Über Martin Andersen Nexö

Martin Andersen Nexö wurde am 26. Juni 1869 in Kopenhagen geboren. 1877 Übersiedelung der Familie Andersen nach Neksø auf die Insel Bornholm, Arbeit als Hütejunge und Dienstmann. Nach Beendigung einer Schuhmacherlehre Besuch der traditionsreichen Volkshochschule in Askov, danach Lehrer in Odense auf der Insel Fünen, literarisch-journalistische Betätigung. 1894-1896 Reise nach Italien und Spanien, um eine Tuberkulose auszuheilen. Seit 1910 längere Reisen nach Deutschland, wo er von 1923 bis 1929 seinen festen Wohnsitz hat. 1925 heiratet er in dritter Ehe Johanna May aus Karlsruhe. Andersen Nexö unterstützt alle wichtigen internationalen Aktionen gegen Faschismus und Krieg und nimmt an den Schriftstellerkongressen zur Verteidigung der Kultur in Paris und Madrid teil. Während der deutschen Besetzung Dänemarks 1941 verhaftet, 1943 Flucht nach Schweden, 1944 Exil in Moskau, 1945 Rückkehr nach Dänemark. 1951 Übersiedelung in die DDR, wo er in Dresden-Weißer Hirsch eine Ehrenwohnung bezieht. Hier stirbt Andersen Nexö am 1. Juni 1954. Die Beisetzung erfolgt in Kopenhagen, wo auch sein literarischer Nachlaß betreut wird.

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Der angehende Dichter ist 25 Jahre alt, als er nach Italien und Spanien aufbricht, um in dem milden Mittelmeerklima eine Lungentuberkulose auszuheilen. Er besucht die berühmten Städte, erlebt die so oft beschworene Landschaft und beobachtet das Treiben der Bauern, Händler und Bettler. Sein Auge ist empfänglich für alle Farbnuancen des Südens, und sein Ohr erfreut sich an dem geräuschvollen Leben ringsum.

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Martin Andersen Nexö

Sonnentage

Reisebilder aus dem Süden

Aus dem Dänischen von Karl Schodder und Emilie Stein

Inhaltsübersicht

Über Martin Andersen Nexö

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Reisebilder aus Italien und Spanien

Über den Brenner

Wasser

Hotel Sole

Das Tal von Pompeji

Das Wunder des Tals I

Das Wunder des Tals II

Neapel

Palermo I

Palermo II

Girgenti

Rosina

La Campagna

Die Räuber

Übers Mittelmeer

Alltagsleben in Spanien I

Alltagsleben in Spanien II

Alltagsleben in Spanien III

Alltagsleben in Spanien IV

Sonnentage Reisebilder aus Andalusien

Unterwegs

Die weiße Stadt

Sevilla

Córdoba

Gibraltar

Jenseits der Straße

Sonne

Unter den Häuslern der Berge

Morgenwanderung

San Antonio

Die Zigeuner

Stierkampf

In der Postkutsche durch die Berge

Anmerkungen

Impressum

»Reisebilder aus Italien und Spanien« wurden von Karl Schodder und

»Sonnentage« von Emilie Stein übersetzt

Auswahl Erika Kosmalla

Reisebilder aus Italien und Spanien

Rom, den 14. Dezember 1894

Über den Brenner

Des Himmels reinstes Blau bildet den Hintergrund des vorübergleitenden Märchenlandes: Burgruinen, Klöster und Wasserfälle, Kruzifixe und Mönche, niedrige Kuppelkirchen und schlanke spitze, die nach oben weisen. Rot geht die Sonne unter und steckt alles in Brand, aber im Talgrund, wo Innsbruck sich gelagert hat, herrscht Dämmerung, als wir dort ankommen. Doch schon hat die Sonne dem nächsten Berg den Abschiedskuß gegeben, und der Kuß wandert weiter, die Gipfel entzünden sich einer nach dem andern wie Flammenzeichen, höher und höher hinauf, und erlöschen erst tief im Innern. – Wir übernachten in Innsbruck, um am Tage nichts zu versäumen.

Ich stehe zeitig auf und werfe einen letzten Blick auf das Hotel, von dessen Fenster aus der Bauernsohn und Gastwirt Andreas Hofer, der Wilhelm Tell der Tiroler und ihr Garibaldi, seine Landsleute anfeuerte, Widerstand zu leisten und für die Freiheit zu kämpfen, die sie liebten. Und die Brücke, an der 1809 die Tiroler Bauern erbittert gegen Österreicher und Franzosen fochten, passiere ich auch. Bald bleibt Innsbruck zurück, und nun beginnt der eigentliche Brenner.

Südeuropa ist von Mitteleuropa durch eine gewaltige Bergkette getrennt, die sich vom Atlantischen Ozean im Westen bis nach Asien im Osten erstreckt. Unter unvorstellbaren Beschwerden sind im Altertum die Römerzüge nach Norden, die Züge der Barbaren nach Süden über diese Felsenmauer geführt worden, den Alpensteigen entlang und durch Bergpässe, aber dazu gehörten ein Cäsar oder ein Attila an ihre Spitze. Jetzt schrillt mehrmals am Tag die Lokomotivpfeife zwischen den Bergen, indes der moderne Barbar (denn die Römer unternehmen keine Züge mehr) sich aufs Plüschpolster streckt oder am Fenster des Waggons steht und mit einem Taschenkamm seinen Schnurrbart glättet.

Von den vier Bahnlinien, die man in unseren Tagen mit genialer Berechnung und unter unermeßlichen Kosten über diese Alpenmauer gelegt hat (Mont Cenis, Sankt Gotthardt, Brenner und Semmering), ist die Brennerbahn bis zum heutigen Tag die am wenigsten befahrene und am wenigsten beschriebene, aber kaum die am wenigsten großartige. Mit einer Kühnheit, die den Bewohner der Ebene sprachlos macht, windet sie sich durch die Tiroler Landschaft. Bald hängt sie an der Flanke eines steilen Felsens, bald überquert sie den Abgrund auf einer Brücke, bald wühlt sie in einem Tunnel in den Eingeweiden des Berges. Schlag auf Schlag löst das eine das andere ab. In weniger als fünf Stunden passiert man sechzig größere Brücken und etwa dreißig Tunnel, von denen der kleinste ein paar Hundert, der größte dreitausend Fuß lang ist.

