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Fritz Staude lag am Betonstrand vor dem Hotel »Excelsior« in der glühenden Julisonne. Schläfrig blinzelte er aufs Meer hinaus. Über dem Waldbuckel der vorgelagerten Insel flimmerte die Luft. Auch drüben, über dem Kastell und den ehrwürdigen Steinhäusern der Altstadt, lag dieses sinnverwirrende einschläfernde Flimmern.

Dann, mit einem Schlag, wurde der Leutnant munter. Gespannt blickte er auf. Von Land, von den sonnenüberfluteten Felshöhen her, schwoll ein unverkennbares röhrendes Brummen an. Gleich darauf kamen, in nicht allzu großer Höhe und deutlich in allen Einzelheiten erkennbar, amerikanische B17-Bomber, sogenannte »Fliegende Festungen«, in Sicht. Es wurden immer mehr. Staude zählte: Zwölf – fünfzehn – siebzehn.

Die oberhalb der Stadt stationierte Flak schwieg. Es war wie eine stillschweigende Vereinbarung. Wenn du nicht schießt, lassen wir die Bombenschächte zu. Es gab übrigens auch die Version, dass die Flak ihre Munition für die Stunde X der erwarteten Landung sparen musste, und dass die Alliierten Dubrovnik schonten, weil zahlreiche Villen in und außerhalb der Stadt britischer oder amerikanischer Besitz waren.

Diesmal jedoch beobachtete Staude etwas Ungewöhnliches: Eine deutsche Me 109 tauchte in großer Höhe auf und stieß im Sturzflug auf den Bomberpulk herab. Wie leises, fernes Schnarren einer Kinderrassel ertönte das Geratter der Bordwaffen. Und dann, wie Stechfliegen, die sich an einem Sommerabend urplötzlich einfinden, erschien ein Schwarm alliierter Jäger. Englische Spitfires oder amerikanische Mustangs. Staude kannte den Unterschied noch nicht.

Anstatt angesichts der Übermacht Leine zu ziehen, nahm die deutsche Me den ungleichen Kampf auf. Sekunden später, während die dumpf brummenden fliegenden Festungen unbeirrt ihrem Kurs nach Südwesten folgten, blitzte es an der deutschen Maschine auf. Getroffen. Mit schwacher Rauchfahne drehte sie landeinwärts ab.

Dicht neben Staude schlug eine Patronenhülse auf den Boden. Er achtete nicht darauf. Mit eingekniffenen Daumen starrte er dem deutschen Jäger nach, freilich ohne zu ahnen, dass bald mit dessen Schicksal sein eigenes abenteuerlich und gnadenlos verknüpft werden würde.

Staude stand auf und trat an die Kante des betonierten Strandes. Seine blaue Vorkriegsbadehose war mehrfach geflickt. Schwester Elfriede droben im Soldatenheim hatte darauf bestanden, dass Leutnant Staude nicht in durchlöcherter Badehose seiner Hauptbeschäftigung nachging. Seit drei Wochen spielte er in Dubrovnik den Badegast. In dieser Zeit war er braun geworden wie die Kroaten, die tagsüber drüben bei den Klippen nach Seeigeln tauchten. Nachts dagegen – Staude gab sich in dieser Hinsicht keiner Illusion hin – mochten diese Burschen, die wie die Fische schwammen und anscheinend vom Ausschlürfen der erbeuteten Seeigel lebten, sich in dunklen Schlupfwinkeln zusammenfinden, um zu beraten, welchen Schaden sie der deutschen Besatzung zufügen konnten.

Staude war ein selbstständiger »Einheitsführer«, wie es in der militärischen Amtssprache hieß. Seine »Einheit« war ein B-Trupp, bestehend aus einem Wachtmeister, einem Unteroffizier, einem Gefreiten, zwei Kanonieren und dem Obergefreiten König, dem Fahrer des großen Kübelwagens, in dem sie alle samt Waffen und Gerät Platz hatten. Staudes Aufgabe war die eines »V. B.«, eines vorgeschobenen Beobachters einer Fernkampfbatterie, deren Feuerstellung droben in den nackten Felsbergen zwar vermessen war, die aber im Übrigen ebenso ein Luftgebilde war wie der ganze viel besungene Adria-Wall.

Türkisblau dehnte sich das Meer in sanfter Dünung. Im Südwesten, drüben an der italienischen Küste, lag Bari, eine der waffenstarrenden Basen der Alliierten und vielleicht das Sprungbrett für die Landung, mit der man in nächster Zeit rechnen musste, wenn England und Amerika den Balkan nicht der Roten Armee zum Fraß vorwerfen wollten. Am Dnjestr, vor der Front der Heeresgruppe Südukraine, bereiteten die Russen eine neue Großoffensive vor.

