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Hendrik Püstow / Thomas Schachner

Jack the Ripper

Anatomie einer Legende

Hendrik Püstow / Thomas Schachner

Jack the Ripper

Anatomie einer Legende

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Dieses Buch folgt der reformierten Rechtschreibung und Zeichensetzung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Aktualisierte und erweiterte Neuauflage: © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2017

Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.militzke.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

London, 1888

Die Mordserie

Martha Tabram

Mary Ann Nichols

Annie Chapman

Elizabeth Stride

Catherine Eddowes

Das East End im Ausnahmezustand

Mary Jane Kelly

Das Ende des Schreckens

Epilog

Die Verdächtigen

Joseph Barnett

Edward Buchan

William Henry Bury

David Cohen / Nathan Kaminski

Dr. Thomas Neill Cream

Charles Cross / Charles Lechmere

Thomas Haynes Cutbush

Frederick Bailey Deeming

Montague John Druitt

Carl Feigenbaum / Anton Zahn

George Hutchinson

Severin Antonovich Klosowski / George Chapman

Aaron Kosminski

Die Königliche Verschwörung – Sir William Gull

James Maybrick

Michael Ostrog

Walter Sickert

Robert Donston Stephenson

Alois Szemeredy

Francis Tumblety

Anmerkungen

Personenregister

Literaturverzeichnis

Bildverzeichnis

Die Autoren

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Prolog

»FURCHTBARER MORD IN WHITECHAPEL. FRAU ERSTOCHEN. KEINE SPUR VOM TÄTER.« titelte der East London Advertiser am 11. August 1888.

Martha Tabram, eine rundliche 40-jährige Frau, war wenige Tage zuvor im Treppenhaus eines Gebäudes im George Yard in einer großen Blutlache liegend tot aufgefunden worden. Sie war übersät mit Messereinstichen. Damit begann eine Mordserie, die in London, das als Millionenmetropole eigentlich an Mord und Totschlag gewohnt sein sollte, ihresgleichen suchte. Im ausklingenden Sommer und Herbst 1888 mussten noch weitere Frauen aus dem Armenviertel Whitechapel ihr Leben lassen, getötet offenbar von ein und derselben Hand. 1888/89 rechnete man diesem einen Täter sechs bis elf Morde zu. Nach heutigem Forschungsstand wird diese Zahl aber üblicherweise auf fünf begrenzt, die so genannten »Kanonischen Fünf«. Ein Name ist bis heute untrennbar mit der blutigen Spur, die sich durch das Londoner East End zog, verbunden: »Jack the Ripper« – ein Pseudonym, das der Täter sich in einem Brief an die Nachrichtenagentur »Central News Agency« vermeintlich selbst gegeben hatte.

Alle Opfer des Rippers waren Frauen und mit einer Ausnahme zwischen 40 und 50 Jahre alt, alle waren sehr arm, alle hatten Alkoholprobleme, alle außer einer hatten keinen ständigen Wohnsitz und alle gingen – zumindest gelegentlich – der Prostitution nach. Sie lebten und starben im Armenviertel von London, dem östlich gelegenen Whitechapel, das mit einem Geflecht von düsteren, engen, oftmals unbeleuchteten und mit Unrat übersäten Straßen durchzogen war. Whitechapel war ein Schmelztiegel gescheiterter Existenzen. Die Lebensgeschichten der Opfer zeigen, dass sie alle schon bessere Zeiten erlebt hatten. Keine der Frauen stammte ursprünglich direkt aus Whitechapel, aber sie alle waren nach einer Spirale aus Arbeitslosigkeit, Alkoholsucht und gescheiterten Beziehungen im Londoner East End gestrandet.

Im Jahre 1888 setzte ein Unbekannter ihrem traurigen Dasein ein ebenso jähes wie brutales Ende. Tief in der Nacht lauerte er ihnen in den Straßen des East End auf: Vielleicht gab er sich als potenzieller Freier aus, zumindest wird es ihm gelungen sein, das Vertrauen der Opfer zu gewinnen, denn sie gingen mit ihm stets an weniger belebte Orte. Dort muss er sich in wilder Raserei auf sie gestürzt haben. Er würgte sie und durchtrennte ihnen die Kehlen, einige der Opfer wurden auf das Schlimmste verstümmelt, sogar Organe schnitt der Täter aus den Leichen heraus und nahm diese wohl als Trophäen mit. Das alles geschah direkt unter den Augen der Einwohner Whitechapels und so wunderte sich schon die Kölnische Zeitung: »[Die Menschen] können es nicht verstehen, wie ein solcher Mord möglich ist in einer Nachbarschaft, die zu den dichtest bevölkerten gehört, wo die Arbeit schon vor Tagesanbruch beginnt, wo ein beständiger Zu- und Abzug von Menschen stattfindet und wo der von oben bis unten mit Blut bespritzte Mörder nur durch ein Wunder wachsamen Augen entgehen kann.«1

Der Täter tauchte auf wie ein Phantom, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Mordserie mit einem Doppelmord in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1888, als »Jack the Ripper« innerhalb einer Dreiviertelstunde zweimal zuschlug.

Die Polizei erwies sich in diesen Tagen als hilflos und überfordert. Trotz intensiver Bemühungen gelang es ihr nicht, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Dem nicht genug, trafen in Londoner Polizeistationen und Nachrichtenagenturen Hunderte von Briefen ein, die vorgaben, von »Jack the Ripper« zu sein. In ihnen wurden nicht nur die Opfer verhöhnt, sondern auch die fruchtlose Arbeit der Polizei. Viele der Briefe waren sicherlich makabere Scherze von Trittbrettfahrern, aber es gibt doch einige, bei denen nicht auszuschließen war, dass sie tatsächlich vom Mörder stammten.

Der finale Schlusspunkt der Mordserie wurde am 9. November 1888 gesetzt, als der Ripper Mary Jane Kelly wie ein wildes Tier in ihrer eigenen Wohnung zerfleischte. Die Leiche war so entstellt, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte sie nur noch anhand ihrer Augen und Ohren identifizieren konnte. Danach nahm das Morden in Whitechapel ein plötzliches Ende. Warum die Mordserie so abrupt abbrach, ist bis heute ebenso ungewiss wie die Identität des Täters.

