Für all die Menschen, die sich uns anvertraut, die mit uns geforscht,
die uns zugehört und mit uns um neue Erkenntnisse gerungen haben.

Dieses Buch ist eine Hommage an die Liebe und die Kraft der Menschen.

Zur Einstimmung: zwei Vorworte in einem

„Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen.“

Dieser Satz begleitete mich, Petra Dannemeyer, in meiner therapeutischen Arbeit immer wieder. Dreizehn Jahre lang leitete ich eine psychologische Beratungsstelle. Es kamen Manager und selbständige Handwerker mit psychosomatischen Störungen, weil es ihnen nicht gelang, ihre beruflichen und privaten Herausforderungen unter einen Hut zu bringen. Oder Eltern, die vor dem Scherbenhaufen ihrer zerbrochenen Ehe standen und nun wenigstens für die gemeinsame Erziehung ihrer Kinder nach einer guten Lösung suchten. Ich arbeitete mit Frauen, die noch als Erwachsene unter den ihnen zugefügten Schmerzen und Demütigungen aus der Kindheit litten. Besonders beklemmend war es für mich, wenn Mädchen und Jungen aus dem örtlichen Kinder- und Jugendheim mir nach zumeist langwieriger Blockade ihre Geschichte offenbarten. Ich erlebte, was es bedeutet, wenn einem kleinen Menschen die Seele gebrochen wird. Der Heimleiter, ein guter Freund und Kollege, schickte mir auch Jugendliche. Er hoffte, dass sie im therapeutischen Einzelsetting lernen würden, ihre unbändige Wut zu zügeln.

Meine scheinbar so verschiedenen Fälle hatten einen gemeinsamen Nenner: Die Menschen sehnten sich nach Liebe und Glück. Doch sie fühlten sich als Opfer und litten darunter. Allein fanden sie keinen Ausweg aus dieser Rolle.

Das war vor 27 Jahren. Ich kam damals aus der Forschung und fühlte mich noch unerfahren in therapeutischen Dingen. Doch ich brannte darauf, verborgene Muster und Strukturen in meinem neuen Wirkkreis zu ergründen. Die Frage, die mich während dieser Zeit umtrieb, kann ich heute beantworten: Was genau ist es, das diese Menschen von ihrer emotionalen Not befreit? Was könnte ihnen, jenseits von „Tsjakkaa“ und Problembagatellisierung, nachhaltig helfen? Und da setzte sich der Grundgedanke dieses Satzes durch: Du bist zu alt, um deine Eltern verantwortlich zu machen.

Ich begriff, dass es ihnen nicht half, den Eltern oder den Umständen die Schuld für die eigene Lebensgestaltung zuzuschreiben. Das lenkt nur ab vom eigentlichen Thema und vom eigenen Potenzial. Emotional frei werden setzt voraus, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das bringt die Menschen neu in Kontakt mit ihrem Wesenskern, mit ihren Träumen und Sehnsüchten. Wem es gelingt, den Fokus auf sich selbst zu richten, findet bald einen Weg, die emotionalen Verstrickungen der Vergangenheit zu entwirren und abzustreifen.

Dieser Lösungsansatz war und ist für mich die Antwort auf meinen selbst gestellten Forschungsauftrag: Warum erleben sich einige Menschen als Opfer – gefangen in Unzufriedenheit, Wut oder einer stabilen Grundtraurigkeit –, während andere mit einem durchaus ähnlichen Schicksal ein glückliches Leben führen? Diese Forschung führe ich in meiner Arbeit als Trainerin und Coach auch heute weiter. Das Ergebnis, den heutigen Stand der Erkenntnisse, findest du in diesem Buch.

*

„Man muss sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen.“

Dieser Satz von Viktor Frankl* begleitete mich, Ralf Dannemeyer, in meiner Arbeit als Wissenschaftsjournalist und inspiriert mich heute als Coach und Trainer. Ich erlebte, wie Frauen und Männer auf den oberen Stufen der Karriereleiter unter dem Druck des eigenen Anspruchs oder der öffentlichen Meinung zusammenbrachen. Ich weiß, wie sich eine Schreibhemmung anfühlt – und wie der dadurch aus den Tiefen des Unbewussten aufsteigende Selbstzweifel das Leben verdunkelt. Ich erlebe heute als Coach und Trainer, wie erfolgreiche Menschen an Auftrittsangst leiden, Konflikte nicht aushalten oder an dem Gedanken verzweifeln, Aufträge und Erfolge könnten ausbleiben.

Ein Aspekt verbindet diese Menschen: die Angst, Opfer zu werden. Völlig unabhängig vom konkreten Thema schlummert sie gut getarnt im Unbewussten. Sie zeigt sich nicht als die Illusion, die sie in Wahrheit ist. Sondern sie spült diffuse weitere Ängste aus dem Inneren hoch: Wehe, wenn du ausgelacht oder kritisiert oder allein gelassen wirst! Wehe, wenn du versagst und deinen Job verlierst!

Die Betreffenden werden meist nicht Opfer einer zwingenden Realität, sondern ihrer Ansprüche und Ängste und, vor allem, der uralten Überzeugung, nicht zu genügen.

Sie lassen sich von sich selbst ziemlich viel gefallen!

Seit über 30 Jahren treibt mich die Frage um, wie Menschen ein gelingendes Leben führen können, wie sie ihren Sehnsüchten folgen und ihre Träume wahr werden lassen. Die Ergebnisse dieser Forschung findest du in diesem Buch.

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Der Weg zu emotionaler Freiheit ist unser Herzensanliegen in der gemeinsamen Arbeit. Wir beide sind ihn selbst gegangen. Wir wissen, wie steinig er manchmal sein kann. Wie steil es anfangs nach oben geht und wie beängstigend mitunter auch die Abgründe sind, die sich bei einem Rückschritt plötzlich auftun können. Und wir beide haben erfahren, wie leicht es ist, an sich selbst zu zweifeln, anderen die Schuld zu geben und sich als Opfer zu fühlen. Wir wissen aber auch, wie unbefriedigend dieser Zustand ist. Und wie viel beglückender es ist, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, die Aufstiege zu wagen und auch in die Abgründe zu schauen. Nach Lösungen zu suchen und Rückschritte mit Gelassenheit zu korrigieren.