Hier verschwindet ein fruchtbar-üppiges Tal, dort taucht ein anderes auf. Ich zähle und rechne aus: etwa fünfzig Höfe liegen in dem Tal und fünf Kirchen, das ist also eine Kirche auf je … Da wird es wie durch den Schlag eines Zauberfächers stockdunkel. Ich habe gerade noch Zeit, mich zu wundern – da, ein neuer Schlag, und es ist wieder hell. Der Tunnel hat uns um eine scharfe Ecke geholfen, das Tal ist fort, an seiner Stelle ein tiefer Abgrund. Um den müssen wir herum, auf der anderen Seite sieht man die Telegraphenstangen der Bahn. Oben am Berghang ist ein grauer Streifen, das ist jene alte Landstraße, auf der zu Christi Zeiten die Landsknechte Kaiser Augustus’ ihren Einzug hielten in das unterworfene Tirol. – Wir winden uns um den Abgrund herum, und hinter uns kommt ein schwarzes Loch zum Vorschein, aus dem dicke Rauchwolken hervorquellen wie aus einem Drachenschlund. Das ist der Tunnel, und der Rauch ist von unserer Lokomotive.

Beständig geht es aufwärts, langsam, langsam, mit Zeit genug, sich umzusehen. An vielen kleinen Stationen wird gehalten, und vom frühen Morgen an war ein stetes Ein- und Aussteigen von allerlei grimmigen Bayern mit buntgesprenkelten Federn am Hut und stattlichen Tiroler Bauern in hausgewebtem Loden. Alte, hinfällige Gestalten an Krücken und mit Nasen, die in allen Farben der Weintraube spielten, krochen herein und wurden auf der nächsten Station wieder hinausgehoben.

»Wir müssen in der Nähe von Weinbergen sein.«

»Ja«, sagt ein Tiroler, »aber der gute Wein wächst jenseits des Berges.«

Der Schaffner ruft »Brenner«, und wir sind auf dem höchsten Punkt der Bahnstrecke mit einer hinreißenden Aussicht hinab über das Tal und über die Stubaier Alpen zum zehntausend Fuß hohen Feuerstein-Gletscher. Station Brenner selbst liegt viertausendfünfhundert Fuß über dem Meeresspiegel und ist die höchste Alpenstation, denn im Gegensatz zur Mont-Cenis-, zur Sankt-Gotthard- und zur Semmering-Bahn, die den Gebirgszug in meilenlangen Tunneln unterfahren, führt die Brennerbahn frei über ihn hin und benutzt Tunnel nur, um kleinere Berge zu durchbrechen oder eine gleichmäßigere Steigung zu erzielen.

Und nun geht es bergab! Die Tiroler sind lauter Freundlichkeit und machen Platz für die Aussicht nach beiden Seiten. Mir gegenüber sitzt ein hochgewachsener Bauer. Er ähnelt in vielem, nur nicht in der Tracht einem Geestbauern von daheim und möchte gern wissen, »wo der Herr herkommt«. Ich sage, daß ich aus Dänemark bin, und sogleich fragt mich ein spitziger Handelsreisender neben mir, wie es denn König Oskar gehe. Mit Würde kläre ich ihn auf, daß der dänische König nur Christian heißen kann oder zur Abwechslung höchstens einmal Friedrich, aber niemals Oskar. Der Bauer macht sich langsam daran, das schlimme Loch in den welthistorischen Kenntnissen des Agenten zu stopfen, indem er erzählt, daß »Kopenhagen« die Hauptstadt von Dänemark ist, Oskar aber in Stockholm regiert. – »Ah, Kopenhagen! Tivoli, Tivoli!« ruft der Handelsagent und trifft damit den Stolz der Kopenhagener und den Ruhm Dänemarks mitten ins Herz. Handelsreisende und rote Nasen sind die beiden Dinge, die auf der ganzen Welt eins sind.

Aber ich halte mich an meinen Bauern. Er freut sich zu hören, daß ich von Andreas Hofer etwas weiß, und versichert mir, daß Hofers Bild in der Stube jedes guten Tirolers hänge. Er ist unermüdlich im Erzählen und Zeigen, während wir weiterfahren: auf diesem Berg hat Andreas Hofer mit fünfhundert Bauern gegen die Österreicher gekämpft! Dort das Dorf hat er den Feinden abgenommen, die es besetzt hielten, und in diesem Tal war er eingeschlossen, entwich aber mit seinen Begleitern über die Berge – und er zeigt auf einen steilen Kalkfelsen, der nicht einmal einer Gemse Halt zu bieten scheint.

Eine Zeitlang verfällt der Bauer in mißmutiges Schweigen, sicherlich denkt er an das Los, das der Held und Liebling der Tiroler zu erleiden hatte. Durch Verrat nämlich wurde Hofer von den Franzosen gefangengenommen und einen Monat später in Mantua als gemeiner Aufrührer erschossen. Das geschah im Jahre 1810.

In einem Augenblick werden wir in Schelleberg sein, und der Bauer schlägt mir vor, dort auszusteigen: Er will mich über einen Alpensteig führen, so daß wir die nächste Station früher als der Zug erreichen. Gern bin ich einverstanden; in Schelleberg steigen wir aus, die Türen werden hinter uns zugeschlagen, der Zug rollt weiter. Und nun geht es kreuz und quer den gefrorenen Berghang hinab; wenn ich zu stark in Fahrt gerate, bleibt der Bauer stehen und fängt mich auf. An den schlimmsten Stellen reicht er mir die Hand, aber ich will es allein schaffen! Der Steig nimmt die merkwürdigsten Wege, verläuft quer über einen verkrüppelten Kohlgarten, auf der Mauerkante einer Mistgrube, dann durch einen Bauernhof und weiter unten in das Pfarrhaus und über den Kirchhof. Der Bauer passiert ihn entblößten Hauptes, und ich folge seinem Beispiel. Weiter geht es, und nach einer Viertelstunde Gleiten und Laufen erreichen wir erhitzt und außer Atem die Station.

Nun erst ist Zeit, zurückzublicken! Dort oben, hoch über unseren Köpfen, liegt der Bahnhof Schelleberg, glitzernd in Reif und Sonnenschein. Von dort hat die Bahn einen großen Bogen nach Westen machen müssen. Mein Führer deutet auf ein Loch im Berg weit drüben im Westen, und genau darunter, doch sehr viel tiefer, auf noch eins. Just in diesem Moment kommt ein dunkles Etwas daraus hervor und schlängelt sich an der Erde hin wie ein Hund, der seinen Herrn sucht. Dann richtet es sich auf und stürzt in gerader Linie auf uns herab. Krummbeinig stäubt es heran in seinem Eifer, rasch da zu sein. Endlich rollt es vor unseren Füßen an den erhöhten Bahnsteig, und die Lokomotive sieht ganz vergnügt drein, uns wiederzuerkennen. Sie hat in dem Berg einen Kreisbogen von einer halben Viertelmeile schlagen müssen, um zu uns herabzukommen.

Wieder rollen wir. Noch zwei Tage Fahrt, und ich werde in Rom sein, der »Hauptstadt der alten Christenheit« – und des alten Heidentums im übrigen auch.