Staude wusste in dieser Hinsicht bestens Bescheid. Aus der Gegend von Tiraspol war er erst vor drei Wochen mit seinen Leuten ins friedliche, sonnige Dalmatien versetzt worden. Am Dnjestr sah es übel aus. Die Rumänen, die einen Teil der Front besetzt hielten, waren ebenso kriegsmüde wie die Italiener im Herbst 1943. Wenn Rumänien die Waffen streckte, war die Heeresgruppe Südukraine erledigt, und die Donauländer wie der Balkan waren dem Zugriff der Roten Armee preisgegeben.

Auf einmal, wie im unbewussten Vorgefühl des Kommenden, verlor Staude den Geschmack am trägen Nichtstun. Er ging ins Hotel und betrat das Zimmer, das ihm als Umkleidekabine diente. Im angrenzenden Duschraum spülte er das Salzwasser ab und frottierte sich trocken, bevor er in die Uniform stieg.

Das »Excelsior«, in Friedenszeiten Herberge wohlhabender Badegäste, war seit dem Abfall der Italiener und der Besetzung der dalmatinischen Küste durch die deutsche Wehrmacht Sitz der Propaganda-Außenstelle Ragusa, deren Aufgabe es war, mittels Radiosendungen in englischer Sprache den Alliierten drüben in Italien einzuhämmern, wie unüberwindlich der Adria-Wall sei.

Vor dem Hoteleingang begegnete Leutnant Staude dem »Doktor«. Doktor Paul Höhnhauser war in Staudes Augen eine tragische Figur. Er war verheiratet mit einer erheblich jüngeren, ungewöhnlich hübschen Frau. Sie war gebürtige Dalmatinerin, hatte durch die Heirat die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und diese dann wie ihr Mann verloren, als sie ihn im Februar 1933 in die Emigration begleitete. Bis Juni 1941 hatten die beiden in Tilda Höhnhausers Heimatstadt Split gelebt. Unter der italienischen Besatzung waren sie nach Dubrovnik übergesiedelt, und im Herbst 1943 waren sie über Nacht von den einrückenden deutschen Truppen überrollt worden.

Höhnhauser war bis zu seiner Flucht aus Deutschland ein bekannter Kommentator des Deutschlandsenders gewesen. Seine kompromisslose Gegnerschaft zu Hitler und dem Nationalsozialismus hatte ihn nach der »Machtergreifung« in ernste Gefahr gebracht. Um nicht in einem KZ umzukommen oder zu verschmoren, war er mit seiner Frau heimlich über die Grenze gegangen. Vor drei Monaten, im April 1944, hatte Dr. Höhnhauser das Pech gehabt, auf dem Stradun, dem prunkvollen steinernen Korso von Dubrovnik, dem SD-Hauptsturmführer Rieder in den Weg zu laufen. Rieder hatte den ihm wohlbekannten Emigranten vor die Wahl gestellt, entweder die englischen Nachrichten am Propagandasender zu sprechen oder »den Weg allen faulen Fleisches« zu gehen, wie der Gefolgsmann Kaltenbrunners sich wörtlich ausdrückte. Tilda hatte ihren Mann überredet, sich zu fügen.

Soviel war Leutnant Staude bekannt. Er bemitleidete den Doktor, der gegen seine Überzeugung einer Sache dienen musste, von der er sich, freilich gezwungenermaßen, bereits elf Jahre zuvor losgesagt hatte. Unverständlich war es Staude, dass die temperamentvolle schwarzhaarige Dalmatinerin ihren Mann dazu bewogen hatte, in den Dienst der deutschen Propaganda zu treten, anstatt einen anderen Ausweg für ihn zu suchen. Zweifellos wäre es ihr nach Staudes Ansicht möglich gewesen, sich mit ihrem Mann bei ihren Landsleuten im Gewinkel der Altstadt zu verbergen, ehe der SD-Führer seine Drohung hätte verwirklichen können.

Der Doktor grüßte den jungen Leutnant mit müder Handbewegung zur Krempe seines vergilbten Strohhutes.

»Wie geht’s, Doktor?«, fragte Staude.

Der schmalbrüstige Höhnhauser, vornübergebeugt wie unter einer unsichtbaren Last, verzog das blasse hagere Gesicht zu einem bitteren Lächeln.