Wenn dir das nur ein-, zweimal gelingt, weißt du, dass du es kannst! Und damit hast du die große Magie der Veränderung entdeckt: lieben und vertrauen. Liebe zu dir selbst und Vertrauen in die eigene Kraft. Wenn es dir gelingt, dich aus alten Verstrickungen zu befreien, wirst du erkennen, was dein ureigener Wesenskern ist – also: wer du bist. Dann möchtest du wahrscheinlich erforschen, wonach du dich schon dein Leben lang sehnst und wie du deine tiefste Sehnsucht Realität werden lässt.

Dieses Buch lüftet das Geheimnis um diesen Wesenskern: Was er ist, wie er sich hinter den Masken des Egos versteckt und wie du seinen grauen Mantel in den schönsten Farben neu erstrahlen lässt. Sei gespannt!

Wir zeigen dir in diesem Buch Möglichkeiten, deinem Inneren Kind zu begegnen und dich aus den Verstrickungen deiner Vergangenheit zu befreien, deine Eltern oder die Umstände endlich aus der Verantwortung für dein Leben zu entlassen und dir von deinem Ego nicht mehr alles gefallen zu lassen.

Das ist unserer Ansicht nach die Voraussetzung für ein glückliches, selbstbestimmtes Leben. Tief in deinem Inneren wächst damit eine Kraft, die dich auch in Krisen stärkt, damit du diese leichter meistern kannst.

Unser Buch ist dafür geschrieben, Liebe in die Welt zu senden. Unser leitendes Motiv, unsere tiefste Sehnsucht ist es, die Erde zu einem Ort zu machen, an dem Menschen sich einander emotional frei und zugleich mit Respekt und Wertschätzung zuwenden. Diese Veränderung beginnt bei der Liebe zu sich selbst. Denn nur wenn du in der Lage bist, dich selbst aufrichtig zu lieben, wirst du wissen, wie du diese Liebe mit anderen teilen kannst.

Wir wünschen dir viel Spaß mit diesem Buch, wir wünschen dir Aha-Erlebnisse und die Kraft und den Mut, Neues auszuprobieren.

Willkommen in unserer Welt!

Deine Petra Dannemeyer 

Dein Ralf Dannemeyer

PS: Es wird dir schon im Vorwort aufgefallen sein, dass wir einfach „du“ sagen, wie in unseren Seminaren. Das schafft für uns die Nähe und das Vertrauen, die aus unserer Sicht der Nährboden für eine motivierende Lernatmosphäre sind. Oder, um es mit dem Philosophen Martin Buber (1962, Seite 79 f.) zu sagen: „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Liebe ist die Verantwortung eines Ich für ein Du. Am Anfang steht die Beziehung. Der Mensch wird am Du zum Ich.“

PPS: Ein paar Worte zu unserer Genderregelung. Wir finden, dass Formulierungen wie „Teilnehmerinnen und Teilnehmer“, „Klientinnen und Klienten“, „Politikerinnen und Politiker“ Texte in die Länge ziehen, den Lesefluss stören und gestelzt klingen. Andererseits schließt eine rein männliche Formulierung fast die Hälfte der Menschheit sprachlich aus (laut Deutsche Stiftung Weltbevölkerung [2019] leben heute 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde – 3,82 Milliarden Frauen, 3,89 Milliarden Männer). Deshalb wechseln wir im Text zwischen den Geschlechtern, wählen mal die feminine, mal die maskuline Form. Und gelegentlich nutzen wir, wenn es sich gut in den Lesefluss einfügt, das Gendersternchen, also zum Beispiel Kämpfer*in oder Spieler*in. Gemeint sind immer Männer und Jungen, Frauen und Mädchen ebenso wie Transgender – eben alle Menschen dieser einen Welt.


*  Viktor Frankl (1905–1997) war Neurologe und Psychiater. In seinem Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (2018) beschreibt der Österreicher, wie es ihm gelang, an einem Ort der größten Unmenschlichkeit den Glauben an den Sinn des Lebens aufrechtzuerhalten.

5. Das Ego und seine Masken

„Das Ego ist ein Geist,
der Angst hat zu sterben.“

– Mooji (Anthony Paul Moo-Young), spiritueller Lehrer

Was der Mensch über sich selbst denkt und wie er fühlt, wenn er über sich selbst nachdenkt, das nennen Psychologen sein Selbstbild oder sein Selbstkonzept (Bergius, 2014, Seite 1393). In der englischen Sprache heißt der Fachbegriff Self Image, was noch deutlicher macht, worum es hier geht: Das „Image“ ist gewissermaßen die Quintessenz aller Einstellungen über ein Individuum oder eine Organisation. Self Image bezeichnet also die feste Vorstellung vom eigenen Charakter oder von der eigenen Persönlichkeit.

Der Spiegel unseres Selbst in uns selbst – als eine feste Vorstellung. Als die in Stein gemeißelte Wahrheit: „So bin ich!“ Das ist eine Illusion mit sehr tragischen Folgen.

Denn unser Selbstbild ist gar kein Selbstbild. Es ist ein Fremdbild! Und es ist auch keine Wahrheit. Sondern eine Konstruktion!

Das haben die vorangegangenen Kapitel dieses Buches gezeigt. Hier noch mal in aller Kürze zusammengefasst:

Wir kommen mit unserem Wesenskern zur Welt: Das ist, wer du bist. In den ersten Jahren unseres Lebens haben wir keine Meinung über uns selbst; wir können nichts bewerten, nicht über uns selbst reflektieren, wir wissen zunächst noch nicht einmal, dass wir ein von unserer Mama unterschiedliches Wesen sind. Wir öffnen uns für alle Einflüsse von Eltern, Erziehern, Lehrern, Vorbildern und anderen für uns wichtigen Personen. Diese beschreiben unser bisher fast „unbeschriebenes Blatt“ und prägen dabei den größten und für unser weiteres Leben stabilsten Teil unseres Selbstbildes. Dieser Prozess dauert während unserer gesamten Entwicklung an; dabei vergessen wir mehr und mehr unseren Wesenskern: Wir vergessen, wer wir sind. An seine Stelle tritt das, was unsere Bezugspersonen uns darüber lehren, wie wir sind und wie die Welt um uns beschaffen sei: Sie kopieren ihre „Landkarte“ auf unser weißes Blatt.

Dabei verabreichen sie uns die sieben emotionalen Gifte, die sich wie ein grauer Schleier über unseren Wesenskern legen. Oder sie schenken uns die sieben Gaben. Das eine haben wir als die MitGIFT bezeichnet, die uns unter Umständen ein Leben lang limitiert. Das andere als die Mitgift, die Geschenke unserer Ahnen, die uns stärken.

