Details

Ich sah etwas, was du nicht siehst


Ich sah etwas, was du nicht siehst

Erinnerungen aus Ostdeutschland
1. Auflage

von: Jutta Schlott

8,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 12.10.2014
ISBN/EAN: 9783956550904
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 414

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Wissen Sie eigentlich noch oder überhaupt, was ein Subbotnik war oder ein ABV? Für alle diejenigen, die das nicht mehr wissen oder die es nicht wissen konnten, hat die Autorin ihrer spannenden Porträt-Sammlung ein kleines ostdeutsches Glossar angefügt. So heißt es in dem der Geschichte „Blick von der Seite“ zugeordneten Begriff Subbotnik: „abgeleitet vom russischen Wort „Subota“ = Sonnabend; unbezahlte, freiwillige Arbeitseinsätze von Arbeitskollektiven, Hausgemeinschaften etc., die meist am Sonnabendvormittag durchgeführt wurden, um gesellschaftliche und soziale Einrichtungen zu renovieren, zu säubern usw.“
Und für die Geschichte „Ich sträube mich nicht“ lässt die Autorin zu Hermann Axen wissen: „zu der hier behandelten Zeit Mitglied des Politbüros beim ZK der SED; verantwortlich für Agitation und Propaganda; später auch für außenpolitische Fragen.“
Sehr aufschlussreich sind auch die Erläuterungen zu ihrer Arbeitsweise:
Die Antriebe waren konträr. Sie schwankten zwischen zielloser Neugier und dokumentarischer Pflicht, die sich seit 1989 radikal verändernden Lebensumstände Ostdeutschlands in Biografien als Zeitdokumente zu bewahren.
Mitte der 90er Jahre machte ich mir eine Liste mit Namen von Personen, von denen ich manche gut, andere kaum oder gar nicht kannte. Ich bat Vertraute, mir GesprächspartnerInnen zu vermitteln.
Ein Prinzip für die Auswahl legte ich mir nicht zurecht, außer, dass ich die farbenreiche Vielgestalt menschlicher Existenz - auch in der scheinbar grauen Republik - dokumentieren wollte.
Zu den Gesprächen ging ich mit einem winzigen Diktiergerät, mit einigen, aufs Individuelle zielenden Fragen; außerdem hatte ich mir „verbale Haken“ ausgedacht, um die Befragten „aufzuschließen “. Wenn irgend möglich, fanden die Gespräche im Lebensumfeld meiner Partnerinnen statt. Jede Begegnung erwies sich als emotionales Abenteuer - für beide Seiten. Meine anfängliche Liste variierte ständig; nach den ersten öffentlichen Lesungen aus den Texten kamen „Freiwillige“ und boten sich zum Gespräch an.