»Bornholms Tidende«, 20. Dezember 1894

Rom, den 20. Dezember 1894

Wasser

Piazza del Popolo

Wenn du um Mitternacht von der Skandinavischen Vereinigung über die Spanische Treppe heimgehst ins Fremdenviertel um die Via Sistina herum, hörst du es bei jedem Schritt rinnen und rieseln unter deinen Füßen. Treppauf und straßab hörst du es beständig aus Röhren in den Mauern und aus Grotten; durch die Eisengitter der Torwege plätschert es dir aus den Höfen entgegen, hier und dort rauscht es von den Plätzen. Vielleicht kommt ein Mandolinenspieler und übertönt es für eine Weile mit seinem Singen und Klimpern; er verschwindet in eine Seitengasse, und das einförmige Murmeln ist wieder da. Das ist das Wasser Roms, das beste und reichlichste aller Hauptstädte der Welt. Vierzehn Leitungen führten im Altertum das Wasser über die mehrere Meilen breite Campagna aus den Bergen nach Rom. Streckenweise wurde die Leitung auf Pfeilern hoch durch die Luft geführt, an anderen Stellen strömte das Wasser unterirdisch. Nur drei dieser Leitungen sind noch brauchbar, und doch hat Rom Wasser im Überfluß. In einem weitverzweigten Netz breitet es sich aus unter deinen Füßen, steigt in die Häuser hinauf und plätschert in zahlreichen Fontänen: zu Christi Zeiten besaß Rom über zwanzigtausend Springbrunnen. Damals stand die Stadt in vollem Glanze, sie zählte zwei Millionen Einwohner. Im sechsten Jahrhundert war die Zahl der Springbrunnen auf dreizehntausend herabgesunken. Rom selbst schrumpfte im Laufe der Zeit zu einer Stadt von der Größe Odenses ein; jetzt ist Rom ungefähr so groß wie Kopenhagen.

Fünfzehn bis dreißig Fuß Erde bedecken nun das Rom des Altertums und seine alten Fontänen, aber die Jahrhunderte haben an ihrer Stelle neue sich erheben sehen, und unter ihnen viele prächtige! Bald ist es ein Halbgott, der den Strahl mit vollen Backen durch eine riesengroße Muschel hoch in die Luft pustet, bald ist es der Gott des Meeres selbst, Okeanos, der sein nasses Gespann über vom Wasser wild überschäumte Felsblöcke lenkt, oder ein schlafender Faun, an dessen Fuß das Wasser langsam hervorquillt. Und was würde wohl ein gesetzter Mann aus dem Norden sagen zu der Art, wie die Römer mit diesen Herrlichkeiten umgehen?

Wer das von Verboten umgebene Storchennest auf dem Höjbroplatz zu Kopenhagen auch nur nennen gehört hat, wird die Ängstlichkeit verstehen, mit der ich mich nach anderthalb Tagen ununterbrochener Fahrt während eines halbstündigen Morgenaufenthalts in einem Springbrunnen wusch! Aber ich hätte mich getrost vor dem ganzen Senat darin baden können, und keine Menschenseele hätte sich gemuckst. Seitdem habe ich mich noch oft gewundert, wenn ich sah, daß Straßenfeger ihre Besen in den Becken wuschen, Droschkenkutscher ihren Hut unter dem Strahl füllten, um ihre Mähren daraus zu tränken, und kleine Jungen hinaufkletterten, den Gott um den Hals faßten und tranken. Aber das sind nur Kleinigkeiten.

Ich könnte den Leser mitnehmen, um ihm meine Behauptung zu beweisen, und wir könnten von Brunnen zu Brunnen gehen und würden vielleicht gar nichts sehen! Denn was man sucht, findet man nie, in Rom ebensowenig wie anderswo. Aber ich ziehe es vor, auf gut Glück und allein zu gehen; das tue ich immer und tat ich auch neulich.

Der Weg führte am Rande des Monte Pincio hin. Zur Rechten hatte ich den prachtvollen Park gleichen Namens, vor mir nicht weit weg die Berge und zur Linken direkt unter der Mauerkante zu meinen Füßen die Stadt. Der Park liegt hier etwas höher als die Dächer der höchsten Häuser; nur die Kirchen ragen über sie hinaus, und über sie alle die Peterskirche. In Wagen rollen die reichen Römerinnen vorbei, Engländer und Deutsche spazieren zu Fuß hinaus, und drinnen im Schatten der Mauern sitzen die Bettler auf dem kalten Marmor. Es ist mir ein Rätsel, weshalb sie im Schatten frieren, statt hinüberzugehen auf die andere Seite in die Sonne. Vielleicht wollen sie damit größeres Mitleid erregen, aber das Mitleid wird rasch zur Gleichgültigkeit, wenn man zwei Dutzend Bettlern am Tage begegnet.

Übrigens hat jeder Bettler sein bestimmtes Revier. Den alten Blinden dort habe ich schon oft auf demselben Platz gesehen. Heute steht eine ältliche Frau – vielleicht seine Ehehälfte – mit einer Schüssel Suppe bei ihm, und er löffelt eifrig. Als er meine Schritte hört, läßt er den Löffel in die Suppe fallen und murmelt: »Ich bin blind, Herr, einen Soldo für einen Blinden, Herr!« Als er nichts bekommt, schimpft er mit der Frau: sie hätte die Schüssel verstecken müssen, derweil ich an ihnen vorbeiging.

Dort unten liegt die Piazza del Popolo, der Volksplatz. Es ist ein großer runder Markt mit einem ägyptischen Obelisken in der Mitte und um den Obelisken vier Löwen, die in Schalen Wasser speien. Auf zwei Seiten des Platzes münden Straßen ein, an den anderen beiden sind große Fontänen mit halbrunden Becken vor den Mauern angebracht. Ich steige einige Stufen hinunter und lege mich auf die Brüstung über der einen Fontäne.

Die Sonne steht ziemlich niedrig, obgleich es früh am Nachmittag ist, aber sie scheint sehr warm, und diese ganze Seite des Popolo liegt in Licht gebadet. Alles lebende Inventar des Platzes ist auf diese Seite gewandert und streckt sich schlafend in der Sonnenwärme. Aber sie schlafen nicht alle. Eine Frau hat am Springbrunnen Waschtag gehalten und ist nun dabei, das Zeug zum Trocknen aufzuhängen. Zuerst muß der Laternenpfahl herhalten, aber der ist bald bekleidet; ein Rock und ein paar blaugewürfelte Schürzen, mehr trägt er nicht. Deshalb untersucht sie das Pflaster des Platzes, und es muß ihr wohl besonders rein vorkommen, denn Stück für Stück breitet sie die übrige Wäsche darauf aus. Dann setzt sie sich mit einem Strickzeug neben den Omnibuskutscher, der Brot, Wein und Speck vor sich hingestellt hat und Mahlzeit hält. Und die Sonne brät dem Kutscher seinen Speck, trocknet der Waschfrau das Zeug und erwärmt den Marmor unter den Schläfern.