Warum ziehen die Morde von »Jack the Ripper« noch immer so viele Menschen in ihren Bann? »Jack the Ripper« war keinesfalls der erste Serienkiller der Geschichte, aber er war zum Ausklang des 19. Jahrhunderts – einer Zeit, in der die Zeitung als Massenmedium ihren endgültigen Durchbruch gefunden hatte – der erste Serienmörder, der weltweiten »Ruhm« erlangte. Seine Untaten sind selbst heute noch, obwohl sich unsere Augen oftmals fast zwangsläufig durch das Fernsehen an blutige Bilder gewöhnt haben, von entmenschter Grausamkeit. Sie haben sich in das kollektive Gedächtnis Londons, Großbritanniens, ja der ganzen Welt gebrannt: Nahezu jedermann auf dem Globus kennt »Jack the Ripper«, ein Name, der gleichsam kommerziell ausgeschlachtet wie romantisiert wird. Er hat unsere Vorstellungen vom viktorianischen London mit seinen nebelschwangeren Straßen, den über das Kopfsteinpflaster klappernden Kutschen und den in Zylinder und knielangem Mantel gekleideten Gentleman – neben Arthur Conan Doyle’s Romanhelden Sherlock Holmes – wie vielleicht kein Anderer geprägt. Zwei Aspekte fesseln die Menschen seit jeher am Ripper: Seine blutigen Taten, die die Menschen in entsetzter Fassungslosigkeit zurücklassen, und das Mysterium, das ihn umgibt, da seine Identität bis heute unbekannt geblieben ist.

Die offiziellen Untersuchungen der Londoner Polizei endeten 1892, der Fall wurde zu den Akten gelegt. Das war aber keinesfalls das Ende der Bemühungen, die Identität des Mörders zu enthüllen. Seit nunmehr über 120 Jahren haben sich Hobby- wie Profifahnder – so genannte »Ripperologen« – daran gemacht, dem Rätsel des »Whitechapel«-Mörders auf die Spur zu kommen. Dabei sind im Laufe der Zeit die abenteuerlichsten Theorien aufgeworfen worden, die zwar viel zur weiteren Legendenbildung beigetragen haben, bei den sachlichen Bemühungen zur Identifizierung des Täters aber mehr Verwirrung stifteten, als dass sie an der Aufklärung hätten mithelfen können. Die Liste der Verdächtigen ist so mit den Jahren um ein Vielfaches angewachsen und offeriert teilweise ebenso obskure wie unhaltbare Theorien etwa zu Personen wie den »Elefantenmenschen« Joseph Merrick, den zeitgenössischen Darsteller des Theaterstückes »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« Richard Mansfield, den Autor von »Alice im Wunderland« Lewis Carroll oder zu einem weiblichen Täter »Jill the Ripper«.

Ist es denn überhaupt möglich, nach einem Zeitraum von mehr als 120 Jahren, etwas Neues über »Jack the Ripper« herauszufinden?

In der Tat besteht diese Möglichkeit, und gerade in den letzten 25 Jahren haben wir die meisten Informationen über die »Whitechapel«-Morde erhalten. In nahezu steter Regelmäßigkeit tauchen Dokumente auf, die mehr Licht in den Fall bringen. Einer der bekanntesten Funde war der Autopsiebericht des letzten Ripper-Opfers Mary Kelly im Jahre 1987. Das Auffinden solcher Aktenstücke beweist, dass auch nach einem guten Jahrhundert der Fall weiterhin lebendig bleibt und das Interesse an den Ripper-Morden vielleicht heutzutage größer ist, als es jemals seit dem Jahre 1888 war.

Leider ist die Historiographie um »Jack the Ripper« auch eine Geschichte von Fälschungen, Halbwahrheiten und Lügengeschichten.2 Das Anliegen dieses Buches ist es, einen wertfreien und nüchternen Rückblick auf die damaligen Ereignisse zu geben, ohne dass versucht wird, krampfhaft eine Theorie zu einem speziellen Verdächtigen zu untermauern, wie es fast ausnahmslos in der heutigen Literatur zu »Jack the Ripper« zu finden ist. Nach all den Büchern über »Jack the Ripper« mit solch verheißungsvollen Untertiteln wie »des Rätsels Lösung«, »die blutige Wahrheit«, »the simple truth«, »case closed«, »the final solution« oder »the mystery solved« muss doch ernüchternd festgestellt werden, dass kein einziges dieser Bücher tatsächlich die Identität des Rippers zweifelsfrei klären konnte. Letztlich blieb jeder Lösungsansatz Spekulation.

Publikationen, in denen nicht nur einer der Verdächtigen im Fokus des Interesses steht und die dadurch nicht Gefahr laufen, Fakten zu verdrehen, zu verfälschen, wegzulassen oder einseitig darzustellen, können an einer Hand abgezählt werden. Für den deutschsprachigen Büchermarkt gab es bis 2006 überhaupt keine Veröffentlichungen dieser Art, denn in den wenigen aus dem Englischen übersetzten Werken versuchten die Autoren stets, ihren Verdächtigen »durchzuboxen«.

Bisher gab es also weder ein objektives deutschsprachiges Buch über »Jack the Ripper« noch gab es überhaupt eins, das von deutschen Autoren geschrieben wurde,3 sondern lediglich übersetzte Werke. Die Erstausgabe von Hendrik Püstow und Thomas Schachner schloss diese Lücke.

Der Leser erhält eine sehr detaillierte Darstellung über die Londoner Mordserie, nahezu allein rekonstruiert auf der Basis der historischen Polizeidokumente und Zeitungsartikel. Besonders erwähnt sei, dass erstmals in der Ripper-Forschung auch der zeitgenössische deutschsprachige Pressespiegel ausgewertet wurde.