»Unverändert, Herr Staude. Bin auf dem Weg zum Dienst.«

»Und die Frau Gemahlin?«, erkundigte sich Staude. »In letzter Zeit habe ich sie am Strand vermisst. Sie ist doch nicht krank?«

Mit noch tieferer Bitterkeit schüttelte Dr. Höhnhauser den Kopf.

»Nein, nein«, versicherte er. »Sie ist viel unterwegs. Hat eine Menge Freunde in der Stadt.«

Staude nickte.

»Versteh’ ich. Sie ist ja hier an der Küste zu Hause.«

Er grüßte nochmals und wandte sich zum Gehen. Noch weniger als sonst schien der bedauernswerte Höhnhauser zu einem Gespräch aufgelegt zu sein.

Staude ging zur Fahrstraße hinauf und schlug den Weg zur Stadt ein.

Marine-Schnellboote flitzten hinter aufschäumender Bugwelle durch die blaue, mit gleißenden Lichtern gesprenkelte See.

Er nahm sich vor, demnächst wieder einmal mit seinem Freund, dem Leutnant zur See Köck, zum Fischfang hinauszufahren.

Staudes Ziel war das oberhalb der Stadt in einem Park mit subtropischen Bäumen und Pflanzen gelegene Hotel »Imperial«. Seit der deutschen Besetzung war das Hotel das »Soldatenheim« von Dubrovnik. Sein B-Trupp und er selbst bewohnten gleichsam als Dauermieter fünf der für Quartierzwecke verfügbaren Zimmer. Die Mannschaften hausten je zu zweit, während man ihm, Wachtmeister Maderspacher und dem Unteroffizier Blaisch, dessen Unterkiefer zerschossen und eine einzige große Narbe war, Einzelzimmer zugewiesen hatte.

Unter den Rotkreuzschwestern, die das Soldatenheim betreuten, hatte Staude vor drei Wochen bei seiner Ankunft Elfriede gefunden, die blonde Elfie, die er vor Jahren schüchtern verehrt hatte, als sie gemeinsam das Gymnasium in seiner Heimatstadt besucht hatten. Allerdings war das Zusammentreffen nicht ganz zufällig gewesen – jedenfalls nicht für Staude. Weihnachten 39, als er vom Westwall auf Urlaub kam, war er Elfie begegnet, und seither hatten sie regelmäßig Briefe gewechselt. Anfang Juni hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie nach längerer Verwendung in verschiedenen Heimatlazaretten seit Ende Mai im Soldatenheim von Dubrovnik »eingesetzt« sei, eines der neu eingeführten Wörter, das ihm genauso missfiel wie »Garant«, »Volkstum« oder »Endsieg«.

Von Bukarest aus, wo er in einem Kraftfahrzeugpark den Kübelwagen in Empfang genommen hatte, hatte er versucht, Elfie telefonisch zu erreichen, um ihr mitzuteilen, dass er auf dem Weg nach Dubrovnik sei, aber irgendeine schnippische Nachrichtenhelferin in Belgrad oder Agram hatte ihm zu verstehen gegeben, Gespräche mit Soldatenheimen seien nicht kriegswichtig und könnten daher nicht vermittelt werden.

So war er – für Elfie überraschend – im Hotel »Imperial« aufgetaucht, hatte die blonde Schwester, überwältigt von der Freude des Wiedersehens, in die Arme genommen und zum ersten Mal in der langen Zeit ihrer Bekanntschaft stürmisch geküsst.

Als er, vom Strand kommend, das Hotel betrat, in dem es vergleichsweise kühl war gegenüber der draußen herrschenden brütenden Hitze, überlegte er, wie er es anstellen sollte, Elfie unauffällig vom Dienst wegzulotsen, um mit ihr droben auf seinem Zimmer ein Glas Whisky zu trinken. Den Whisky hatte Köck bei einem Inselunternehmen erbeutet. Zwei Flaschen hatte der Leutnant zur See dem Kollegen von der Artillerie großzügig abgetreten.

Im Hotel war es still, als hätten die neuen Gäste in Feldgrau, OT-Braun und Marineblau es nicht vermocht, den Geist der Ruhe zu verscheuchen, der sich von langen Friedensjahren her in dem prunkvollen und nunmehr zweckentfremdeten Gebäude eingenistet hatte.

Die längst getrocknete Badehose in der Hand stieg Staude die Treppe hinauf, da der Aufzug außer Betrieb war. Als er den Flur des zweiten Stockwerks betrat, auf den eine lange Reihe nummerierter Türen mündete, erblickte er zu seiner Verblüffung Tilda Höhnhauser, die schöne junge Frau des Emigranten.