Aus dem Dunkel einer Seitengasse taucht eine Gestalt auf und steuert quer über den Platz auf uns zu. Der Mann setzt sich zu den andern und sieht an sich herunter. Dann zieht er aus einem Loch im Rock ein zerknittertes Papier, und als er es langsam auseinanderwickelt, kommen einige schwarze Lappen und ein Knäuel Garn hervor. Sorgfältig wird das ganze Zubehör auf den Marmorfliesen ausgebreitet, und nun zieht der Mann seine Beinkleider herunter und beginnt sie zu flicken: die Rockschöße hat er unter das nackte Gesäß gesteckt. Ein Messer wird auf den Steinen abgezogen und dient als Schere; den Faden beißt er mit der gleichen Geschicklichkeit ab wie die Näherin daheim. Mit dem Messerheft glättet er die Naht und zieht seine einzigen Unaussprechlichen wieder an. – Ob sie sitzen? Er mustert sie von allen Seiten, entdeckt an der Hüfte einen Riß und fängt an, sich wieder auszuziehen, besinnt sich aber und probiert, ob nicht der Rockschoß den Riß verdecke. Jawohl, es geht! Und der Mann klopft sich ab und geht mit einer Würde davon, als wolle er zur Audienz beim Papst.

Der Omnibuskutscher hat währenddessen seine Mahlzeit beendet und ist fortgegangen. Ein einsamer Eselskarren rollt über den Platz, zwei Gendarmen gehen vorüber, sehen sich nach rechts und nach links um und verschwinden durch das Popolo-Tor; Droschke um Droschke fährt vorbei unter lauten Rufen der Kutscher. Am Brunnen aber ist alles Sonne und Schlaf. In einen der Vagabunden kommt etwas Leben; er hebt den Kopf von dem Stein, der ihm als Kissen gedient hat, und sieht sich schlaftrunken um. Er steht ganz auf, schüttelt sich und legt Rock und Weste ab, als ob ihm zu warm wäre. Und nun zieht er auch das Hemd aus! Mit raschem Schwung schleudert er es über seinen Kopf ins Bassin und zieht Weste und Rock wieder an. Das dunkle Hemd zeichnet sich scharf ab gegen den weißen Boden des Beckens, aber der Springbrunnen stürzt Wasser tonnenweise über das Hemd so unbekümmert, als sei er niemals zu etwas anderem als zum Hemdenwaschen geschaffen worden.

Vom Monte Pincio oben höre ich vereinzelte Klänge. Dort fahren nun die vornehmen Römerinnen – die Königin nicht zu vergessen! – hin und her und lassen sich zu den Tönen der Musik betrachten. Sie selber machen sich aus der Musik kaum mehr als ein Nilpferd aus Narzissen, aber sie wissen, daß ihr schwarzes Haar und ihre funkelnden Augen zur Musik gut aussehen. Hier unten, am Fuße des Berges, am unteren Ende des Daseins, sitzt der Abfall Roms und flickt notdürftig die Löcher, die die unbarmherzige Zeit gerissen hat.

Ich gehe ein Weilchen durch das Tor vor die Stadt. Als ich zurückkomme, liegt der Vagabund auf dem Rücken ausgestreckt und schnarcht. Neben ihm und ungefähr in der gleichen Stellung liegt sein frischgewaschenes Hemd.

»Bornholms Tidende«, 28. Dezember 1894

Neapel, den 24. Januar 1895

Hotel Sole

Seit Homer seine berühmte Reiseschilderung »Odyssee« schrieb, worin die Helden alle drei Seiten zweimal Mahlzeit halten, ist es guter Brauch, auf das Zeitliche schickliches Gewicht zu legen. Das ist so alt, daß es – wie sich ein Professor über die Universität ausdrückte – seine Berechtigung erwiesen hat. Deshalb wird es mir niemand verargen, daß ich heute mit dem »Hotel Sole« anfange.

Das »Hotel Sole« liegt unmittelbar an der Landstraße, so daß man es nie verfehlen kann. Außerdem wissen alle Hunde in Pompeji, alle Bettler und Musikanten im ganzen Sarno-Tal, wo es ist. Wenn die Turmuhr auf »Unserer Lieben Frau zum heiligen Rosenkranz« zwölf schlägt, zieht ein Troß von Mandolinen, Violinen und Sängern auf, humpeln einbeinige Bettler auf Krücken heran (das Holzbein ist in Italien noch nicht erfunden), schleichen mit hängendem Schwanz Hunde herbei; die ganze Gesellschaft läßt sich im Hof nieder und wartet auf den feierlichen Augenblick, da Marie »pronto« ruft, »es ist gedeckt«! Die Hunde scheinen das beste Zeitgefühl zu haben, sie sind immer pünktlich. Wenn dann die Tür des gewölbten großen Speisesaals geöffnet wird, schlüpfen trotz der wütenden Gesichter Maries die Hunde als erste hinein; nach ihnen kommen die Gäste und als letzte die Spielleute. Die Bettler müssen draußen bleiben; sie pressen die Gesichter an die Scheiben und drücken durch Zeichen ihren Hunger aus, während wir essen. Die Tischgesellschaft ist um einen hufeisenförmigen großen Eßtisch so gruppiert, daß der dicke Franzose vor der Rundung thront, dann an der einen Längsseite der russische Baron und zwei radfahrende Individuen aus New York sitzen und auf der andern ein alter norwegischer Kaufmann und ein junges Ehepaar aus Boston.

Einige kauen eifrig, andere prosten oder schwatzen quer über den Tisch hinweg. An der Tür unten steht der alte Spielmann und singt »Magari«; seine drei Söhne begleiten ihn auf der Mandoline, während der Franzose auf einem Brottablett trommelt und der Baron mit den Lippen den Baß markiert. Mehr und mehr singen den Refrain mit, und schließlich singt die ganze Gesellschaft. Der alte Sänger kommt in Stimmung; er spürt, daß er die Seele vom Ganzen ist. Seine Stimme wird lauter, seine Augen funkeln. Endlich wirft er den Kopf in den Nacken und schlägt einen durchdringenden langen Triller, hält den bebenden hohen Ton, als ob er nie aufhören wollte. Dann kann er nicht mehr, und der Triller vergeht in einem heiseren Laut. »Bravo, bravo, da capo, bravissimo!« wird ihm von allen Seiten zugerufen, und Händeklatschen dazwischen und Trampeln. Die Hunde flitzen herum und bellen, und für einen Augenblick ist der Raum ein einziger kompakter Lärm.

Über Braten und Zeitungen hat sich die Gesellschaft wieder beruhigt, aber unter dem Tisch ist Leben und Bewegung. Sieben, acht Hunde huschen dort herum; die Schnauze tief am Boden, suchen sie Eßbares. Ab und zu fährt der eine oder andere blitzschnell hervor, schnappt einen Knochen oder ein Stück Brot und stürzt damit fort, ehe die andern herangekommen sind. Von dreien dieser Hunde möchte ich ausführlicher erzählen, weil sie Originale der Hundewelt sind und tatsächlich, jeder auf seine Weise, viel für die Zukunft versprechen.