Alles zusammen führt zu einem umfassenden Lebenskonzept, dessen wichtigster Teil unser sogenanntes Selbstbild ist, auch Ego genannt.

5.1 Unser Selbstbild ist eine Illusion

Unabhängig davon, ob es sich um eine MitGIFT oder um eine Mitgift handelt – unser Selbstbild ist ein geborgtes Bild unseres Selbst, kein eigenes. Das Ego ist eine Illusion. Vielleicht eine nützliche, weil sie den Menschen auf dem Weg der Liebe und des Wachstums begleitet hat und weiter begleiten wird. Ist es bei dir so?

Dann führst du wahrscheinlich ein sehr glückliches, erfülltes Leben. Du lebst Liebe und gute Beziehungen, hast Erfolg, Spaß und Tiefe – jedenfalls meistens. Du lebst deine Potenziale, achtest dich selbst, kennst deine Sehnsüchte und verwirklichst diese – vielleicht nicht immer und vielleicht nicht alle auf einmal. Doch jeden Tag ein bisschen mehr. Du bist das, was wir als kongruente Persönlichkeit bezeichnet haben (siehe hier).

Oder ist deine Illusion darüber, wer du bist, durch die Intoxikation mit einem oder mehreren der sieben emotionalen Gifte geprägt? Dann fühlt sich dein Leben wahrscheinlich unvollständig an oder nicht so, wie du es dir wünschst. Irgendetwas fehlt immer zum Glück – und du kannst vielleicht gar nicht sagen, was es ist. Jedenfalls nicht genau. Du gehörst zu den Menschen mit den inkongruenten Mustern, die entweder immerzu oder nur in Stresssituationen eines der vier Schwingungsmuster nutzen.

Wie ist es bei dir, liebe Leserin, lieber Leser? Bei den meisten Menschen dürfte die Antwort ungefähr so lauten: „Mal so und mal so. Kommt auf die Situation an und mit wem ich gerade spreche oder zusammen bin.“ Einige wenige werden sich in jeder Situation kongruent zeigen oder sich zumindest so fühlen. Und einige verhalten sich immerzu inkongruent – in jedem Kontext und gegenüber jedem Kommunikationspartner. Entscheidend ist, dass der Mensch sich seines Wesenskerns wieder bewusst wird und immer mehr selbstbestimmt und immer weniger unter dem Einfluss inkongruenter Schwingungsmuster handelt. Dazu ein kleiner Ausflug in die Wissenschaft:

Das Selbst und die Selbstverwirklichung

Das „Selbst“ erforschen Wissenschaftler der Disziplinen Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Philosophie und Theologie. Dennoch haben sie darüber keine einheitliche Vorstellung oder Definition. Ein Modell lieferte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961). Er veröffentlichte 1921 ein bahnbrechendes Werk mit dem Titel Psychologische Typen (Jung, 2011), das noch heute als grundlegend gilt und von dem auch unsere Arbeit inspiriert ist. Darin stellt er das Selbst als Zentrum der menschlichen Psyche dar und untersucht das Verhältnis zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten. Das ICH stellt den bewussten Teil des Selbst dar. Jung empfiehlt, diesen langsam und stetig immer größer werden zu lassen – also die Dunkelheit des Unbewussten immer mehr zu erleuchten und sich selbst zu erkennen. In diesem Prozess, genannt Selbstverwirklichung oder Individuation, reift die Persönlichkeit, und der Mensch gelangt immer mehr zu persönlicher Ganzheit. Unterlässt der Mensch dies, so hält er das ICH – also den eher kleinen bewussten Teil des Selbst – irrtümlich bereits für die ganze Wahrheit. Doch das Unbewusste ist eine starke innere Instanz, die von innen gewissermaßen „anklopft“. Sie zu unterdrücken, gelingt nur begrenzt – und mit einem großen Risiko für die seelische Gesundheit.

Auf unser Thema bezogen ist das dann der Fall, wenn ein Mensch entsprechend inkongruenter Schwingungsmuster lebt, handelt und kommuniziert und gleichzeitig meint, dies sei das „richtige“ und für ihn einzig mögliche Lebenskonzept. Der Betreffende hält dann also den von den sieben emotionalen Giften geprägten Teil seines Selbst für seinen Wesenskern, für sein ganzes Selbst. Wie ist es bei dir? Was weißt du über dich? Nähern wir uns dieser Frage mit einer kleinen Selbstreflexion an:

Wenn es einen zweiten Menschen gäbe, der genau so ist wie du – wärest du gern dein*e Freund*in?

Im Ernst: Gehe einmal dieser Frage nach. Schreibe für unser kleines Gedankenexperiment alles auf, was für eine Freundschaft mit dir selbst spricht, und alles, was dagegenspricht. Und dann stelle dir vor, du könntest alle Pros und Kontras auf eine Waage legen. Was wiegt schwerer: Die Kriterien, die für eine Freundschaft mit dir sprechen? Oder jene, die dagegensprechen? Anders gefragt: Wenn du einmal alles betrachtest, was dich ausmacht und wie du dich selbst wahrnimmst, wie lautet dann deine Bewertung über dich selbst? Bist du in deiner Selbstwahrnehmung

Und diese kleine Selbstreflexion – was bewegt die in dir? Macht sie dich

Diese kleine Reflexion ist eine gute erste Bestandsaufnahme zu deinem Selbstkonzept (= das, was du über dich denkst, wer oder was du bist). Dieses ist untrennbar mit dem Ego verbunden. Mit Ego meinen Psychologen eine Funktion des Bewusstseins, mit dessen Hilfe sich das Ich in der Welt zurechtzufinden versucht.

Umgangssprachlich ist mit Ego als Kurzform von Egoismus gemeint, dass jemand Vorteile für sich selbst herausschlagen will, eventuell auch ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Dass jemand sich zum Beispiel in einer Schlange vor der Supermarktkasse vordrängelt, das größte Stück vom Kuchen nimmt, sein Geld lieber für Zigaretten ausgibt, statt für die Kinder den Schulausflug zu finanzieren, sich auf Kosten der Kolleginnen vor der Arbeit drückt oder schlecht über einen Mitmenschen spricht, um selbst besser dazustehen. Selbstsucht, Ichsucht und Eigenliebe sind Synonyme für diese Art von Egoismus.