Sie schlenderte lässig mit der ihr eigenen Selbstsicherheit heran in einem rot-weiß gestreiften schulterfreien Kleid, das von zwei schmalen Trägern gehalten wurde. Ihre nackten, bronzebraun getönten Füße, deren Zehennägel mit dem gleichen Rot gefärbt waren wie ihre sorgfältig manikürten Fingernägel und ihre vollen Lippen, steckten in weißen Sandaletten mit hohen Korksohlen. Wippend blieb sie vor Staude stehen, ein spöttisches Lächeln auf ihrem hübschen, gebräunten Gesicht, das von halblang geschnittenem, dichtem, schwarzem Haar umrahmt war.

»O der Herr Leutnant«, sagte sie mit ihrem starken slawischen Akzent, den sie offensichtlich in dem Bewusstsein kultivierte, dass es reizvoll sei und sie noch anziehender erscheinen lasse.

Staude hob die Rechte zum Mützenschild und legte sie dann in die kühle Hand der jungen Frau.

»Ich sehe Sie gar nicht mehr am Strand«, sagte er. »Erst vor einer Viertelstunde bin ich dem Herrn Gemahl begegnet. Er war auf dem Weg zur Sendung.«

Ein Schatten glitt über ihre Züge.

»Ja, natürlich. Jetzt ist ja die Zeit für Paul.« Sie seufzte. »Er leidet darunter. Sie wissen es ja.«

Staude nickte.

»Hätte es denn keine Möglichkeit gegeben, aus Dubrovnik zu verschwinden oder hier in der Stadt unterzutauchen? Bei Ihren guten Verbindungen …«

Sie hob die schlanke braune Hand, an deren Gelenk eine Anzahl silberner Armreifen klirrte.

»Man kann nicht immer so, wie man möchte. Das müssen doch gerade Sie verstehen, Herr Leutnant.«

Ihre Lippen öffneten sich zu einem Lachen und enthüllten zwei Reihen makelloser weißer Zähne.

Sie sollte zum Film gehen, dachte Staude. Er war sich darüber klar, dass sie nicht nur schön war, eine südländische Schönheit von ungewöhnlichem Reiz, sondern auch das nötige schauspielerische Talent besaß. Aber Film war im totalen Krieg nicht mehr gefragt. Zudem war sie die Frau eines Emigranten und wurde sicherlich ebenso wie ihr Mann beargwöhnt und überwacht.

»Sie und Ihre Soldaten werden hier wohl von vielen beneidet, Herr Leutnant«, sagte Tilda Höhnhauser unvermittelt, als wolle sie das Gespräch in andere Bahnen lenken. »Oder ist Ihre Batterie inzwischen eingetroffen?«, fügte sie nach einer Pause hinzu, wobei ihre ins Grünliche schimmernden grauen Augen zu ihm, der einen halben Kopf größer war, mit kokettem Wimpernschlag aufblickten.

»Das ist militärisches Geheimnis«, gab Staude halb scherzhaft zurück.

»Natürlich«, bekräftigte sie mit bezauberndstem Lächeln. »Wie dumm von mir, Sie zu fragen!« Sie blickte halb erschrocken auf die winzige Uhr, die sie am linken Handgelenk trug. »Oh, ich muss gehen. Wann sieht man Sie wieder, Herr Leutnant? Besuchen Sie uns doch. Mein Mann würde sich freuen.«

»Gern«, sagte Staude. »Bitte lassen Sie mich wissen, wann es Ihnen passt.«

Sie hob ihre Rechte.

»Ciao, amico. Sie hören von uns.«

Mit beschwingtem Schritt, wie ein junges Mädchen, ging sie eilig zur Treppe. Der weite rot und weiß gestreifte Rock wippte rhythmisch um ihre wohlgeformten, braunen Beine.

Staude blickte ihr nach. Eine verteufelte Person, dachte er, rassig und raffiniert. Eigentlich passte sie überhaupt nicht zu dem stillen »Doktor«, der mit der Miene eines ergebenen Dulders tagtäglich zur Sendezeit seine innerste Überzeugung verriet. Unerklärlich, was die beiden miteinander verband.

Nicht meine Angelegenheit, sagte sich Staude achselzuckend. Bedauerlich war nur, dass Tilda Höhnhauser in letzter Zeit nicht mehr zum Strand kam. Im Badeanzug war sie ein durchaus erfreulicher Anblick, wenn auch natürlich Elfie in ihrer blonden Mädchenhaftigkeit den Vergleich mit ihr nicht zu scheuen brauchte. Aber Elfie hatte nur selten dienstfrei, am allerwenigsten in den Stunden, in denen es unten am Strand am schönsten war.

