete Kapuze ihres Parkas über den Kopf gezogen und scrollte auf ihrem Handy herum.

»Wo warst du so lange?«, rief sie, als Ava aus dem Auto stieg.

Ava lief über den Pfad, der Emilias gepflegten Rasen teilte. Das feuchte Haar klebte an ihrem Schädel, ihr war kalt, und ihre nassen Füße gaben in den Schuhen leise Quietschgeräusche von sich.

»Warum bist du denn so nass?«, fragte Sophie.

»Hallo, Schätzchen.« Ava breitete die Arme aus.

»Ich will nicht umarmt werden, wenn du so nass bist!«

»Danke, sehr nett.« Ava schloss Emilias Haustür auf und deutete auf Sophies Springerstiefel. »Zieh die aus. Tante Em will auf ihrem hellen Teppich keine Flecken haben.«

Sophie verdrehte die Augen, stellte ihren Koffer ab und steuerte die Küche an.

»Ich bin am Verhungern.«

»Übertreib nicht.«

Sophie öffnete die Kühlschranktür, holte ein Lebensmittel nach dem anderen heraus, inspizierte es und legte es wieder zurück.