Das Ausgangs-Material für jede Erinnerung bestand in den mehreren Stunden mündlichen Gesprächs auf Mikro-Kassetten. Ich hörte die Bänder fünf-, sechsmal an, manche öfter; dann schrieb ich sie - nur die eigenen Fragen auslassend - vollständig ab. In der nächsten Arbeitsstufe ließ ich Wiederholungen weg, kürzte für die Struktur der Erinnerung Unwesentliches. Später versuchte ich, den Text zu „komponieren“, ihm innere Spannung zu geben, eine gewisse Dramaturgie.
DER BLICK VON DER SEITE
SECHZEHN TST KEIN ALTER, WO MAN SCHON EIN HELD SEIN KANN
DIE ZEIT DER GROSSEN UNSICHERHEIT
FEDERISCHASCHAT - ICH HAB LUST AUF WEIBER!
DA LIEGT VIEL BAMBUS ZWISCHEN
EINE LIEBE NACH TURGENJEWSCHEM MAßSTAB
DAS GING MIR DENN AM ARSCH VORBEI
HANSEATEN
MILLIONÄR DURCH EINEN KORB KIRSCHEN
HOTEL ZUR SONNE
ICH STRÄUBE MICH NICHT!
ICH HAB DIE GANZEN SCHUHE FÜR DEN TELL GEPUTZT
DIE SCHRANKEN VON OBERWEIMAR
DON QUICHOTTE WOLLTE ICH NICHT SEIN!
SO'N DRANG NACH DRAUSSEN
ICH HAB AUS JEDER ZEIT WAS MITGENOMMEN
Jutta Schlott wurde 1944 in Kolberg - heute Polen – geboren und wuchs an unterschiedlichen Orten in Mecklenburg auf.
Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Pädagogischen Hochschule in Güstrow und arbeitet einige Jahre als Lehrerin und später als Dramaturgin am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, als freie Mitarbeiterin beim Rundfunk und bei verschiedenen Zeitungen.
Seit 1979 ist sie freiberufliche Autorin.
Vom 1993 – 2003 lebte und arbeitete Jutta Schlott in Cottbus, einige Jahre auch als Pressereferentin und im PR-Bereich am Staatstheater Cottbus.
Seit 2003 ist sie wieder in Schwerin zu Hause.
Jutta Schlott ist seit 2001 Leiterin des bundesweiten Arbeitskreises LITERATUR UM WELT.
Sie schreibt Erzählungen, Biographien, Kinderbücher, Hörspiele, Reportagen und Gedichte.
Bibliografie
Der Sonderfall, Kinderbuchverlag Berlin, 1981
Früh und spät, Kinderbuchverlag Berlin, 1982
Das liebliche Fest, Verlag Neues Leben Berlin,1984
Roman und Juliane, Kinderbuchverlag Berlin, 1985
Klare Verhältnisse, Verlag Neues Leben Berlin, 1989
Farbenspiele – Das Leben des Malers Heinrich Vogeler, Kinderbuchverlag Berlin,1989
Kalter Mai, Alibaba Verlag ,1990; 1995 TB Fischer Verlag
Roman und Juliane / Golondrina, Alibaba Verlag Frankfurt/Main
Ich sah etwas, was du nicht siehst –Erinnerungen aus Ostdeutschland, Wiesenburg Verlag 2000
Das Liebespaar vom Körnerplatz, Wiesenburg Verlag 2006
Spaniens Himmel - Auf den Spuren Picassos, Wiesenburg Verlag 2009