Er suchte sein Zimmer auf und drehte an der Kurbel des Feldtelefons, auf das er als »Einheitsführer« Anspruch hatte. Als die Hausvermittlung sich meldete, bat er darum, Schwester Elfriede an den Apparat zu holen.

Wenige Minuten später fragte Elfie in notwendigerweise dienstlichem Ton, was der Herr Leutnant wünsche.

»Dich will ich sehen«, sagte er. »Komm doch mal ’rauf!«

»Ganz unmöglich, Herr Leutnant«, antwortete sie. »Wir haben in der Küche Hochbetrieb. Vielleicht später – in einer Stunde – aber nur für einen Moment.«

Enttäuscht legte er auf und fragte sich, ob die schwarzhaarige Tilda Höhnhauser ihm wohl einen Korb gegeben hätte, wenn er auf den Einfall gekommen wäre, sie auf ein Glas Whisky zu sich zu bitten. Doch im nächsten Augenblick wies er diesen Gedanken als völlig absurd und abwegig von sich. Die Dalmatinerin war schließlich eine verheiratete Frau.

Er fragte sich plötzlich, was sie überhaupt in dem Hotel zu suchen hatte, in dem nur Soldaten und die Rotkreuzschwestern wohnten. Die Bemerkung des Doktors, seine Frau sei viel unterwegs und habe eine Menge Freunde in der Stadt, fiel ihm ein. Aber damit waren sicherlich Einheimische gemeint, nicht etwa Angehörige der Wehrmacht, für die das Ehepaar Höhnhauser begreiflicherweise nur wenig übrig hatte. Doch gleichviel, schließlich war er nicht der Aufpasser von Frau Höhnhauser und ebensowenig der Hüter des Soldatenheims.

Staude legte Mütze, Koppel und Feldbluse ab, ließ sich in einem mit rotem Plüsch bezogenen Sessel nieder und schenkte sich nachdenklich ein Glas Whisky ein.

Das ganze Dasein, wie es sich ihm seit seiner Ankunft in Dubrovnik bot, war unglaublich und beinahe unwirklich. Drei Jahre lang hatte er sich an der Ostfront herumgeschlagen, nachdem er den Polen- und den Westfeldzug glücklich hinter sich gebracht hatte. Aus einer Welt des Todes und unvergesslicher Schrecken war er in ein friedliches, sonniges Paradies versetzt worden, und sogar die Eva fehlte nicht, auch wenn sie nur selten Zeit für ihn hatte und verstohlen für eine kurze Stunde zu ihm hereinschlüpfte.

Wie lange würde diese kaum fassbare Feuerpause anhalten? An den Fronten, nicht nur im Süden und Westen, wo der Feind endgültig Fuß gefasst hatte, sondern vor allem auch im Osten hatte die entscheidende Phase des Krieges begonnen. Noch deutlicher als sonst empfand Leutnant Staude, wie zerbrechlich die Ruhe war, die er in der unversehrten Stadt an der Adriaküste angetroffen hatte.

Sturmbannführer Hollitsch starrte gelangweilt durchs weit geöffnete Fenster seines Dienstzimmers. Über ein kalkweiß verputztes Minarett mit altersgrauer, schindelgedeckter Spitze hinweg ging sein Blick zu den schartigen, vegetationslosen Felsbergen, die das weite Tal von Costenica im Südwesten begrenzten.

Verdrossen strich Hollitsch sich über sein weiches, blondes Haar. In diesem verschlafenen Nest ließ man ihn versauern, während andere männliche Taten vollbrachten und Ruhm und Orden ernteten! Ihn dagegen hatte man gewissermaßen auf dem Verwaltungsweg zum Sturmbannführer befördert. Seine graue Feldbluse mit den Majorsschulterstücken und dem Hoheitsadler am linken Ärmel war auf der linken Brustseite leer wie die eines frisch eingezogenen Rekruten.