Die Ratte ist der unbedeutendste von den dreien, fällt einem aber sogleich durch sein eigentümliches Äußere auf. Wie der Name andeutet, gleicht er einer Ratte aufs Haar; anfangs soll er auch zur Ratte bestimmt gewesen sein, wurde aber zu groß und kam als kleiner Hund auf die Welt. Wenn er Fleisch dafür bekommt, geht er auf den Hinterbeinen. Der zweite in dieser Brüderschaft ist Pompeji, ein stiller und braver Hund und überdies ein gelehrter Hund. Wenn er satt ist, geht er mit halbgeschlossenen Augen umher und denkt nach. Er kennt alle alten Ruinen hier in der Gegend und hat eine Zeitlang stark daran gedacht, ein illustriertes Werk über die antiken Mause- und Rattenlöcher des alten Pompeji zu schreiben, aber ein deutscher Professor hat ihm die Idee gestohlen. Pompeji hat einen guten Freund, der Mimi heißt, und Mimi ist der bedeutendste von den dreien. Er ist einmal Landstreicher gewesen, dann aber Fremdenführer geworden. Er ist ein glücklicher Bursche, da er weder Eltern noch einen eigenen Hausstand hat und nur für sich zu sorgen braucht. Und das schafft er bequem. Stets sorgenlos und fröhlich, lebt er völlig dem Augenblick und versteht die große Kunst, sich mit zweimal Schwanzwedeln Freunde fürs Leben zu erwerben. Wenn ein Gast ins Hotel kommt, ist Mimi der erste, ihn zu begrüßen, schwänzelt vor ihm und macht sich ihm angenehm auf alle mögliche Weise. Und wenn der Gast seinen Spaziergang macht, folgt ihm Mimi den ersten halben Tag auf den Fersen. Der Gast ist gerührt, schwört, daß Mimi der klügste Hund sei, den er je erlebt, und teilt sein Abendbrot mit ihm. Er ist gewonnen, und künftig wird ihm Mimi – wie durch einen Zufall – nur noch bei Tisch begegnen. Mimi ist überall zur Stelle, wo etwas geschieht; er nimmt an allen Schlägereien teil und kommt regelmäßig gut davon. Aber er ist nicht immer rücksichtsvoll gegenüber seinen Freunden, läßt sie oft im Stich und tut allerhand auf ihre Kosten. Eines Tages steckte der dicke Franzose Pompeji unter dem Tisch ein Stück Fleisch zu, aber Pompeji hatte schon etwas bekommen und war höflich genug, es Mimi zu überlassen. Mimi sprang zu und hieb seine Zähne ins Fleisch, aber bei seiner gewöhnlichen Großzügigkeit nahm er sich nicht in acht und biß den Franzosen in die Finger. Sobald Mimi merkte, daß da etwas nicht stimmte, schlich er still mit dem Fleisch davon, und als der wütende Franzose seinen Stock griff, mußte Pompeji für die Prügel herhalten.

Aber ich vergesse, vom Tisch aufzustehen. Die anderen haben das schon getan und sind jetzt draußen auf dem Hof zu einem kleinen Auflauf versammelt. Am Gitter drüben sind zwei gesattelte Gäule festgebunden, die nach des Tages Mühen die Köpfe hängenlassen. Sie haben einen Studenten aus Wien und seinen Führer auf den Gipfel des Vesuvs und wieder zurück getragen, haben also allen Grund, müde zu sein. Doch das ist nichts Ungewöhnliches. Warum haben sich die Leute da versammelt? Nun, der Wiener hatte den Führer entlohnen wollen und dazu sein Geld hervorgezogen, aber sie waren nicht einig geworden, weil der Führer mehr forderte als die vereinbarten sieben Frank für die Führung hinauf zum Gipfel und wieder herunter, alles andere inbegriffen. Durch allerlei Tricks war es dem Führer geglückt, dem Österreicher statt der sieben Frank zehn Frank abzuknöpfen, aber dann stellte sich der Österreicher auf die Hinterbeine und machte nicht mehr mit. Der Führer hatte jedoch Blut geleckt, und da er kein anderes Mittel sah, seine Begehrlichkeit zu befriedigen, griff er in den Geldbeutel des anderen und nahm noch zwei Frank heraus. So stehen die Dinge jetzt. Die Augen des Führers glühen von dem Anblick des vielen Geldes, der Wiener möchte weinen vor Wut und Hilflosigkeit. Aber er hat sich falsch benommen und muß seine Dummheit büßen. Indem er großzügig mehr bezahlte, als er brauchte, zeigte er seine Einfalt und weckte die Geldgier des andern. Denn einigermaßen kennen die Italiener ihre Leute, und die Erinnerung an die ausländischen Millionäre, die vor knapp einem Jahrhundert hier unten nach allen Seiten Geld ausstreuten, ist noch nicht erloschen. Den Kindern wird es von ihren Eltern als ein Märchen erzählt, und heimlich hoffen sie darauf, daß diese schöne Zeit wiederkehre.

Der Wiener hätte die sieben Frank ohne alle Umstände seinem Führer geben sollen, und wenn er dann noch einen halben als Trinkgeld dazugelegt hätte, wäre der Mann zufrieden davongezogen und er selber hätte sich seinen Zorn erspart. Aber seine Wut war entschuldbar, und um so mehr, als er bereits einmal versucht hatte, den Gipfel des Vesuvs zu erreichen, und dafür dreißig Frank bezahlt hatte. Das war mit der Eisenbahn gewesen, die von Neapel nach dem anderthalb Meilen entfernten Krater des Vesuvs führt. Das war mißglückt, und zwar weil er Damenbegleitung gehabt, die die Reise nicht vertragen hatte.

Es ist inzwischen später Nachmittag geworden, und ich mache einen Spaziergang die Landstraße hinunter, um frische Luft zu schnappen. Zu beiden Seiten sind Berge, über Capri draußen steht niedrig die Sonne. Ich höre singen, und eine Gestalt kommt mir entgegen. In der Hand trägt der Mann einen dicken Stock, auf dem Rücken einen leichten Ranzen. Er ist voller Staub, sieht aber über die Maßen fröhlich drein, als er mich begrüßt. Wir kommen ins Gespräch, wir gehen miteinander zurück, und dabei erfahre ich, daß er ein deutscher Handwerksgesell und aus Norddeutschland zu Fuß hierhergewandert ist. Die letzte Nacht hatte er in Neapel verbracht, beim Morgengrauen seinen Ranzen gepackt, sein Mittagbrot in die Tasche gesteckt und den Vesuv bestiegen. Und nun ist er hier. Der Ausflug hat ihn fünf Öre gekostet, die er eben einem Bettler geschenkt hatte. Ich frage ihn, ob er sich nach solchem Ausflug nicht nach einem Bett sehne. Nein, das tut er nicht. Er muß weiter, da er heute abend noch in Salerno sein will. Und singend zieht er davon. Er ist ein letzter Hauch einer entschwundenen Zeit, der Zeit, da Christen Kold mit seinem Handwagen über die Alpen zog und der bornholmische Schmied Samuelsen zu Fuß vier Weltteile durchwanderte. Weit liegt sie nicht zurück, aber zwischen ihr und uns liegt die Eisenbahn.