Dies gehört zwar dazu, ist jedoch eher eine Folge des umfassenderen Phänomens Ego. Im psychologischen Sinne ist damit das Konstrukt aus den Meinungen und den Aussagen anderer über uns gemeint, und vor allem: Wie wir diese verstanden und in uns aufgenommen haben. Das Ego hat also, anders als die Übersetzung aus dem Lateinischen (ego = ich) vermuten lässt, mit dem Ich als eigenständiges Wesen gar nichts zu tun. Wir haben es übernommen zu einem Zeitpunkt, als wir noch gar kein Ego haben konnten – wir wussten nichts über uns selbst. Und doch lassen sich die meisten Menschen von ihrem Ego beherrschen – von der Wiege an und unter Umständen bis zur Bahre. Dann denkt der Mensch, er sei, was er besitzt. Dass der Job, der berufliche Erfolg, das Wissen oder der Preis der Wohnungseinrichtung und der Kleidung etwas über das Ich aussagt.

5.2 Von Masken und Rollenspielen

Das Ego ist grundlegend für das Selbstwertgefühl, also für die Bewertung, die der Mensch über sich selbst trifft.

Es tritt in vielen Facetten auf, zum Beispiel:

Getrennt sein – eins sein

Diesen Aspekt können wir nur kurz anschneiden. Darüber wurden aus der Sichtweise verschiedener spiritueller und philosophischer Schulen ganze Bibliotheken gefüllt. Zusammengefasst geht es hier um eine sehr aktuelle und global bedeutsame Frage, vielleicht um die Frage des Überlebens unseres Planeten: Ist der Mensch ein Einzelwesen? Sind ein Zaun um ein Haus, eine Grenze um eine Nation oder gar eine Mauer zwischen zwei Ländern „natürliche“ Zustände? Ist es „normal“, wenn eine Regierung dem Kapitän / der Kapitänin eines Schiffes mit Flüchtlingen an Bord den Zugang zu ihrem Hafen verweigert, wo sich die Menschen überlebenswichtige Nahrung, medizinische Versorgung und ein wenig Sicherheit erhoffen? Darf man das? Wem gehört die Welt?

Diese Haltung beinhaltet die Tendenz, sich nur unter seinesgleichen zu Hause zu fühlen und sich abzugrenzen von denen, die nicht dazugehören. Dann, so glauben viele Menschen, brauche man weniger Diskriminierung zu fürchten, weniger Ausgrenzung, weniger Fremdes und Befremdliches, weniger Gefahr, weniger Kränkung, weniger Armut und weniger Vereinsamung. Mit dieser Haltung ist das Ego andauernd gefährdet, und man muss ständig Abwehrkämpfe kämpfen – zum Schutze des Selbstwerts, des guten Rufs, des Arbeitsplatzes, des Besitzes. Gefährdet sind dann, kollektiv betrachtet, auch der Reichtum einer Nation, seine Kultur, seine Vormacht auf dem Weltmarkt.

Der treue Begleiter einer solchen Sichtweise ist die Angst. Angst davor, Macht, Einfluss, Besitztümer, einen anderen Menschen zu verlieren.

In einer anderen, einer spirituellen Sichtweise ist der Mensch mit allem verbunden, was lebendig ist. Der andere Mensch, mein Nachbar, meine Kollegin, mein Partner, die Mütter und Väter mit ihren Kindern auf dem Flüchtlingsschiff, sind aus dieser Sicht, genau wie ich selbst, Teil eines größeren Ganzen. Um das zu erklären, wird gern das Bild vom Wassertropfen als Teil der Weltmeere genommen. Scheinbar steht der Tropfen für sich selbst, aber gleichzeitig ist er Teil des Meeres. Folgen wir dieser Metapher, so sind wir wie der Tropfen im Meer. Unsere begrenzte Sicht auf das größere Ganze, also das Meer, lässt uns glauben, wir seien getrennte Wesen. Oder nimm den Samen, der vom Baum auf den Waldboden fällt: Er scheint ein „anderer“ Körper zu sein und ist doch Teil dessen, woher er kommt. Und in der Gemeinschaft als Wald ist er Teil dieser Einheit.

In dieser Idee erkennen ihre Anhänger den Zyklus des Lebens und des Seins. Das führt zu einer tiefen Verbundenheit mit anderen Menschen, der Menschheit, der Natur, einer umfassenden Idee, einem größeren Ganzen (für manche ist das: Spirit, Gott, Buddha, allgemein: das Göttliche, das höhere Selbst). Das Selbst wird auf dieser Ebene sowohl individuell erlebt als auch als ein Teil des größeren, mitfühlenden Ganzen.

Und damit sind wir wieder beim Wesenskern, mit dem der Mensch zur Welt kommt. Die Antwort auf die Frage, wer wir sind, lautet: Liebe. Und ein Teil von Allem, was ist.

Ein Selbstbild, das in Wahrheit ein Fremdbild ist. Das Ego mit seinen verschiedenen Facetten. Das Selbstwertgefühl und die Schwingungsmuster: Es ist, als setzten wir uns Masken auf, um vor uns und unserer Umwelt zu verbergen, wer wir sind. Wir verbergen unseren Wesenskern.

Mit einer Maske verändert der Schauspieler sein äußeres Erscheinungsbild, um eine Rolle überzeugend spielen zu können. Maske heißt im Lateinischen bezeichnenderweise persona oder „das Durchtönende“. Denn im Theater der Antike tönten die Stimmen der Schauspieler durch ihre Masken hindurch, während sie selbst verdeckt blieben. Aus diesem Wort ist die deutsche Bezeichnung „Persönlichkeit“ abgeleitet. Die Persönlichkeit, die wir uns und anderen Menschen zeigen, ist eine Maske, durch die wir hindurchtönen.

Mit ihr können wir eine Rolle spielen. Mit unserem „Rollenspiel“ können wir anderen Menschen das zeigen, was wir von uns zeigen möchten. Dabei kommt es oft zu merkwürdigen Widersprüchen zwischen dem, was der Mensch ausdrückt, und dem, was er in Wahrheit fühlt.

Jedes Mal, wenn wir uns hinter unseren Masken verstecken und unsere Schwingungsmuster spielen, schützen wir unseren Wesenskern vor den Verletzungen, die wir seit frühester Kindheit erfahren haben. Wir schützen unser Inneres Kind davor, noch weiter verletzt zu werden. Doch wie kann es anders gehen? Sollen wir unsere Masken vollständig ablegen?

Nein, natürlich nicht.