Wie so oft dachte Hollitsch wieder an jenen Januarabend bei Livno, als er dem Gebirgsjägerhauptmann und Ritterkreuzträger Aschauer die zehn Lastkraftwagen seiner Division übergab. Damals war er stellvertretender Nachschubführer der SS-Division »Prinz Eugen« gewesen. Hauptmann Aschauer, im bunt karierten Skihemd, an dessen Kragen herausfordernd das Ritterkreuz baumelte, hatte ihn zum Sliwowitz eingeladen. Sie hatten etliche Gläser geleert, und auf einmal hatte der Hauptmann ihn gefragt, ob er seinen Majorsrang in der Lotterie gewonnen habe. »Wieso denn das?«, hatte er harmlos erwidert. Darauf hatte der Hauptmann in seinem unverfälschen Bayerisch erklärt, er habe sich’s überlegt, mit einem Druckbolzen, der sich Sturmbannführer nenne und nicht einmal den windigsten Orden aufzuweisen habe, wolle er nicht weitertrinken. Geknickt war er zur Division zurückgefahren, und noch Tage danach hatte er mit sich gerungen, ob er den Hauptmann zur Meldung bringen solle. Doch schließlich hatte er es unterlassen, weil zu befürchten war, dass er sich obendrein noch den Spott seiner SS-Kameraden zugezogen hätte.

Gähnend stand Hollitsch auf, um das Fenster zu schließen. Die Hitze war unerträglich, lähmte das Denken und trieb einem selbst beim Nichtstun den Schweiß aus allen Poren. Der leise Windhauch, der vorhin wenigstens eine Illusion von Kühle hervorgerufen hatte, war eingeschlafen.

Draußen, auf dem grell von der Mittagssonne überfluteten Gehsteig schlich auf spitzen Pantoffeln eine verschleierte Muslimin vorbei. In ihrer schwarzen Umhüllung wirkte sie wie ein riesiger flügellahmer Rabe. Ihre dunklen Augen, das einzige, was von ihrem Gesicht zu sehen war, senkten sich scheu, als sie den blonden, feldgrau uniformierten Mann am Fenster erblickte.

Hollitsch kehrte zum Schreibtisch zurück, setzte sich auf den mit Schafleder bezogenen Stuhl und nahm aus einer Hunderterpackung mit der Aufschrift »Drina« eine Zigarette.

Bei der »Prinz Eugen«, sagte er sich, war es trotz allem ein besseres Leben gewesen. Der Dienst – jedenfalls für ihn – nicht übermäßig anstrengend, die Verantwortung gering. Hier dagegen, beim Korpsstab, hatte er seine fest umrissene Aufgabe, die ihm ungeachtet des mit »gut« bestandenen Ic-Kurses und der achtwöchigen Praxis immer noch nebelhaft erschien.

Sein Blick glitt über die Karte, die an der Wand neben dem Schreibtisch befestigt war. Sie umfasste das südwestliche Bosnien, einen Teil der Herzegowina und einen Streifen der dalmatinischen Küste. Der Bereich des LXXII. SS-Korps war mit Kohlestift umgrenzt. Mehrere Abschnitte des dünn besiedelten Berglandes von unterschiedlicher Größe waren rot umrändert und mit dem Vermerk »Bandengebiet« bezeichnet.

Mit seinem Taschentuch wischte sich Sturmbannführer Hollitsch den Schweiß von der Stirn. In dem Kurs, den Generalstabsoffiziere des Heeres leiteten, hatte man ihm beigebracht, ein Teil seiner künftigen Aufgabe als Ic bestehe darin, unter der feindlichen Bevölkerung zuverlässige Elemente zu ermitteln und diese als Agenten und V-Leute anzusetzen, um mit ihrer Hilfe ein klares Bild der »Feindlage« zu erlangen. Das Rezept war einfach. Fraglich dagegen war es, ob die Spitzel, die er für Geld und Naturalien angeworben hatte, ihn nicht zum Narren hielten. Ihre Angaben und die ungenauen Meldungen der weit verstreuten Sicherungstruppen bildeten die Grundlage seiner Einzeichnungen. Allerdings waren die bisherigen militärischen Operationen von so bescheidenem Umfang gewesen, dass es nicht ins Gewicht fiel, ob seine Eintragungen im Einzelnen zutrafen.

Dennoch wünschte Hollitsch, er wäre niemals ins Generalkommando des LXXII. SS-Armee-Korps geraten, dessen Aufstellung im März von der Reichsführung SS, der Wehrmachtsführung oder von beiden gemeinsam beschlossen worden war. Unverständlich war ihm, dass man ausgerechnet ihn in den Generalstabskurs geschickt hatte. Vielleicht hatte man angenommen, er als Volksdeutscher, beheimatet in Bosnisch-Brod, besitze mehr Einfühlungsvermögen als ein landesunkundiger Reichsdeutscher. Einen Gefallen jedenfalls hatte man ihm mit der Ernennung zum Ic nicht erwiesen. Die Versetzung in das Muselmanenkaff im Gebirge kam einer Verbannung gleich. Es gab keine Dienstreisen mehr nach Wien und Paris zur Beschaffung von Marketenderwaren.