»Bornholms Tidende«, 30. Januar 1895

Pompeji, den 31. Januar 1895

Das Tal von Pompeji

Das Tal von Pompeji ist sehr schön: im Osten und Süden lange Bergketten, im Norden mit seinem ewigen Rauch und seinem zarten Farbreichtum in der Asche, in der Lava und seiner Vegetation ganz für sich der majestätische Vesuv und im Westen, eine halbe Stunde entfernt, der blaue Golf, das Mittelmeer. Vormals erstreckte es sich tief in die Berge, und da war das Tal von Pompeji eine schmale Förde zwischen steilen Felswänden. Als das alte Pompeji seinerzeit florierte, war es eine Seestadt; heute liegen seine Ruinen mehr als eine Viertelmeile im Land. Das Meer hat sich zurückgezogen und einen fruchtbaren Talboden hinterlassen, der von der einst so todbringenden Asche und der Lava des Vesuvs noch fruchtbarer wurde.

In den Abruzzen liegt Schnee, hier im Tal aber ist Sommer; vor meinem Fenster stehen gelbe Narzissen und knospende Rosen. Und es wimmelt von Leben: halbnackte Kinder auf der Landstraße, Eidechsen in den sonnenbeschienenen Mauerresten, die hier und da aus der Erde hervorragen und bezeugen, daß dort seit zweitausend Jahren ein Haus begraben liegt. Aber die Eidechsen lassen sich davon nicht stören; sie huschen auf der Jagd nach Insekten die Mauer hinauf und hinunter und verschwinden bei der geringsten Störung in Spalten. Dann sitzen sie in allen Ritzen und sehen einen an; reizend sind sie, bis zu einer halben Elle lang und mit Rückenschuppen in allen metallischen Farben. Aber zu fangen sind sie nicht.

Über den Pfad balancieren in der heißen Mittagssonne eine Reihe Frauen auf dem Kopf große Eimer. Sie bringen die überschüssige Ziegenmilch in die Käsefabrik. Und tief im Gesträuch, wo der Boden von grünen Lupinen bedeckt ist, weiden viele Schafe, jedes mit einer Glocke am Hals. Die Glocke läutet bei jeder geringsten Bewegung, und die Zusammenstellung der verschiedenen Tonhöhen der Glocken bringt einen einschläfernden Wohlklang hervor.

Und von Pflanzen der verschiedensten Arten und Formen wimmelt es; die Zypressen und Pinien stehen grün und gewaltig und machen die Landschaft feierlich. Der Eukalyptus, grün mit gelber Rinde, ist mit seinen wehenden Zweigen und hängenden Blättern wie ein Springbrunnen. Hier und da schießt ein Oleander empor und wird zu einem recht ansehnlichen Baum; Thymian und mannshohe Agaven wachsen auf den Wällen.

Aber nicht vieles wächst hier wild. Jedes Fleckchen Erde ist in Besitz genommen, das ganze Tal ist ein einziger Garten mit einer Hütte neben der anderen. Der Pflug wird nicht benutzt, der Boden wird mit Hacke und Spaten bearbeitet und jedesmal nur ein kleines Stück, wie das der vielseitige Anbau verlangt. Düngung ist selten, Brache wird überhaupt nicht angewandt, aber dennoch gibt der Boden reichlich Frucht und meist sogar vielfache Frucht. Auf den Äckern wachsen nämlich große Oliven-, Feigen- und Apfelsinenbäume; im Schatten unter ihnen reifen Kohl, Bohnen oder Getreide, und in die Äste der Obstbäume schlingen sich die Ranken des Weins und breiten sich wie ein Netz über den Baum. Dadurch spendet er den Früchten des Baums willkommenen Schatten; die eigenen Früchte brauchen und vertragen viel Sonne.

Auch eine große Menge Arzneipflanzen werden angebaut, am gewöhnlichsten ist der Rizinus. Er ist ein kleiner roter Baum mit glänzender glatter Rinde und kleinen Stachelfrüchten; klaubt man eine dieser Früchte auseinander, so findet man drei Kerne darin, die wie Käfer aussehen. Der Kern schmeckt harmlos, ein wenig süßlich, und erinnert keineswegs an den widerlichen Extrakt, den man herauspreßt, um die Kinder und anständige Leute damit zu quälen. Die Baumwollpflanze tritt als bescheidener kleiner Zwergstrauch auf, an dem einige graue Kapseln hängen. Eines Tages platzen die Kapseln an vier Kerben, und nach allen Seiten strotzt die weiße Baumwolle, die dazu diente, den Kern vor plötzlich wechselnder Temperatur zu schützen.

Zum Entgelt für diese Fruchtbarkeit verlangt der Boden harte Arbeit und die Feldfrucht sorgfältige Pflege das ganze Jahr. Wenn das eine gesät wird, ist ein anderes zu ernten und ein drittes im Begriff zu reifen. Mais und Getreide sind nun schon lange geerntet, später waren die einen und anderen Baumfrüchte an der Reihe und vor einigen Tagen Baumwolle und Rizinus, das »amerikanische Öl«. Die Apfelsinen- und Zitronenbäume aber neigen sich noch unter ihren gelben Früchten.

Um diese Jahreszeit, da der Himmel das Land berieselt und Regen mit Sonnenschein abwechselt, geht es gut. Schlimmer ist es im Sommer, wenn die starke Sonne, die monatelang ohne eine Wolke auf- und untergeht, die Pflanzen zu verbrennen droht und den porösen Boden ausdörrt. Aber Bewässerung ist eine alte Kunst in Italien; die Italiener haben sie von den Orientvölkern gelernt.

Wo der Sarno aus den Bergen ins Tal tritt, hat man seinen Lauf gestaut und in vier Arme gespalten, die nun das Tal in verschiedener Richtung durchströmen. Die Betten dieser Flußarme sind hoch gelegt und eingedeicht, so daß der Wasserspiegel höher liegt als das umgebende Land. Gemauerte Hauptleitungen führen von dem Fluß seitwärts ab, und von diesem wiederum Stichleitungen kreuz und quer über die Felder, so daß jemand sein Land oder einen Teil davon berieseln kann, ohne seinen Nachbarn zu schaden. An einigen Stellen liegt der Talboden höher als der Fluß; dann wird von diesem eine Leitung zu einer Zisterne geführt, aus der das Wasser mit Pferde- oder Menschenkraft herausgehoben wird. Der Bau dieses Bewässerungssystems muß ungeheure Arbeit gekostet haben, seine Instandhaltung ist dem Bauern eine ebenso notwendige wie drückende Last. Zu gleicher Zeit ermöglicht und hemmt es seine Existenz.