Wir haben Eigenschaften, die von der Gesellschaft als „gut“ anerkannt sind. Das ist alles, was auch anderen Menschen dient: Altruismus, Güte, Ehrlichkeit, Fairness, Mut, Gnade, Hilfsbereitschaft, Umsicht, Selbstbeherrschung … und vieles mehr. Und wir haben „Laster“, die uns vielleicht das individuelle Überleben oder das größere Stück vom Kuchen sichern – und die ganz und gar nicht gut ankommen: Feigheit, Gier, Neid, Betrügen, Prahlerei, sich auf einer Party für einen One-Night-Stand einem Mann oder einer Frau an den Hals werfen, Drogen konsumieren, Eigennützigkeit – um nur ein paar zu erwähnen. Die guten Dinge wollen wir zeigen, unsere „dunklen“ Seiten hinter den Masken verbergen.

Angenommen, du würdest alle deine Masken abnehmen und überall und immer dein wahres Gesicht zeigen – wie wäre das? Wenn du über diese Möglichkeit lange und intensiv genug nachdenkst, tauchen einige Fragen und Ängste auf: Werden die anderen dein ihnen bislang unbekanntes Gesicht mögen? Werden sie dich ohne Maske akzeptieren? Werden sie dich noch lieben und respektieren? Wer weiß. Sie haben ja deine Maske geliebt oder respektiert. Werden sie vielleicht weglaufen, sobald du dich ohne Maske zeigst?

Das wäre unter Umständen das Ergebnis, wenn du radikal „von deinem Ego lässt“. Diese Forderung liest oder hört man leider trotzdem oft in spirituellen Büchern, Selbsterfahrungsseminaren oder von selbst ernannten Gurus: „das Ego loslassen“, „die Masken absetzen“, „totales Sein“. Das mutet mitunter esoterisch-naiv an. Und wie das funktionieren soll, wird nicht beschrieben. Es ist ja gerade das Problem, dass wir unseren Wesenskern, unsere innere Essenz, vergessen haben, nicht kennen.

Und ist es überhaupt von Vorteil, dem Ego ganz abzuschwören und uns radikal alle Masken vom Gesicht zu reißen?

Nein, lautet unsere Antwort.

Dass wir aufgrund gesellschaftlicher, beruflicher oder familiärer Verpflichtungen bestimmte Rollen spielen, ist nicht zwingend negativ: Unser „Rollenverständnis“ ist eine wichtige soziale Kompetenz. Wenn wir Vater oder Mutter sind, tragen wir eine andere Maske als an unserem Arbeitsplatz, wo wir als Mitarbeiter, Teammitglied oder Chefin wirken. Wenn wir einkaufen oder in einem Restaurant den Abend genießen, erwarten wir Freundlichkeit und Serviceorientierung, unabhängig davon, ob der Verkäufer oder die Kellnerin dafür eine Maske aufsetzt oder uns im Zustand ihrer Essenz gegenübertritt. Und wenn uns danach ist, einen Stinker in der U-Bahn einen Stinker zu nennen, ist es vielleicht gut, dennoch höflich zu bleiben.

Zur emotionalen Intelligenz gehört es eben auch, einen positiven Einfluss auf Beziehungen zu nehmen, mit den Gefühlen anderer Menschen gut umzugehen und unsere Rolle gut und korrekt zu spielen. Wir legen Wert auf die Wertschätzung unserer Mitmenschen und auf einen guten Ruf. Wir möchten also ein gutes Bild abgeben, auch wenn wir uns mal anders fühlen. Wir möchten dazugehören, bei den täglichen Spielen des Lebens mitspielen und Einfluss haben. Deshalb spielen wir unsere Rollen und setzen unsere Masken auf, so, wie wir es bereits in der frühen Kindheit gelernt haben. Dies gibt uns Sicherheit und Schutz. Das ist die positive Seite unserer Masken.

Doch wer seit vielen Jahren dauernd nur Masken trägt, hat unter Umständen selbst vergessen, was sich dahinter verbirgt. Dann sind die Masken zu einem festen Teil des Betreffenden geworden; sie sind sein Selbstkonzept. Der Mensch spielt zwar eine Rolle, doch er glaubt, diese sei die Wahrheit. Dieser Irrtum hat sich dann fest in seinem Unbewussten verankert und bildet die Grundlage seiner Glaubenssätze, seiner Emotionen, seines Handelns – kurz: seiner Schwingungsmuster.

Kommen wir an dieser Stelle noch einmal zurück zum Ego und der Angst, etwas zu verlieren, sei es Sicherheit, Besitztümer, Einfluss oder eine Beziehung. Die Angst davor, ein geliebter Mensch könne gehen, verbunden mit der Vorstellung, man könne sich davor schützen, wenn man es nur geschickt genug anstellt, ist, genau angeschaut, das Gegenteil von Liebe. Dieses Festhalten impliziert die Einstellung, man könne einen Menschen „besitzen“. Hast du auch schon einmal Aussagen wie diese gehört? „Diese Frau / dieser Mann gehört mir.“ – „Das sind meine Kinder.“ – „Ich habe sie zur Frau genommen.“ Das klingt, als wäre der andere eine Sache, die man sich nehmen darf. Und: Wenn ich die Lust an meiner Sache verloren habe, dann werfe ich sie weg. Niemals geht meine Sache von sich aus …

Auf diese – freilich unbewusste – Haltung vieler Menschen ist es unserer Beobachtung nach zurückzuführen, dass nach einer Trennung oftmals nur noch Hass und Ablehnung übrig bleiben. Wenn die Beteiligten sich vor Gericht über die Aufteilung des Besitzes streiten oder darüber, wer die Kinder „bekommt“ (!), ziehen sie in den Schmutz, was sie einst ihre Liebe genannt haben.

Doch was führte zur Trennung? Eine Enttäuschung. Ein oder beide Partner sind enttäuscht darüber, dass der andere die Erwartungen des Egos nicht erfüllt hat. Enttäuschung ist ein schönes Wort: Trennt man die erste Silbe vom Rest, steht da Ent-Täuschung: Die Täuschung hört auf. Das wäre im Grunde genommen ein guter Anlass, dem Partner oder der Partnerin dafür zu danken, dass endlich Schluss ist mit der Täuschung – und dann neu darüber nachzudenken, was eigentlich Liebe ist.

Oft sind es Trennungen, die das Ego in seinen Grundfesten erschüttern. Denn in vielen Paarbeziehungen wirkt die Liebe-Angst-Polarität, die wir in Kapitel 2 beschrieben haben, ausgesprochen stark.