Nach der ausführlichen Vorstellung der Mordopfer und der Schilderung der Mordtaten werden im zweiten Teil des Buches die wichtigsten Tatverdächtigen vorgestellt, ohne sich dabei auf einen einzelnen fokussieren zu wollen. In der Tat ist es nahezu unmöglich, alle jemals mit den Ripper-Morden in Verbindung gebrachten Verdächtigen erschöpfend zu behandeln. Deren Anzahl beläuft sich mittlerweile auf über 150 Personen, sodass eine Vorauswahl getroffen werden musste, die sich mehr oder weniger auf die allgemein anerkannten »heißesten« Kandidaten beschränkt.

Zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung liegt nun eine gründliche Überarbeitung des Buches vor, dabei wurden die neuesten Ergebnisse der Jack-the-Ripper-Forschung eingearbeitet und weitere Tatverdächtige präsentiert.

Das Leserpublikum darf gespannt sein. Schlussendlich wird jeder für sich entscheiden, bei welchem der potenziellen Täter die Verdachtsmomente am schwersten wiegen.

London, 1888

»Die Traurigen, die Kranken und die Hilflosen.«

(Thomas Archer in »The Terrible Sights of London«, 1870.)

Das 19. Jahrhundert kann zweifelsohne als ein englisches bezeichnet werden. Zwar hatte Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts in den Unabhängigkeitskriegen große Teile seiner nordamerikanischen Besitztümer verloren, aber im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte es riesige Gebiete, vor allem in Afrika und Asien, hinzugewinnen. Die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen verbanden sich mit einer vom Puritanismus beeinflussten Überzeugung eines britischen Sendungsbewusstseins, mit dem man Fortschritt und Zivilisation in die Welt »exportieren« wollte: Thomas Carlyle, englischer Historiker und Philosoph, begründete die britische Weltmission und Sir Charles Dilke, Politiker und Schriftsteller, entwarf das Bild eines »Greater Britain« in einer »täglich englischer werdenden Welt«.

Schon Ende des 18. Jahrhunderts begann der wirtschaftliche Aufschwung Großbritanniens. Zwischen 1760 und 1830 war das Vereinigte Königreich für rund zwei Drittel des europäischen Anstiegs des Produktionsvolumens verantwortlich und sein Anteil an der Weltindustrieproduktion stieg stetig an. Mit Einsetzen der industriellen Revolution baute die Britische Insel ihren Wirtschaftsvorsprung weiter aus und um 1860, als das Land vermutlich auf seinem relativen wirtschaftlichen Höhepunkt angelangt war, förderte das Vereinigte Königreich mehr als die Hälfte des weltweiten Eisen- sowie Stein- und Braunkohlebedarfs. Großbritannien allein beherrschte rund 20 Prozent des Welthandels und war für einen Großteil des Handels mit Industriegütern verantwortlich. Über ein Drittel der Handelsmarine fuhr unter britischer Flagge. 1888 standen rund 20 Prozent der Erdoberfläche und circa 25 Prozent der Erdbevölkerung unter britischer Herrschaft. Das Verhältnis der Fläche Großbritanniens zu der seiner Kolonien belief sich auf rund 1:94. Diese glänzende Epoche des britischen Empire trug den Namen seiner Herrscherin4: das Viktorianische Zeitalter. Zentrum dieses Weltreiches war die Metropole London. Doch der Aufstieg Großbritanniens kam einher mit den Schattenseiten der Industrialisierung, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer offensichtlicher wurden: Ein durch die Industrialisierung erschaffenes Arbeiterheer, arm und ungebildet, strömte in der Hoffung auf ein besseres Leben aus allen Himmelsrichtungen nach London, um sich hier vor allem in Tower Hamlets anzusiedeln.

Dieser Bezirk von nur wenigen Quadratkilometern, der aber die meisten Armenviertel Londons umfasste, schloss die Gemeinden Whitechapel5 mit Spitalfields, Stepney, St. George’s in The East mit Wapping, Limehouse, Poplar, Mile End Old Town und Mile End New Town, Bow sowie Bromley ein. Zur damaligen Zeit sprach man allerdings nur noch vom verruchten und dreckigen East End.

Eine natürliche Trennung von anderen Bezirken Londons erfolgte auf der östlichen Seite durch den Fluss Lea, auf der nördlichen Seite durch die Stadtteile Hackney und Shoreditch, die City von London markierte die westliche Grenze und die Themse floss auf der südlichen Seite.

Trotz der geringen geografischen Größe ist es erstaunlich, dass man in diesem Areal um 1888 etwa 500.000 Bewohner erfasste. Davon lebten 35 Prozent unter der Armutsgrenze, 13 Prozent der Einwohner vegetierten in einem Zustand der Verwahrlosung und blickten täglich dem Hungertod ins Auge.6

Im 17. Jahrhundert war der östliche Teil Londons ein elegantes, angesehenes Viertel mit Wiesen, Gärten und Obsthainen, das von der Seidenweberei lebte. Im Zuge der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich dieses Gewerbe allerdings immer mehr in große, anonyme Fabrikhallen, sodass sich die Produktionsbedingungen enorm änderten. Die Millionenmetropole zog tausende unqualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt magisch an, die hier eine neue Heimat fanden. Dies hatte zur Folge, dass zwar genügend Arbeitskräfte vorhanden waren, allerdings zu wenige freie Stellen. Im East End herrschte somit ein Gemisch aus verschiedenen Kulturen und der ehrwürdige, arbeitsame Bürger lebte im Kreise von gescheiterten menschlichen Existenzen.

Im Laufe der Zeit verkam der ganze Distrikt immer mehr, und vom einstigen Glanz war bald nichts mehr zu sehen. Die schönen, hölzernen Verzierungen der Häuser und Gartenzäune wurden abgerissen und als Feuerholz benutzt. Den Müll schmissen die Bewohner achtlos auf die Straßen und so dauerte es nicht lange, bis es überall vor Flöhen und Ratten nur so wimmelte. Fließendes Wasser gab es in keinem Haushalt, lediglich Tränken, die sich Mensch und Vieh zum Waschen und Trinken teilen mussten. Metzger schlachteten ihre Tiere auf der Straße, und der Gestank muss, gemischt mit dem Geruch menschlicher Fäkalien, an heißen Tagen nahezu unerträglich gewesen sein.