Hollitsch zündete sich nochmals eine Zigarette an. Plötzlich läutete das Telefon. Eine undeutlich vernehmbare Stimme sprach am anderen Ende der Leitung. Hollitsch holte mit der freien Hand das auf Pappe aufgezogene Decknamenverzeichnis heran.

»Rheintochter« war eine Einheit, die irgendwo am Fuße der Velez-Planina lag. Der Sprecher war ein Oberleutnant. Sein Name klang wie Hase oder Haser. Er meldete ziemlich aufgeregt, er habe auf Grund fernmündlichen Ersuchens eines nahen Feldflugplatzes das Erforderliche zur Bergung eines Jagdfliegers unternommen, der aus seiner über der Küste in Brand geschossenen Maschine in seiner Gegend mit dem Fallschirm abgesprungen sei.

»Sehr gut«, warf Hollitsch ein. »Aber was haben wir damit zu tun?«

»Es handelt sich darum, Herr Sturmbannführer«, erklärte der Oberleutnant, »dass wir beim Anstieg mehrfach Feindberührung hatten. MG- und zweimal Granatwerfer-Beschuss. Den Luftwaffenhauptmann Welz haben wir gefunden. Der Fallschirm war zerschnitten und der Flieger wie Christus ans Kreuz an die Wand einer verfallenen Hütte angenagelt. Die Bergung misslang, Herr Sturmbannführer. Wir wurden von überlegenen Feindkräften angegriffen und mussten uns auf unseren Stützpunkt zurückziehen. Das wäre alles.«

Hollitsch räusperte sich.

»Danke«, sagte er mit belegter Stimme. »Werde das Nötige veranlassen. Ende.«

Er kurbelte ab und legte den Handapparat auf. Benommen suchte er auf der großen Karte die Velez-Planina im Süden von Mostar. Nach seinen Informationen galt diese Gegend als feindfrei.

Schwerfällig stand Sturmbannführer Hollitsch auf. Sein fülliges, leicht aufgeschwemmtes Gesicht überzog sich mit einer hektischen Röte. Jetzt also war das eingetreten, was er heimlich befürchtet hatte. Aber die Meldung von »Rheintochter« war so gravierend, dass er es nicht wagen konnte, sie zu unterdrücken.

Sporenklirrend – vom Morgenritt her hatte er noch die Sporen an den Reitstiefeln – verließ er seinen Dienstraum und stieg die Treppe zum ersten Stock des Hauptquartiers hinauf, das im Volksschulgebäude von Costenica untergebracht war.

Standartenführer Kremser, der Chef des Stabes, kaum dreißigjährig, voller Ehrgeiz, Träger des goldenen Parteiabzeichens und des EK I, empfing den Ic mit der sarkastischen Frage, ob ihn ein bosnischer Floh gebissen habe.

Der Standartenführer war selten anders als missgestimmt anzutreffen. Man wusste im Stab, dass er von seinen militärischen Qualitäten sehr überzeugt war und es als Herabsetzung empfand, dass man einen so hervorragenden Mann wie ihn in einem zur Tatenlosigkeit verurteilten Generalkommando sozusagen kaltgestellt hatte.

Hollitsch berichtete mit knappen Worten von dem Anruf aus den Bergen.

»Was?«, schrie Kremser und sprang wie elektrisiert auf. »Endlich kommt Leben in die Bude! Kommen Sie mit, Kamerad Hollitsch! Wir gehen sofort zum General!«

Der »General«, SS-Obergruppenführer Sadila, ehemals Leutnant der k. u. k. Armee des alten Österreich-Ungarn, war im Zusammenhang mit der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß im Sommer 1934 inhaftiert worden und nach dem Anschluss der »Ostmark« als politisch Verfolgter in die SS eingetreten und rasch avanciert. Vor einigen Tagen hatte er mit Unmengen von Sliwowitz, italienischem Kognak und französischem Champagner seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Die Nachwirkungen seines Rausches waren mittlerweile verflogen. Nicht verflogen dagegen war die Enttäuschung, die ihm der »Führer« dadurch bereitet hatte, dass er es versäumt hatte, seinem treuen Gefolgsmann Sadila das übliche Geschenk nebst Glückwunschschreiben zu übermitteln.