Das ist dann der Fall, wenn bei einem oder bei beiden Partner*innen die Angst vor dem Alleinsein und das „Liebe-haben-Wollen“ im Vordergrund stehen: eine Beziehung im Zustand des Mangels. Diese unreife Form der Liebe, die auch „symbiotische Vereinigung“ genannt wird, ist vergleichbar mit der Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Sie „leben zusammen“ (sym-biose; altgriechisch σύν sýn = „zusammen“ sowie βίος bios = „Leben“) – und die Mutter gibt alles, was das Kind zum Leben braucht.

In der Beziehung Mutter / Kind ist das auch richtig so. Sind erwachsene Menschen symbiotisch vereinigt, so können sie zwar körperlich unabhängig voneinander existieren. Auf der psychologisch-energetischen Ebene erleben sie sich jedoch als Teil einer anderen Person. „In meinem Leben fehlt etwas, weil ich mich allein, unsicher, wertlos fühle“, lautet ein verbreiteter Glaubenssatz dieser Menschen. Sie wählen deshalb Partner, die ihre Defizite ausgleichen sollen. Eine Partnerschaft ist jedoch großen Belastungen ausgesetzt, wenn sie gleichsam eine therapeutische Funktion erfüllen soll.

Denn in der symbiotischen Beziehung benutzt ein Partner den anderen (oder beide einander), um bei sich selbst etwas zu heilen oder etwas auszugleichen, woran es einem selbst vermeintlich mangelt. Die Trennung räumt auf mit der Täuschung, dass dies möglich sei.

Robert, 42 Jahre alt, ist ein schüchterner Mann und seit einem Jahr geschieden. Seine Exfrau fand ihn zu behäbig, inaktiv und langweilig. Sie strebte ein aktiveres Leben an, doch Robert war dafür nicht bereit.

Er glaubt, er sei schuld an der Trennung. Damit war er in seinem Ego getroffen. Denn seine Frau hatte ihm gespiegelt, was er selbst von sich dachte: „Ich bin ein unscheinbarer, schüchterner Typ, der eh nichts auf die Reihe bringt.“ Die Trennung bestätigte ihm, dass er mit seinem heimlichen Selbstkonzept die ganze Zeit recht hatte.

Nach der Ent-Täuschung könnte Robert über sein Selbstkonzept nachdenken und mehr zu dem werden, der er ist: Also seinen Wesenskern erforschen und sich von seiner emotionalen MitGIFT lösen. Doch wenn Robert mit seiner limitierenden Einstellung eine neue Beziehung beginnt, wird sich nichts verändern. Er macht mehr vom selben – mit dem gleichen Ergebnis: eine symbiotische Beziehung. Das wird sich so lange wiederholen, wie Robert im Außen die Liebe und den Respekt sucht, die er in sich nicht fühlt. Die Außenwelt spiegelt Robert sein eigenes Bild von sich. Wenn Robert beginnen würde, sich zu einer innerlich reichen und sich selbst liebenden Persönlichkeit zu entwickeln, hätte er bald den Schlüssel zum Liebesglück in der Hand und eine echte Chance, in einer Beziehung mit einer neuen Partnerin eins und zugleich mit sich selbst eins zu sein – anstatt im ewigen Ego-Spiel auf der Flucht vor sich selbst.

Das Beispiel zeigt: Vor lauter Außenorientierung (der Suche des Heils im anderen) ist der Mensch vollständig in der Falle der Liebe-Angst-Polarität gefangen und hat seinen Wesenskern vergessen. Und da er ihn vergessen hat, kann er ihn auch nicht leben – nichts davon. Er spielt ein ewiges Spiel und nichts ist echt und nichts macht wirklich glücklich. Das ewige Spiel mit den Masken des Egos kann zu schweren psychischen Erkrankungen wie Süchten, Depressionen, Ess- oder Angststörungen führen.

Wir brauchen jedoch unseren Wesenskern nicht zu vergessen. Und, falls dies schon geschehen sein sollte: Wir können uns wiedererinnern. Jederzeit. Wir können unserem Ego gestatten, einen gewissen Raum in uns einzunehmen, den wir definieren. Dann haben wir ein Ego und benutzen es zu unserem Wohl. Und nicht: Das Ego hat uns.

Die Frage lautet also nicht: Wollen wir Masken tragen oder nicht? Die Fragen eines emotional freien Menschen lauten anders:

Erst wenn du diese Fragen für dich beantwortest, kannst du entscheiden, ob du begrenzende Glaubenssätze, Konditionierungen, vererbte Seelennarben durch neue Gedanken, neue Glaubenssätze und eine erweiterte, bunte Landkarte ersetzen möchtest. Du darfst dich neu definieren und dein strahlendes Jetzt in eine verlockende Zukunft führen. Du bist emotional frei!

Im zweiten Teil, ab der nächsten Seite, zeigen wir dir Wege zu dieser Freiheit.

10. Wer steuert dein Boot? – Das Geheimnis der Lebensschiffe

„In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein
über die Dinge, die du nicht getan hast,
als über die Dinge, die du getan hast.
Also löse die Knoten, laufe aus aus dem
sicheren Hafen. Erfasse die Passatwinde mit
deinen Segeln. Erforsche. Träume.“

– Mark Twain

Vorbemerkung

In diesem Kapitel schenken wir dir eine fantastische Geschichte, gewissermaßen eine hypnotische Lehrgeschichte. Die Kernfrage dabei ist diese: Wie können wir lernen, glücklich zu sein und unseren Wesenskern zu leben?

Leider sind viele Menschen Gefangene ihres eigenen Gehirns. Sie verhalten sich so, als ob sie an der Reling ihres Lebensschiffes festgekettet wären, während jemand anderes ihre Rolle des Kapitäns auf der Kommandobrücke einnimmt.

Wenn dein Leben einmal nicht so rundläuft, wenn du dich von anderen gegängelt, dominiert oder übermäßig kritisiert fühlst, wenn du dich über jemanden ärgerst – dann solltest du dir selbst eine zentrale Frage stellen. Sie lautet: „Wer steuert gerade mein Schiff? Wer hält gerade mein Ruder in der Hand?“ Das ist der Kern dieses Buches in Form einer Metapher: Jeder kann lernen, sein Ruder fest in die eigenen Hände zu nehmen. Dafür bietet dieses Buch ein Set an Möglichkeiten, das Gehirn bewusst zu lenken, konstruktive von destruktiven Gedanken zu unterscheiden, den emotionalen Zustand zu beeinflussen, Ziele zu kreieren und Strategien für deren Umsetzung zu finden.