Kinderprostitution war allgegenwärtig, was sich unter anderem darauf zurückführen lässt, dass erst im Jahre 1885 ein Gesetz7 zum Schutze von Kindern erlassen wurde, welches besagte, dass ein sexuelles Verhältnis mit einem Mädchen unter 13 Jahren als Straftat galt. Der Geschlechtsverkehr mit Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren wurde nun zumindest als Ordnungswidrigkeit geahndet. Fehlender Informationsfluss und Ignoranz vonseiten eines Großteils der männlichen Bevölkerung führten dazu, dass Kinder trotz allem offen auf der Straße ihre Körper verkaufen mussten. Oft war dies die einzige Möglichkeit dem Hungertod zu entgehen, sodass selbst Mütter ihre Kinder auf die Straße schickten, um aus deren Jugend Kapital zu schlagen. Mitunter hörte man, wie Kinder von Männern aus dem West End vor die Wahl gestellt wurden: »verhungern oder sündigen«.8

Die Kriminalitätsrate stieg zu dieser Zeit enorm an und Trickbetrügereien, Diebstahl sowie Schlägereien waren an der Tagesordnung. Viele Frauen verkauften, um überleben zu können, ihre Körper für ein paar Pennies auf der Straße. Illegale Zuhälterbanden, von denen gleich mehrere gleichzeitig ihr Unwesen in den Armenvierteln trieben, behandelten diese Frauen als ihr Eigentum, und das Abschneiden eines Fingers war noch eine der geringeren Strafen für eine »Ungehorsame«.

Die unterbesetzte Polizei stand diesen Begebenheiten machtlos gegenüber und griff vor allem direkt im Herzen von Whitechapel oder Spitalfields in den seltensten Fällen ein. Man vermied es sogar, in den schlimmsten Straßen, Flower and Dean Street und Dorset Street, Patrouille zu laufen. Den Ordnungshütern zollten die Anwohner keinen Respekt und es war nicht ungewöhnlich, dass Polizisten der H-Division, wie die Polizeiwache in Whitechapel genannt wurde, selbst Ziel von Angriffen wurden. Die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen, bestand darin, den am Gürtel befestigten Holzknüppel herauszuziehen und einzusetzen. Die weitere Ausstattung der so genannten »Streifen« war recht spärlich und bestand lediglich aus einer Pfeife, um Kollegen ein Verbrechen oder die Bitte um Unterstützung signalisieren zu können, sowie einer schwachen Öllaterne, die nicht annähernd hell genug war, um dunkle Ecken auszuleuchten.

Da viele Frauen in den Armenvierteln keine feste Bleibe hatten und ihre täglich aufs Neue zu bezahlenden Übernachtungsstätten oft wechselten, trugen sie meist ihr ganzes Hab und Gut bei sich. So war es in den Straßen des East End ein allgegenwärtiger Anblick, einer Frau zu begegnen, die mehrere Kleider übereinander trug. Der Statistiker, Romanschreiber und Gründer der englischen Satirezeitung Punch, Henry Mayhew, schrieb die Aussage einer anonymen Straßenprostituierten nieder, welche die verzweifelte Lage dieser armen Geschöpfe bildhaft wiedergibt. »Ihr Leute mit Ehre und Charakter und Gefühlen und so weiter, Ihr könnt nicht verstehen, wie man das alles aus uns herausgeprügelt hat. Ich fühle nichts, ich bin daran gewöhnt. Einmal habe ich gefühlt, besonders als meine Mutter gestorben ist … Ich habe geweint und mich aufgeführt, aber Herrgott, was nützt es, wenn ich mich aufrege? Ich bin auch nicht glücklich. Es ist kein Glück, aber ich krieg genug Geld zum Essen und Trinken, und das Trinken vor allem hält mich aufrecht. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich auf meinen Gin freue, der ist für mich alles. Ich glaube nicht, dass ich lange leben werde, und das freut mich auch. Ich sehne mich aber auch nicht genug nach dem Sterben, um mich umzubringen.«9

Keiner konnte ahnen, dass sich in nicht allzu ferner Zukunft ein »unabhängiges Genie«, wie »Jack the Ripper« von George Bernard Shaw10 genannt wurde, dazu berufen fühlte, diese Frauen von ihrem Leid zu »erlösen« und damit gleichzeitig auf die katastrophalen Zustände im East End aufmerksam machte. Am 24. September 1888 verfasste Shaw folgenden Brief an den Star:

»Während wir, die konventionellen Sozialdemokraten, unsere Zeit an Erziehung, Agitation und Organisation verschwendeten, hat irgendein unabhängiges Genie die Sache in die Hand genommen und dadurch, dass es einfach vier Frauen tötete und ausweidete, die das Privateigentum vertretende Presse zu einer Art von unvernünftigem Kommunismus bekehrt.«11

Die Unterkunftsmöglichkeiten waren im Allgemeinen katastrophal. In einem typischen Haushalt war es nicht ungewöhnlich, dass sechs bis zehn Personen auf engstem Raum zusammenwohnten. Die erwachsenen Töchter und Söhne schliefen auf dem Fußboden. In keiner dieser Wohnungen gab es mehr als ein Bettgestell und die Toilette musste man sich mit anderen Hausbewohnern teilen. Die sanitären Anlagen waren allerdings so dreckig, dass es die Bewohner vorzogen, ihre Nachttöpfe zu benutzen und diese oft tagelang in den Wohnungen stehen ließen, bevor sie im Hinterhof entleert wurden.12

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Dramatische Lebensumstände im East End. Eine Mutter, die ihren Unterhalt mit dem Kleben von Streichholzschachteln bestreitet, trauert um ihr totes Kind.