Die Bewohner des Tals sind gekennzeichnet von Not und Armut; sie sind schlecht gekleidet und unreinlich. Ihre Hütten sind jämmerlich, in der Regel ohne Fenster, häufig besitzen sie nur einen Raum. In einer solchen Hütte, in die ich auf einem meiner Ausflüge eingetreten, war in der einen Ecke das Pferd eingestallt, in der anderen der Koben für ein großes Schwein abgeteilt, und in der dritten Ecke stand das Familienbett. Fleiß ist wahrscheinlich die einzige gute Eigenschaft dieser Menschen, aber sie haben nichts davon. Sie arbeiten schwer, erhalten aber nur wenig für ihre kostbaren Produkte, und dieses wenige wird ihnen weiter gekürzt durch die Monopole, durch die hohen indirekten Steuern und eine drückende dreijährige Militärdienstpflicht. Diese Plackerei, die zu nichts führt, ist in hohem Grade verderblich; es ist ein Wunder, daß die Menschen hier überhaupt noch arbeiten. Zuverlässig sind sie nicht – wenn andere ihnen wegnehmen, warum nicht selber anderen wegnehmen? Kartenspiel und Trinken sind zwei Hauptübel.

Vor einigen Jahren war es noch schlimmer. Da blühte das Räuberhandwerk neben der Landwirtschaft; Verbrechen waren allgemein, und viele wanderten ins Zuchthaus, während ihre Kinder sich hilf- und schutzlos herumtrieben. Das Tal besaß wohl eine Kapelle, aber sie war verfallen, und der Bauer hatte kein Bedürfnis danach. Wenn er an ihr vorbeikam, drehte er den Kopf nach der anderen Seite, statt ihn zu entblößen. Das Kartenspiel war sein einziges Gebetbuch.

Mitten im Tal hat sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre eine prächtige Kirche etabliert, die von einer hübschen kleinen Stadt von mehreren hundert Einwohnern umgeben ist. Die Stadt hat elektrisches Licht, das von der Kirche geliefert wird; die Kirche besitzt eine große moderne Druckerei, eine Orgel, deren Bälge elektrisch angetrieben werden, ein Waisenhaus, ein Mädchenasyl, mehrere gute Schulen und ein Observatorium, das sich mit dem Vesuv beschäftigt. Fünfzehn Jungen, Söhne von Zuchthausgefangenen, werden hier erzogen und arbeiten hier; das Asyl beherbergt zur Zeit hundertfünfzig elternlose Mädchen. Die Jungen arbeiten in der Druckerei, und hier werden alle die Bücher, Zeitschriften und Jahresberichte gedruckt, die in jedem Jahr zu Hunderttausenden an die Angehörigen der Heiligen Kongregation in der ganzen Welt versandt werden. Diese Kirche heißt »Unsere Liebe Frau zum heiligen Rosenkranz« und ist drauf und dran, ein Zentrum der katholischen Weltgemeinde zu werden. Scharen von Pilgern kommen hierher, um Maria in »ihrer eigenen Kirche« anzubeten; früh am Morgen höre ich sie unter Gesang an meinen Fenstern vorbeiziehen. Nahe bei der Kirche werfen sie sich auf die Knie, und so auf den Knien rutschen sie singend langsam voran, in die Kirche und bis ganz an den Hochaltar. Sie sind gekommen, das Wunder des Tals anzubeten, und es ist beinahe ein Wunder, was hier im Laufe von zwanzig Jahren durch Arbeit im Namen der Menschlichkeit entstanden ist. Die Anlage hat Unsummen gekostet, allein die Kirche eine halbe Million, obgleich sie noch nicht vollendet ist. Die Unterhaltung des Kinderheims, der Druckerei und der Schulen erfordert jedes Jahr Tausende und aber Tausende. Und der Mann, der das alles errichtet hat und ihm noch vorsteht, besitzt nichts. Allerdings, etwas doch: einen starken Glauben, und der hat das Wunder bewirkt.

Dieser Mann heißt Bartolo Longo und ist Advokat. Ein Priester erzählte mir neulich die Lebensgeschichte dieses frommen und von der Jungfrau Maria besonders begünstigten Mannes, und ich erzähle sie weiter, weil sie bemerkenswert ist.

»Bornholms Tidende«, 7. Februar 1895

Palermo, den 6. Februar 1895

Das Wunder des Tals I

Aus dem Tal von Pompeji

Das Tal besaß, wie gesagt, nur eine verfallene Kapelle, die wenige kannten, als im Jahre 1875 die Vorsehung den Advokaten Bartolo Longo dahin entsandte. Warum die Mutter Gottes statt eines von der Kirche Geweihten einen sündigen Menschen erkor, ihr Haus in dem Tal zu errichten, gehört zum unerforschlichen Walten der Vorsehung, aber wir dürfen annehmen, daß sie damit allen Elenden die Allmacht Gottes demonstrieren wollte.

Bartolo Longo kam und sah die geistige Not, und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen; er empfand, daß er nunmehr ein Advokat der Mutter Gottes sein müsse. Und eines Tages sahen die spielenden Kinder einen hageren Mann mit langem Bart vor der Kapelle sitzen, einen Korb getrockneter Feigen neben sich. Neugierig näherten sie sich ihm, und er verteilte die Feigen unter sie. Den nächsten Tag kamen sie mit anderen Kindern wieder, um zu sehen, ob er noch dort sitze. Das tat er, aber diesmal hatte er außer den Feigen Rosenkränze mitgebracht. In großer Zutraulichkeit schlossen sich die Kinder ihm an, und er lehrte sie, zur Mutter Gottes zu beten, und schenkte allen einen Rosenkranz zum Gebrauch während des Gebets. Auf diese Weise hielten durch die Kinder der Rosenkranz und das Gebet von neuem Einzug in die Hütten.

Eines Tages hängte Longo ein altes Bild in der Kapelle auf. Es stellte die Mutter Gottes und ihr zu Füßen die heilige Katharina dar, und die Bauern strömten herbei, es sich anzusehen. Longo schlug den Versammelten vor, der Jungfrau Maria eine bescheidene kleine Kirche zu errichten; er begann, Geld dafür zu sammeln, und kaufte ein kleines Stück Land, worauf sie gebaut werden sollte. Aber es wurde nicht viel daraus.

Dann erkrankte Bartolo Longo an Typhus.