Statt unbewusst immer wieder die alten inneren CDs abzuspielen, kann der Mensch lernen, neue zu beschreiben, vorausgesetzt, er verfügt über die Fähigkeit, sein Lebensschiff zu steuern.

*

Die 14-jährige Amelie liebt ihren Urgroßvater über alles. Er ist zwar schon 92 Jahre alt. Doch er ist fit, findet Amelie, und vor allem ein wacher, toleranter Geist. Vor allem kann er immer die schönsten Geschichten erzählen. Amelie scheint es, als ob Urgroßvater sie sich ausdenkt, während er spricht. Und soweit Amelie zurückdenken kann, hat sie immer lange über seine Geschichten nachgedacht und viel daraus gelernt.

Darüber hat sie sich oft gewundert. Wenn ihre Eltern oder ihre Lehrerin möchten, dass Amelie etwas lernt, dann sagen sie immer Dinge wie „Du musst …“, „Das macht man so und so …“, „Dies ist richtig, und das ist falsch“. Okay, sie meinen es gut. Aber mehr Spaß macht das Lernen beim Urgroßvater. Bei ihm lernt sie wirklich fürs Leben. Neulich hat Amelie in der Schule ein Wort gehört: „Nachhaltig“. Ja, Urgroßvaters Lehren sind nachhaltig. Weil er sie immer in eine spannende Geschichte kleidet, die so, wie er sie erzählt, gar nicht stimmen kann.

Heute hat der Urgroßvater seine Urenkelin zu einem Spaziergang an den nahe gelegenen Fluss eingeladen. Da will er ihr eine seiner Geschichten erzählen, hat er gesagt. Und noch etwas hat er gesagt, das Amelie beunruhigt: Er will, dass seine Urenkelin diese Geschichte aufschreibt und sie später so oft wie möglich weitererzählt. „Tu das bitte, wenn ich mal nicht mehr bin“, hat Urgroßvater gesagt. Da hat Amelie zum ersten Mal den Gedanken gedacht, dass die Zeit mit ihrem lieben Ur-Opi langsam, aber sicher abläuft.

Mit diesen Gedanken im Kopf sitzt Amelie nun neben ihrem Urgroßvater auf einer Bank am Fluss. Sie schauen in das klare Wasser, welches unablässig mal schneller und mal langsamer fließt.

Amelie erinnert sich, dass der Urgroßvater ihr vor einigen Jahren die Geschichte vom Fluss der Zeit erzählte. Die Zeit, die wie das Wasser immer weiter und weiter fließt. Der Fluss der Zeit ist unaufhaltsam. Das, was du in einem Moment verpasst, kannst du niemals zurückholen.

Der Urgroßvater hatte ihr erzählt, dass die meisten Menschen auf ihre Zeit nicht gut genug aufpassen, sie nicht intensiv genug nutzen. „Denn“, so sagte er, „sie denken nicht daran, dass sie ihre Zeit nicht zurückholen, sie nicht auf ein Konto legen und für später aufbewahren können. Man nutzt die Zeit oder lässt sie an sich vorbeifließen, wie das Wasser im Fluss.“

Amelie verstand das nicht so recht, denn vor ihr lag doch noch ihr ganzes Leben. Der Urgroßvater schmunzelte und streichelte ihr liebevoll über den Kopf, während er mit seiner brummigen Stimme sagte: „Das ist das Privileg der Jugend. Zeit spielt für euch noch keine Rolle. Doch glaube mir, dieses Privileg ist schnell verbraucht, denn die Lebensjahre sind wie das Wasser – sie fließen dahin. Alte Menschen wie ich vermissen dann die Zeit, die sie früher vergeudet haben.“

Das war vor drei Jahren; Amelie war elf. Während sie sich daran erinnert, schaut sie auf den Fluss und denkt auch an das letzte Jahr zurück. Wie oft hat sie einfach nur dagesessen und in den Tag hineingeträumt. Doch für sie war das keine vergeudete Zeit, denn sie hat in die Zukunft geschaut, ihre Träume in Ruhe fliegen lassen und den Tag genossen. Das erzählt sie dem Urgroßvater und fragt: „Habe ich damit Zeit vergeudet?“

„Nein“, antwortet der alte Mann. „Es ist keine vergeudete Zeit, wenn du bei dir selbst bist. Vergeudete Zeit ist, wenn Menschen Dinge tun oder Beziehungen eingehen, die sie gar nicht wollen.“ Viele Menschen, so sagt er, tun ein Leben lang nur, was andere ihnen vorschreiben oder aufdrängen. Doch …

Und dann sagt er wieder einen seiner geheimnisvollen Sätze: „Alle Flüsse münden irgendwann ins Meer. Das ist ein guter Ausgangspunkt für die Geschichte, die ich dir jetzt erzählen will. Ich möchte dich heute in das Geheimnis des Lebensmeers, der Lebensschiffe und ihrer Kapitäne einweihen.

Mach es dir also bequem, schließ die Augen und lass dir von mir diese Geschichte schenken, die mein Vermächtnis an dich sein wird.“

Amelie schließt die Augen, kuschelt sich in die Arme ihres Urgroßvaters, saugt dessen Duft in sich auf und hört aufmerksam auf die warme, tiefe Stimme, die jetzt zu erzählen beginnt.

*

„Stell dir vor, das Leben wäre ein Meer, auf dem wir Menschen unsere Lebenszeit verbringen. Damit wir uns auf dem Lebensmeer bewegen können, konstruiert jeder Mensch sein Lebensschiff.

Dessen Rumpf wird bestimmt durch unser Können, unser Wissen und unsere Erfahrungen. Angetrieben wird das Schiff durch unsere Werte und Visionen. Jedes Schiff ist mit einem Anker und einem Steuerrad ausgestattet. Wohin es steuert, hängt von den Glaubenssätzen seines Kapitäns und der Beschaffenheit seiner Seekarte ab.

Sicher kannst du dir vorstellen, dass jedes Lebensschiff so einzigartig ist wie sein Kapitän. Die Seekarte eines Menschen wird zunächst von dessen Eltern oder nahen Bezugspersonen beschrieben. Denn in den ersten Jahren reisen die Kinder auf dem Lebensschiff der Erwachsenen mit. Die Eltern geben ihrem Kind ein Duplikat ihrer Seekarte – das ist ihre Mitgift an das Kind. Später beschreiben auch Freunde, Verwandte, Lehrer und noch viele andere Menschen diese Karte.