Andrew Mearns beschrieb in einem Leitartikel in der Pall Mall Gazette die so genannten Kellerwohnungen, in denen meist »ein oder zwei Familien mit ihren Kindern hausten. In einem dieser besagten Keller fand ein Sanitärbeauftragter Mutter, Vater, drei Kinder und vier Schweine. Die Frau erholte sich gerade von ihrer achten Geburt und die Kinder rannten halbnackt und mit Dreck beschmutzt umher. In einer anderen Wohnung lebten sieben Menschen miteinander, und unter ihnen lag der Körper eines toten Kindes.«13 Solch erbärmliche Zustände waren für die damaligen Verhältnisse normal, und über 50 Prozent der Kinder starben an Krankheiten oder Unterernährung, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten.

Eine ausgewogene Ernährung leistete man sich nur, wenn gerade genügend Geld erübrigt werden konnte. Die typische Nahrung im East End bestand allerdings üblicherweise aus Bruchzwieback, da dieser billiger zu haben war als ein ganzes, unversehrtes Stück, und Gin. Gelegentlich leistete man sich auch einen getrockneten Fisch oder heiße Kartoffeln.14 Viele Einwohner hatten keine feste Bleibe und die preiswerteste Alternative war es – wenn man nicht auf der Straße schlafen wollte –, in einem Quartier für Arme (einem so genannten »Doss House« oder »Common Lodging House«) zu übernachten, aufrecht an eine Wand gelehnt. Eine Wäscheleine verhinderte, dass die Schlafenden vornüber fielen. Das Aufwecken war im Vergleich zum Schlafen noch wesentlich unangenehmer, denn der Quartiersbesitzer oder -verwalter löste einfach die Leine und sah zu, wie die ganze Personenreihe nach vorne kippte. Dieses »Schlafvergnügen« kostete den Besucher ein oder zwei Pennies.15 Vergleicht man dies mit dem Verdienst für 17 Stunden Streichholzschachteln-Kleben oder Säcke-Knüpfen, für das man zehn Pennies als Lohn erhielt, erklärt dies auf recht einfache Art und Weise, warum es viele Frauen vorzogen, auf der Straße als Prostituierte zu arbeiten, um dort für ihre Dienste zwei oder drei Pennies zu verdienen.

Da viele der Einwohner im Genuss von Alkohol die einzige Möglichkeit sahen, dem Alltag zu entfliehen, investierte man sein Geld lieber in billigen Gin, als sich eine Bleibe für die Nacht zu suchen. Damals hatten Pubs in London, wie auch heute wieder, von frühmorgens bis spät in die Nacht geöffnet, und Alkohol war ziemlich günstig und fast ununterbrochen zu erwerben. Um ein gewisses Auskommen zu sichern, vermieteten Bewohner sogar ihre eigenen Wohnungen, egal zu welcher Jahreszeit, stundenweise an Prostituierte, was zur Folge hatte, dass sich viele Menschen bis in die frühen Morgenstunden auf der Straße aufhalten mussten. Prostitution wurde damals zwar häufig geduldet, weil man sie sowieso nicht unter Kontrolle bringen konnte, trotzdem wurde das älteste Gewerbe der Welt als illegal eingestuft und von der Polizei mehr oder minder schwer geahndet. Aus diesem Grund musste eine Prostituierte in Bewegung bleiben, denn wenn sie länger an einem Ort verharrte, konnte sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ohne weiteres verhaftet werden. Die Christ Church, deren physische Präsenz die Gemeinde Spitalfields überragte, war ein beliebter Ort für Prostituierte auf der Suche nach einem Freier. Nicht selten traf man in ihrer Umgebung am späten Abend und in der Nacht sehr viele Frauen an, die nur auf ein Glas Gin zum Aufwärmen in den nahe gelegenen »Ten Bells«-Pub einkehrten oder gingen, wenn sie erfolgreich einen »Kunden« überzeugen konnten.

Viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gab es für die Einwohner in den Armenvierteln Londons nicht. Zwar fanden regelmäßig Theateraufführungen statt, doch nur wenige konnten sich das Eintrittsgeld leisten. So wurden die Aufführungen der »Buffalo Bill«-Show und das Theaterstück »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, das im Jahre 1888 Uraufführung in London feierte, meist nur von den besser verdienenden Einwohnern der Metropole besucht. Seine Freizeit verbrachte man mit Bekannten oder der Familie in den nahe gelegenen Pubs, um dort das hart verdiente Geld in Alkohol zu investieren. Zynischerweise wurden die Einwohner des East End bald selbst zur Hauptattraktion, denn von den Morden auf schauerliche Weise fasziniert, fuhren in regelmäßigen Abständen verzierte Kutschen der reicheren Bevölkerung aus anderen Teilen Londons durch den Ostteil der Stadt, um sich beim so genannten »Slumming« an den Tatorten des Rippers und den Lebensumständen der »Ausgestoßenen« zu ergötzen.

In einem internen Bericht an das Innenministerium im Oktober 1888 berichtete Sir Charles Warren, Chef der Metropolitan Police, von den Zuständen im East End:

»Bisher gab es keine Schätzungen über die Anzahl der Bordelle in London, aber in den letzten Monaten habe ich die Beobachtungen von Streifenpolizisten zusammengezählt und bin zum Entschluss gekommen, dass es allein 62 Bordelle im Bezirk der Whitechapel-Division gibt, vermutlich aber eine weitaus größere Anzahl derartiger Etablissements. Die Anzahl der Armenhäuser beträgt 233, in denen 8.530 Personen wohnen. Wir haben keine Möglichkeit, die Anzahl der Prostituierten festzustellen, aber es gibt vermutlich um die 1.200 von ihnen, der überwiegende Teil lebt unter ärmsten Bedingungen. Die Armenhäuser der Unterschicht werden überwiegend von Prostituierten, Dieben und Vagabunden frequentiert, da es für sie keine anderen Alternativen gibt und kein Gesetz existiert, um ihr Zusammentreffen dort zu verhindern. Ich fürchte, dass, indem man die Bordellbetreiber versucht aus manchen Gegenden zu vertreiben, sich die Stimmung in London verschlechtern wird, denn solange die Nachfrage besteht, ist es unmöglich, das Angebot unter Kontrolle zu bringen.«16