In dem Tal war eine neue Bruderschaft gegründet worden, die Marienkongregation, und die brauchte eine neue Marienandacht. Aber wo hernehmen? Wer war fromm genug, sie zu verfassen? Davon hörte Bartolo Longo auf seinem Krankenlager, und der Fieberwahn wurde zu religiöser Ekstase. Sogleich stand er auf von seinem Bett und machte sich daran, die »Neun-Tage-Andacht« zu schreiben. Er arbeitete einen Monat daran, während das Fieber seinen Leib verzehrte, und jeden Tag schleppte er sich in die Marienkapelle, verbesserte, was er geschrieben hatte, vor dem Bild Marias und las es mit lauter Stimme. Draußen standen die Leute und verwunderten sich über den hageren Menschen, der las, daß ihm die Tränen aufs Papier rannen und es ganz feucht davon wurde.

Die Bruderschaft erhielt ihre Marienandacht und konnte sie an demselben Tag zum erstenmal verwenden, da verlautete, daß Bartolo Longo an eben seinem Typhus auf den Tod liege. Seine Freunde versammelten sich um ihn, und alle sahen, daß dies das Ende war. Gegen Abend sagte Bartolo: »Freunde, wenn noch etwas zu tun ist, muß Maria das tun. Holt ihr Bild aus der Kapelle.« – Das Bild wurde gebracht, und viele, die zur Stelle waren, flüsterten untereinander: »Wenn sie ihn jetzt heilt, ist das ein großes Wunder; dann werden wir uns zu ihr bekennen aus allen Kräften.«

Aber der Kranke wandte sich an das Bild und sagte: »Heilige Mutter Gottes Maria! Hier liege ich armer Sünder auf den Tod, und du siehst zu. Tu Fürbitte für mich, laß mich leben! Wenn du mich jetzt sterben läßt, wie sollen dann die elenden Geschöpfe in diesem Tal dir und deiner Macht vertrauen? Wenn gerade der Mensch stirbt, der sie gelehrt hat, fleißig zu dir zu beten und du würdest ihnen helfen?«

Um Mitternacht stand Bartolo Longo völlig gesund auf; das Fieber und die Schmerzen waren fort. Aber hiernach wuchs die Zahl der Mitglieder der Marienkongregation in die Tausende; das Gerücht von dem Wunder verbreitete sich über viele Länder, und von überallher kamen Beiträge zur Errichtung der kleinen Kirche. Advokat Longo sah den guten Anfang und begriff ihn! Sogleich verwarf er den ursprünglichen bescheidenen Plan, holte die besten Architekten Italiens herbei und ließ sie die jetzige prächtige Basilika entwerfen. Aus den Pyrenäen wurde Marmor verschrieben, tüchtige Handwerker und Künstler traten herzu, und die Arbeit begann.

Aber das Geld! Es fehlte gewiß noch viel, doch Bartolo Longo wußte, daß aus einer kleinen Bewegung durch regelmäßige geringe Anstöße eine große Bewegung werden kann. Er veranlaßte den Papst, der Marienkirche im Tal von Pompeji große Privilegien zuzugestehen, und so erteilte Seine Heiligkeit Leo XIII. unter anderm die Erlaubnis, in der Kirche einen Altar von so sinnreicher Konstruktion aufzustellen, daß er jedesmal eine gequälte Seele aus dem Fegefeuer entließ, wenn vor ihm die heilige Messe gelesen wurde, was allerdings nur einmal im Jahr geschehen durfte. Bartolo Longo gab in mehreren Sprachen gedruckte Berichte über seine Arbeit und seine Heilung durch die Jungfrau Maria heraus. Diese Berichte wurden in vielen Exemplaren gratis in die Welt gesandt, und in jedem war hinten ein Zettel eingeheftet; der konnte herausgeschnitten werden, und auf ihm konnte sich der Empfänger zu einem freiwilligen Beitrag zum Bau der neuen Kirche verpflichten. Dafür würde ihn die Bruderschaft in ihre Gebete aufnehmen und Maria ihm ihren besonderen Schutz angedeihen lassen.

Wünschte jemand in die Kongregation aufgenommen zu werden, so war das gratis, sofern er sich nicht entschloß, freiwillig einen Beitrag zum Bau der Kirche zu spenden. Im übrigen brauchte er sich nur beim Rektor der Bruderschaft anzumelden und hinterher ihre Regeln einzuhalten, die besagen, daß er dreimal in der Woche je fünf Gebete an die Königin des Rosenkranzes zu richten und als Entgelt dafür jedesmal eine Woche Ablaß entgegenzunehmen habe. Wenn er fleißig ist, kann er auf diese Weise jede Woche zwei Wochen Ablaß erwerben und damit alte Sündenschuld begleichen. Außerdem verdoppelt sich der Ablaß jedesmal, wenn er das Gebet demütigen Sinns verrichtet. Vergißt er einmal die fromme Übung, so ist das keine Sünde, weder eine grobe Sünde noch eine lässige Sünde; er geht bloß des mit dem Gebet verbundenen Ablasses verlustig.

Für Mitglieder, die einen jährlichen Beitrag von mindestens drei Frank leisten, werden in der Marienkirche von Pompeji jährlich sieben heilige Messen gelesen.

Wenn ein Bruder die »Neun-Tage-Andacht« aus ganzem Herzen verrichtet, erhält er dreihundert Tage Ablaß; pilgert er zu der Kirche im Tal von Pompeji und verrichtet sie dort, erhält er vollkommenen Ablaß für alles, was er gesündigt hat. Verrichtet er aber diese fromme Übung an einem Festtag der Kirche, dann erwirbt er außerdem sieben Jahre Ablaß für künftige Sünden und siebenmal vierzig Jahre, die er dazu benutzen kann, den Aufenthalt eines lieben Onkels oder einer lieben Tante im Fegefeuer zu verkürzen.

Ist er in Not und möchte, daß in Pompeji für ihn gebetet wird, so braucht er bloß einen Zettel mit seinem Namen an Bartolo Longo zu schicken, und es geschieht. Es ist nicht festgesetzt, was für diese Wohltat zu entrichten ist; man spendet nach Vermögen und wie das Herz es befiehlt einen Beitrag für die Kerzenrechnung.

Stirbt ein Bruder, gleichgültig, wo auf der Welt, wird vor dem Gnadenaltar in Pompeji eine Messe für ihn gelesen, sobald sein Tod Bartolo Longo gemeldet ist.

Aber jeder Bruder ist streng verpflichtet, mit allen seinen Kräften und aller seiner Liebe die Kenntnis von der Mutter Gottes und ihrer Gemeinde in Pompeji zu verbreiten. Tut er das nicht, wird sie sich traurig von ihm abwenden. Tut er das und verschafft er ihrer Zeitschrift »Der Rosenkranz und das neue Pompeji« einen Abonnenten mehr, dann erhält er zur Belohnung den Titel »Förderer der Kirche«. Wer aber einen Beitrag von zwölf Frank jährlich bezahlt, erhält den Titel »Hervorragender Wohltäter«, und zur ewigen Erinnerung wird sein Name in eine Metallplatte graviert und in die Mauern der Kirche eingelassen.