SS-General Josef Sadila lag in Netzunterhemd, Reithosen und grünen Seidensocken auf seinem Feldbett, als sein Stabschef in Begleitung des Ic den spartanisch eingerichteten Wohn- und Schlafraum betrat.

»Was bringen Sie Schönes, Standartenführer?«, fragte Sadila, ohne sich zu erheben.

»Den Anlass zum Losschlagen, Obergruppenführer«, antwortete der zum Überschwang neigende jungsiegfriedhafte Kremser mit einem Seitenblick auf den in strammer Haltung mit hochgerecktem rechtem Arm verharrenden Ic.

Hollitsch senkte den Arm und schnarrte seine Meldung herunter.

»Prachtvoll«, rief der SS-General im Liegen aus, doch in verzweifelt klingendem Ton fügte er hinzu: »Na, dieses Deutsch! Mein lieber Hollitsch, am liebsten tät’ ich Sie noch amal in d’ Schul’ schicken. Dös ist ja die reinste Fremdenlegion wie seinerzeit unterm guten alten Kaiser Franz Joseph.«

»Bitte um Entschuldigung«, stammelte Hollitsch mühsam. »Werd’ mich gefälligst bessern, Obergruppenführer, bitte sehr.«

Der General richtete sich auf, schwang die Füße zu Boden und sagte, zum Chef des Stabes gewandt:

»Sagen S’, Kremser, ist da nicht die 398., die sogenannte ›Geisterdivision‹ im Anmarsch? Wissen S’ was? Die soll da hineinstieren in das Wespennest, das sich da drüben bemerkbar gemacht hat. So eine Gemeinheit, einen deutschen Flieger an eine Hüttenwand zu nageln! Das werden wir denen austreiben! Die räuchern wir aus! Viel kann’s ja nicht sein.«

»Nach meinen Unterlagen war dieses Gebiet bisher nahezu feindfrei, bitte sehr«, beeilte sich Hollitsch zu versichern.

Sadila winkte mit einer Hand ab, während er mit der anderen nach seinen Stiefeln angelte.

»Schon gut, Hollitsch. Wird halt so ein versprengter Partisanenhaufen sein. Wir werden da schon aufräumen.«

Erneut wandte er sich dem Standartenführer zu.

»Schauen Sie zu, dass Sie den Divisionskommandeur ausfindig machen. Ein gewisser General von Kalteneck. Bitten S’ ihn zu mir! So ein kleiner Abstecher in den Karst tut denen nicht weh. Vorerst haben wir ja keine Anzeichen für eine baldige Landung. Und wenn schon – die kämen immer noch zur rechten Zeit. An der Küste können wir das Alliierten-Geschmeiß ja doch nicht abfangen.«

Standartenführer Kremser nahm Haltung an und stieß den rechten Arm hoch.

»Zu Befehl, Obergruppenführer.«

Er gab Hollitsch einen verstohlenen Wink und verließ gemeinsam mit dem Ic den Kommandierenden des LXXII. SS-Korps.

Der Marsch durchs Bergland war zeitraubend und beschwerlich. Die 398. Infanteriedivision, deren drei Grenadierregimenter mit je einem aus Kroaten zusammengesetzten Bataillon aufgefüllt worden waren, hatte von Anfang Dezember 1943 bis Februar 1944 mit wechselndem Erfolg am Unternehmen »Kugelblitz« teilgenommen, das letzten Endes wie das Hornberger Schießen ausgegangen war. Tito selbst war aus seinem Hauptquartier in Jeice entkommen, und seine Partisanendivisionen hatten sich abgesetzt, wann immer die deutsche Führung gehofft hatte, sie im Sack zu haben.

General von Kalteneck, an der Ostfront schwer verwundet, hatte die »Geisterdivision« erst Ende Juni übernommen. Seine frisch angepasste Unterschenkelprothese bereitete ihm erhebliche Schmerzen. Gegen den Rat der Ärzte hatte er die neue Frontverwendung auf dem Balkan, einem immerhin vorerst noch ruhigeren Kriegsschauplatz, beim Heerespersonalamt durchgesetzt, weil es ihm zutiefst widerstrebte, im sogenannten Heimatkriegsgebiet tatenlos das unausweichliche Ende des Krieges zu erwarten.

Der Funkspruch des Korps erreichte den General auf dem Marsch unweit Sarajewo. Er übergab Oberst Grauvogel, seinem ältesten Regimentskommandeur, die Führung der Division und fuhr mit Oberstleutnant Binder, seinem Ia, nach Costenica.