Diesen Zuständen stand in dieser Zeit eine Polizeimacht entgegen, über die selbst die Dortmunder Nachrichten berichteten: »In dem Augenblick, wo die Thätigkeit der Londoner Polizei in Folge der jüngsten Straßenmorde im Ostend der Hauptstadt in erhöhten Maße in Anspruch genommen wird, ist der soeben erschienene Bericht des Polizeichefs, Sir Charles Warren, für das Jahr 1887 nicht ohne Interesse. Die hauptstädtische Polizei zählte darnach am 31. Dezember 1887 im Ganzen 12.460 Mann, nämlich 26 Ober-Aufseher, 766 Inspekteure, 1.174 Sergeanten und 10.494 Konstabler. Den Wachtdienst in den Straßen versehen bei Tage 8.773 Konstabler, und 60 pCt. dieser Anzahl ist für den Nachtdienst – von 6 Uhr Abends bis 6 Uhr Morgens – erforderlich. Die Thätigkeit der hauptstädtischen Polizei erstreckt sich über einen Flächenraum von 683 Quadratmeilen. Für den Jahressold der Polizei ist die Summe von 1.096.277 £strl ausgeworfen. Seit 1849, in welchem Jahre die hauptstädtische Polizei nur 5.493 Mann stark war, sind in London 508.852 neue Häuser gebaut worden und neue Straßen und Plätze entstanden, welche eine Ausdehnung von 1.833 (engl.) Meilen haben, während die Bevölkerung von 2.473.758 auf 5.476.447 Seelen stieg. Der Polizeichef betont in seinem Bericht an den Minister des Inneren, dass infolge der rapiden Vergrößerung der Hauptstadt und des Wachsthums ihrer Bevölkerung eine Verstärkung der Polizeimacht dringend geboten sei.«17

Dies war das Jahr 1888 in London, von dem man in Wetterberichten von einem trüben und lichtlosen Jahr und von besonderen Himmelserscheinungen spricht – einem blutroten oder grünen Himmel.

Es war aber auch ein Jahr, in dem ein unbekannter Killer durch die Straßen des East End wandelte und die armen Kreaturen Londons in Angst und Schrecken versetzte.

Die Mordserie

Martha Tabram

»Es war einer der furchtbarsten Morde, den man sich nur vorstellen kann.«

(Richter George Collier bei der gerichtlichen Anhörung am 9. August 1888.)

Der Montag des 6. August 1888 war ein wolkiger Tag, verhältnismäßig kühl für den Hochsommer. Vereinzelt regnete es. Es war ein Bank Holiday, der letzte Tag der Sommerferien in England, ein Feiertag, an dem London in einem reichhaltigen Angebot an Attraktionen aufblühte. Der »Crystal Palace« bot eine Fülle von Angeboten, die von Orgelkonzerten bis zu einem Märchenballett reichte. Am »Alexandra Palace« staunten Tausende über den bekannten amerikanischen Aeronauten und Luftfahrtpionier »Professor« E. J. Baldwin, der mit einem Ballon auf rund 400 Meter stieg, um dann auszusteigen und sich mit einem Fallschirm zur Erde tragen zu lassen. Die ganze Stadt schien an diesem Tag auf den Beinen zu sein.

Im Londoner East End war freilich wenig von dieser Festtagsatmosphäre zu spüren. Attraktionen hatte das heruntergekommene Whitechapel kaum zu bieten. Die hier wohnenden Menschen freuten sich aber über jede Abwechslung in ihrem sonst so tristen Leben.

Eine der Einwohner des East End war Martha Tabram. In der Untersuchungskommission, die sich später mit ihrem Tod beschäftigte, sollte sie als mollige Frau mittleren Alters mit dunkler Haarfarbe und dunklem Teint beschrieben werden.18 Martha wurde am 10. Mai 1849 als jüngstes von fünf Kindern von Charles Samuel White und seiner Frau Elisabeth geboren. Zu dieser Zeit lebte die Familie in der 17 Marshall Street, London Road, Southwark. Charles Samuel White war in einem Lagerhaus angestellt, seine Frau blieb zu Hause und kümmerte sich um die Kinder. Als Martha 16 Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern, die Familie brach aber nicht völlig auseinander, denn Charles White hielt, bis er im Jahre 1865 verstarb, weiterhin Kontakt zu ihr.

Wenige Jahre nach dem Tod ihres Vaters zog Martha mit einem Möbelpacker namens Henry Samuel Tabram zusammen. Am 25. Dezember 1869 heirateten Martha und Henry in der Trinity Church in der St. Mary’s Pfarrei, Newington, und zogen im Februar 1871 in die 20 Marshall Street. In eben diesem Monat gebar Martha ihren ersten Sohn Frederick John, im Dezember selben Jahres schenkte sie schließlich ihrem zweiten Sohn Charles Henry das Leben. Kurze Zeit später müssen die ersten ernsthafteren Probleme in der Ehe aufgetaucht sein – Auslöser war die schwere Alkoholsucht von Martha. 1875 trennten sich die Eheleute, Henry versorgte sie aber weiterhin mit einer wöchentlichen Zahlung von zwölf Shilling. Später kürzte er seine Unterstützung auf einen Shilling und sechs Pennies, da Martha ihn immer wieder auf der Straße um Geld anbettelte und er schließlich erfuhr, dass sie bereits mit einem anderen Mann, dem Tischler Henry Turner zusammengezogen war.

Henry Turner sollte mit Martha Tabram über die nächsten zwölf Jahre eine lockere Beziehung führen. Mehrmals trennte sich das Paar, um nur wenig später wieder zusammenzuziehen. Ursachen der Probleme waren auch hier einmal mehr Marthas Alkoholsucht und ihre Gewohnheit, von Pub zu Pub zu ziehen. Manchmal zog sie die ganze Nacht in den Straßen des East End umher.