Hörspiele
Vielleicht, vielleicht auch nicht, 1980
Wechselschicht, 1981
Der andere Name, 1982
Schöner Abend, 1982
Winterschlaf, 1983
Mit Kind angenehm, 1984
Uschidelniza, 1985
Mamatschi, 1986
Die Spur, 1988
Ein Kindlein im Haus, 1989
Eine West-Kontroll-Kommission schnüffelte durch unser Heim. Die Männer marschierten durch die Räume, sahen unser Funk-Studio und sagten: Heimfunk in Ihrer Einrichtung? Sie haben wohl Agitation und Propaganda betrieben?
Ich darauf: Aber volle Kanne! Bloß nicht so schlecht wie das „Neue Deutschland“. Bisschen geschickter haben wir's angestellt!
Wenig später wurden alle Heimleiter der Stadt zusammengetrommelt: Gespräch beim Personalchef. Dieser Mann hat uns abgekanzelt wie die dummen Gören. Er hat uns beleidigt und beschimpft. Es war menschenunwürdig.
Ich konnte mein Maul nicht halten, ich bin ihn angegangen: Woher nehmen Sie sich das Recht, uns zu beurteilen! Sie kennen unsere Arbeit nicht, von keinem von uns seine menschlichen und fachlichen Qualitäten!
Während ich sprach, ging seine Hand zu den Personalakten, eine legte er obenauf. Auf dem Kopf stand mein Name zu lesen. Hab ich gleich weitergemacht: Dass dieses Gespräch mein Aus bedeute, dass ich nicht übernommen werde, sei mir klar.
Als ich ins Heim zurückkam, lag eine Nachricht da: Ich möchte in der zuständigen Abteilung anrufen. Die Kollegin, die ich seit Jahren kannte, druckste hin und her. Christa, sag ich, red nicht um den heißen Brei: Ich weiß, ich werde gekündigt.
Paar Tage später war es so weit. Ein Kündigungsgrund lautete, dass ich meine Mitarbeiter „in ihrer politischen Meinungsfreiheit unterdrückt“ hätte. Es ging um Berichte. Berichte, die ich nie geschrieben hatte. Als Heimleiter in der DDR sollte man monatlich Berichte über die „politisch-ideologische Situation“ in den Einrichtungen verfassen. Ich hab mich bei der Vorgesetzten Referentin geweigert: Wenn ihr was wissen wollt - kommt her und fragt die Leute selber. Ich schreibe so was nicht! Sie drohte mit Dienstanweisung. Bitte, hab ich entgegnet, könnt ihr machen. Ich schreib den Mist trotzdem nicht. Basta!
Solche Rechte hab ich mir rausgenommen. Ging auch - man musste nur stur bleiben. In der Arbeit konnten sie mir sowieso nicht am Zeug flicken.
Bei der Kündigung hab ich verlangt, mir wenigstens einen einzigen der nicht geschriebenen Berichte vorzulegen. Ich nehme die Kündigung nicht an, hab ich noch gesagt - und: Wenn nicht alles so traurig wäre, würde ich jetzt schallend lachen.
Die Referentin, die diese Berichte von mir gefordert hatte, blieb übrigens auch unter der West-Herrschaft auf ihrem Sessel sitzen.
Nach dem Entlassungs-Gespräch hatte ich einen Blackout, einen fürchterlichen, totalen Blackout. Ein Zustand - wie Trance.
Ich hab mir 'ne halbe Flasche Whiskey eingeholfen. Danach fehlt mir ‘n Stück vom Film. Plötzlich merk ich - ich sitz im Zug nach Rostock. Was ich da wollte, weiß ich bis heute nicht. Im Nachbarabteil unterhielten sich Jugendliche lautstark über irgendwas. In dem Moment bin ich zu mir gekommen. Ich raus aus dem Zug und zurück. Auf einmal war ich ganz klar im Kopp. Hellwach und glockenklar. Ich hab mir gesagt: Ihr könnt mich alle kreuzweise. Jetzt erst recht!
Jetzt erst recht- war schon immer meine Devise. Ende der siebziger Jahre, nach meiner pädagogischen Ausbildung, hab ich zeitweise im Rat des Bezirkes gearbeitet, zeitweise in einem „Durchgangsheim“. Dort wurden Kinder und Jugendliche vorübergehend untergebracht, die man aufgegriffen hatte. Sie waren aus Heimen ausgebüxt oder von zu Hause abgehauen.
Die Unterbringung im Durchgangsheim war eine Zwangsmaßnahme unter geschlossenen Bedingungen. Einmal im D-Heim - du warst gebrandmarkt dein Leben lang! Und das meist wegen einer blöden Dummheit. Oder wegen der Umstände, in denen Jugendliche leben mussten. Ganze D-Heim-Dynastien gab es, die kannte man schon in der zweiten, dritten Generation.
Drei Mitarbeiter und ich hatten uns in den Kopf gesetzt: Wir müssen das Geschlossene durchbrechen. Wenn die Jugendlichen in Heime kommen, ist auch kein Gitter davor, kein nix. Was unter Druck geschieht, beweist gar nichts. Nur was man freiwillig tut, zählt. Wir haben den Insassen Freiheiten gegeben. Vor allem haben wir viel gemeinsam unternommen.
Bei Erfolg kriegten wir Prämien und Belobigungen, ging was schief, hagelte es Verweise. Abmahnungen, heißt das heute. Mich hat das eine wie das andere einen Scheißdreck interessiert - die Jugendlichen waren mir wichtig.

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