Doch mit diesen sicher gut gemeinten Geschenken entstehen auch große Probleme. Viele Menschen geben sich zufrieden mit dem, was sie bekommen haben: Sie erweitern im Laufe ihres Lebens die eigene Karte nur noch geringfügig. Später, wenn sie erwachsen werden, bauen sie ihr eigenes Schiff nach der Vorlage ihrer Eltern. So, wie sie es aus ihrer Kindheit kennen. Und dann wundern sie sich, dass sie in Stürmen oder Flauten ähnliche Probleme bekommen, wie ihre Eltern sie schon kannten. In den Strudeln, Flauten oder Stürmen des Lebensmeers kann es ganz schön gefährlich werden, wenn man nicht versteht, wie man den Kurs seines Lebensschiffes korrigiert. Jeder Seebär weiß, wie er mit Antrieb und Richtung des Schiffes so flexibel umgeht, dass sich der Kahn Wind und Wellen anpasst. Die Kapitäne der Lebensschiffe könnten das auch, wenn sie den Mut hätten, die Sicherheitsleinen und den Anker zu lösen, damit sie das Ruder herumreißen können.

Die Lebensschiffe der Menschen sind einzigartig, genauso wie ihre Kapitäne. Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Schauen wir uns das einmal genauer an.

Da gibt es die Nussschalen. Du musst dir vorstellen, dass darin ein Mensch sitzt, der sich krampfhaft am Bootsrand festhält. Er hat kein Steuerrad und auch keinen Anker. Meist war es ein Schicksalsschlag, der das Leben dieser Menschen durcheinandergewirbelt hat. Eine schlimme Erfahrung eben. Nun treiben sie ziellos auf dem Lebensmeer umher. Sie haben keine Visionen und glauben nicht daran, dass sie ihr Leben ändern und selbst gestalten können. Sie haben keine Ahnung, wie sie wieder die Verantwortung für ihr Leben übernehmen könnten, und sehen sich als Opfer der Umstände. Und zu einer bestimmten Zeit waren sie das vielleicht auch – doch sie verharren in dieser Rolle.

Der zweite Typ ist das Fährschiff. Wer ein solches steuert, dessen Lebensweg ist exakt geplant. Jeder Tag verläuft nach einem Plan und genauen Regeln. Die Kapitäne wissen, wann sie wo zu sein haben und was sie wann zu tun haben.

Nur manchmal nehmen sie sich frei, um sich von der Routine auszuruhen. Sie haben ihr Leben geordnet. Die meisten von ihnen haben Familie, ein Hobby, Freunde. Ihr Fährschiff gibt ihnen Sicherheit und eine klare Struktur. Überraschungen erleben sie selten. Hier und da gibt es mal eine Havarie oder Untiefen. Zum Glück haben diese Kapitäne eine fertige Seekarte, einen Kompass und viele Erfahrungen. Meist kennen sie jede Fahrrinne auf ihrer vorgegebenen Strecke. Dadurch fällt es ihnen leicht, auftretende Schwierigkeiten und Umwege gut zu meistern. Am Ende eines Tages, wissen sie genau, was sie geschafft haben – auch wenn sie manchmal selbst geschafft sind. Das Tun gibt ihren Leben den Sinn. Manchmal sind sie gelangweilt von der Routine. Sicherheit und Beständigkeit sind der Antrieb für das Lebensschiff dieser Menschen. Das ist ihnen wichtiger als das Abenteuer.

Die Kapitäne von Abenteuersegelbooten fahren überall auf den Weltmeeren – wohin sie gerade wollen. Sie segeln einfach los und staunen, wie bunt die Welt ist. Auf ihren Reisen erleben sie die erstaunlichsten Dinge. Doch manchmal haben sie das traurige Gefühl, niemals irgendwo anzukommen. Sie entdecken ständig neue Horizonte, sie erleben Unwetter und Flauten. Aber da sie einfach lossegeln, haben sie kein Ziel und können daher auch keines erreichen. Genau genommen wollen sie das auch gar nicht. Denn sie befürchten, dass sie in tausenden Regeln festgekettet wären, wenn sie sich festlegten. Sie lieben das Abenteuer und die damit verbundene Freiheit. Das ist der Antrieb für ihr Lebensschiff. Alles andere würde ihr Leben total langweilig machen, befürchten sie.

Und dann ist da noch die High-Speed-Yacht. Sie ist hochmodern eingerichtet, futuristisch wie ein Raumschiff. Das Ziel wird mit dem Navigationssystem eingestellt. Die Kapitäne checken am Laptop ihre Termine und E-Mails ab, während sie am Handy telefonieren und gleichzeitig fast nebenbei ihr Lebensschiff steuern. Natürlich sind sie für andere immer erreichbar. Essen nehmen sie nebenbei zu sich und Schlaf finden sie erst spät in der Nacht. Meist ist dieser Schlaf wenig erholsam, sodass sie am frühen Morgen total übermüdet aufwachen.

Ihre Yacht rast in einem so hohen Tempo über das Wasser, dass die Kapitäne die Schönheit des Meeres gar nicht wahrnehmen können. Manchmal, wenn sie zur Ruhe kommen, spüren einige von ihnen einen leichten Druck in der Herzgegend. Doch der ist in der Kurzlebigkeit des Tages ganz schnell wieder vergessen.

Es gibt Momente, in denen sie sich fragen, wer eigentlich ihre Yacht steuert. All die Termine, der Druck, die Hetzerei machen ihnen oft keinen Spaß. Trotzdem verändern sie nichts. Der Antrieb für ihr Lebensschiff ist der Erfolg und die damit verbundene Anerkennung. Als Preis dafür haben sie enormen Stress.“

*

Der Urgroßvater legt eine Pause ein, betrachtet Amelie nachdenklich und fragt: „Für welchen Schiffstyp würdest du dich entscheiden?“

„Ich würde gerne von jedem etwas haben“, antwortet das Mädchen lächelnd und schaut ihrem Urgroßvater ins Gesicht. „Man kann doch ein Lebensschiff haben, welches Elemente aus allen Schiffstypen kombiniert, oder?“

„Was genau hast du denn verstanden?“

„Während du gesprochen hast“, sagt Amelie, „habe ich mir für jeden Kapitän einen witzigen Namen ausgedacht. So können wir sie leichter unterscheiden: Routinicus, Kapitän des Fährschiffes, hat mich gelehrt, dass ein klares Ziel und ein entsprechender Fahrplan Sicherheit und Orientierung geben. Sicherheit und feste Regeln sind der Antrieb für sein Fähr-Lebensschiff.