Die London Times berichtete am 24. August 1888, als im Rahmen der Ermittlungen die Lebensumstände Marthas beleuchtet wurden und auch Henry Turner vor dem Untersuchungsausschuss aussagen musste:

»Während sie mit dem Zeugen [Henry Turner] zusammenwohnte, kam sie normalerweise um 23 Uhr nach Hause. Soweit dieser wusste, hatte Martha keine regelmäßige Begleitung bei ihren Trinkeskapaden und ihm war nicht bekannt, dass Martha ihren Körper verkaufte. Turner betonte, dass er selbst nicht trinken würde und solange die Verstorbene nüchtern war, kam das Paar gut miteinander aus.«19

Zur Zeit des Mordes lebten die beiden getrennt. Turner wohnte im »Victorias Workingmen’s Home« in der Commercial Street, Tabrams letzte bekannte Adresse war das »Satchell’s Lodging House« in der 19 George Street, nachdem sie drei Wochen zuvor das »The Star Public House«, Star Place, Hals über Kopf verlassen hatte, da sie mit ihren Mietzahlungen zwei Wochen im Rückstand war.20

Im »Satchell’s Lodging House« hatte sie sich unter dem Namen Emma Turner eingemietet, vermutlich um sich ihrer ehemaligen Vermieterin, Mary Bousfield vom »The Star Public House«, zu entziehen.

Am 4. August 1888 traf Henry gegen zwölf Uhr in der Leadenhall Street auf Martha und gab ihr einen Shilling und sechs Pennies, mit denen sie sich Waren kaufen sollte, durch deren Weiterverkauf sie sich etwas Geld hinzuverdienen konnte.21 Etwa 20 Minuten verbrachte Henry mit Martha. Danach sollte er sie niemals mehr lebend wieder sehen.

Am frühen Morgen des 7. August verließ John Saunders Reeves, ein 37-jähriger Dockarbeiter, seine Wohnung in den George Yard Buildings Nr. 37, um zur Arbeit zu gehen. Die George Yard Buildings waren ein recht neuer Gebäudekomplex, erbaut 1875 und vorwiegend mit Einzimmerwohnungen ausgestattet, in denen sich überwiegend arme Leute einmieteten. Um ca. 4:45 Uhr stieß Reeves auf seinem Weg durch das Treppenhaus im ersten Stockwerk auf den leblosen Körper einer Frau, der in einer großen Blutlache lag. Dem schockierten Reeves fehlte der Mut, zu untersuchen, ob die Frau noch einen Funken Leben in sich trug, er machte sich aber sofort auf, eine Polizeistreife zu suchen.

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John Reeves findet die Leiche von Martha Tabram.

Kurze Zeit später kehrte er mit Constable Thomas Barrett zum Tatort in die George Yard Buildings zurück. Beide sahen sich die Leiche genauer an: Die tote Frau lag auf dem Rücken in einer großen Lache Blut, die Arme seitlich an ihrem Körper, die Finger jeder Hand fest zusammengepresst. Ihre Beine waren gespreizt. Sie war gekleidet in schwarzer Haube, schwarzem Mantel, dunkelgrünem Rock, braunem Unterrock und gleichfarbigen Strümpfen und Stiefeln mit seitlichem Federverschluss. Ihre Kleider waren hochgeschoben und entblößten die untere Hälfte des Körpers.22

Der Polizist untersuchte das Treppenhaus, konnte aber weder eine Tatwaffe noch Blutspuren oder ähnliche Tathinweise finden. Die Frau lebte offensichtlich nicht mehr und Barrett ließ – wie es auch die Vorschriften vorsahen – einen Arzt holen. Gegen 5:30 Uhr traf Doktor Timothy Robert Killeen am Tatort ein und stellte offiziell den Tod der Frau fest. Eine oberflächliche Untersuchung zeigte ihm, dass sie mit unzähligen Messerstichen übersät war. Dr. Killeen nahm an, dass sich die Tat vor rund drei Stunden ereignet haben musste.

Da es in Whitechapel keine richtige Leichenhalle gab, ließ Dr. Killeen die sterblichen Überreste von Martha in ein nahe gelegenes Totenhaus in der Old Montague Street bringen. Das Totenhaus war nicht mehr als ein einfacher Holzschuppen, in dem Leichen bis zur Beerdigung aufgebahrt wurden und Ärzte die Möglichkeit erhielten, unter einfachsten Bedingungen eine Leichenobduktion durchzuführen. Dr. Killeens Bericht, den er der anschließenden gerichtlichen Untersuchung, der so genannten Coroner-Untersuchung, bei der alle Zeugen vorgeladen und befragt wurden, vorlegte, machte deutlich, mit welch ausgesprochener Brutalität der Mörder vorgegangen sein musste:

Die Leiche wies insgesamt 39 Messerstiche auf, allein der Hals davon neun. Die linke Lunge war fünfmal getroffen, die rechte zweimal. Im Herz fand sich ein Einstich, und dieser allein wäre schon tödlich gewesen, so Dr. Killeen. In die Leber war fünfmal, in die Milz zweimal und in den Magen sechsmal eingestochen worden. Im Unterleib befand sich eine sieben Zentimeter lange Wunde. Bemerkenswerterweise kam Dr. Killeen zu dem Schluss, dass die Verletzungen nicht von ein und derselben Waffe stammen konnten. Er wies darauf hin, dass sie zwar grundsätzlich von einem Messer herrühren könnten, nicht allerdings der Einstich in das Herz, denn dieser hatte das Brustbein durchdrungen. Der Arzt meinte, dass die Tatwaffe hier eine Art Dolch gewesen sein müsste. Alle Wunden wurden seiner Meinung nach dem Opfer beigebracht, als es noch lebte.23

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Post-mortem-Fotografie von Martha Tabram

Martha Tabrams letzte Stunden konnten in der Coroner-Anhörung, die in Vertretung für den in Skandinavien auf Urlaubsreise befindlichen Wynne E. Baxter, Untersuchungsrichter für den Südost-Distrikt von Middlesex, von Coroner George Collier geleitet wurde, relativ gut rekonstruiert werden. An jenem verhängnisvollen Abend vom 6. auf den 7. August, der ihr das Leben kosten sollte, war sie von einer Freundin namens Mary Ann Connelly begleitet worden, die, wie so viele Prostituierte des Londoner East End, einen Spitznamen trug: »Pearly Poll«.

»Pearly Poll«, die sich einige Tage nach Marthas Tod auf einer Polizeistation meldete, sagte bei der Vernehmung aus, dass sie den Abend mit dem Mordopfer verbracht hatte. Dies wurde von anderen Zeugen bestätigt. Im Pub »The Two Brewers« griffen die beiden zwei Soldaten auf, einen Corporal und einen Private, und zogen mit diesen noch durch weitere Pubs des East End. Gegen 23:45 Uhr trennten sich »Pearly Poll« und Martha Tabram: »Pearly Poll« ging mit dem Corporal zur Angel Alley, Martha Tabram mit dem Private in den George Yard. Laut »Pearly Poll« gab es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise auf irgendwelche Spannungen: »Wir trennten uns einvernehmlich und ohne Streit; wir waren alle gute Freunde«24, so die Prostituierte. Die Paare trennten sich, um ungestört Geschlechtsverkehr vollziehen zu können. Was nach der Trennung passierte, ist ungewiss.

Um Mitternacht vernahmen Anwohner in der George Street die Rufe »Hilfe« und »Polizei« – Anlass waren jedoch zwei tumultartige Schlägereien, die wohl kaum in Verbindung mit der Mordtat standen.25 Gegen 1:40 Uhr kehrte die 25-jährige Elizabeth Mahoney mit ihrem Mann in ihre Wohnung in den George Yard Buildings zurück. Normalerweise arbeitete Elizabeth Mahoney von 9 bis 23 Uhr in einer Fabrik, aber der Bank Holiday hatte ihr einen freien Tag beschert, den das Ehepaar in der Stadt verbrachte. Beide bemerkten im Treppenhaus nichts Außergewöhnliches, und auch als Mrs. Mahoney wenig später nochmals für kurze Zeit die Wohnung verließ, um ein Nachtmahl zu besorgen, fiel ihr nichts Besonderes auf.

Als der Droschkenfahrer Alfred George Crow, der ebenfalls in den George Yard Buildings wohnte, spät in der Nacht gegen 3:30 Uhr im Treppenhaus zu seiner Wohnung hinaufging, erkannte er auf dem Treppenabsatz im ersten Stock schemenhaft ein dunkles, auf dem Boden liegendes »Etwas«26. Crow dachte an einen Obdachlosen, der auf dem Boden schlief. Da ein solcher Anblick nicht ungewöhnlich war, schenkte er der scheinbar schlafenden Person keine weitere Aufmerksamkeit und setzte den Weg zu seiner Wohnung fort.27 Erst als John Reeves frühmorgens das Treppenhaus herabstieg, wurde ersichtlich, dass sich in den George Yard Buildings ein Mord ereignet hatte.

Verwirrung herrschte zunächst noch über die Identität des Opfers, da den Bewohnern der George Yard Buildings die tote Frau völlig unbekannt war. Gleich drei verschiedene Personen machten unterschiedliche Angaben, wer die Tote überhaupt sein könnte. Erst einige Tage später, als die Coroner-Anhörungen schon längst begonnen hatten, konnten Henry Tabram und Mary Bousfield28 sie unabhängig voneinander als Martha Tabram identifizieren.

Die richterlichen Anhörungen fanden damals in aller Öffentlichkeit statt. Daran ergötzte sich – insbesondere in Anbetracht eines solch brutalen Verbrechens – nicht nur eine neugierige Menschenmenge, sondern auch eine Vielzahl von Reportern nutzte die Gelegenheit, um über die abscheulichsten Verbrechen Londons zu berichten. Bei der Anhörung zum Mord an Martha Tabram war die Öffentlichkeit allerdings ausgeschlossen, nur Reporter waren anwesend. Da die offiziellen Unterlagen der richterlichen Untersuchungen nicht mehr existieren und die Polizeiakten zu den Ripper-Morden unvollständig sind, ist die Tatsache, dass bei den Anhörungen normalerweise die Öffentlichkeit zugelassen war, für uns heutzutage ein Glücksfall, da uns ein guter Teil der Informationen über die »Whitechapel«-Morde durch die zeitgenössische Presse überliefert ist.

Im Laufe der polizeilichen und gerichtlichen Untersuchungen wurde deutlich, dass eben jener Constable Thomas Barrett, der von John Saunders Reeves zum Tatort geholt wurde, eine sehr wichtige Beobachtung machte: Der Polizist sagte aus, dass er gegen zwei Uhr am nördlichen Ende der George Yard, in der Wentworth Street, kurz mit einem Private der Grenadiergardisten gesprochen habe. Barrett beschrieb diesen Soldaten als zwischen 22 und 26 Jahre alt, 1,75 Meter bis 1,78 Meter groß, hellhäutig, mit dunklem Haar und kleinem braunen Schnauzbart mit hochgedrehten Enden. Der Soldat trug zwar keine Medaillen, aber ein Abzeichen für gute Führung. Auf die Frage, was er hier mache, antwortete der Gardist, dass »er auf einen Kumpel warte, der mit einem Mädchen unterwegs sei.«29

Inspector James Reid, der die polizeilichen Ermittlungen übernommen hatte, verlor keine Zeit, diese heiße Spur zu verfolgen. Noch am 7. August ging Reid mit Barrett zum London Tower, wo sich im Wachraum Soldaten, die am Bank Holiday negativ aufgefallen und eingesperrt worden waren, vor ihnen in einer Reihe aufstellen mussten. Da Barrett aber keinen der Soldaten wiedererkennen konnte, ließ man am nächsten Tag kurzerhand alle Soldaten, die sich zur Zeit des Mordes nicht in der Kaserne befanden, vor dem Constable aufmarschieren. Doch auch diese Maßnahme endete mit einem Fehlschlag. Der Constable sah sich außerstande, einen der Soldaten als jenen Gardisten, dem er in der Mordnacht begegnet war, eindeutig zu identifizieren.

Immerhin fühlten die Polizisten zwei Soldaten etwas genauer auf den Zahn. Beim ersten musste Barrett aber schnell wieder einräumen, dass es sich nicht um den Gesuchten handelte. Der zweite Soldat, John Leary, wurde intensiver befragt, aber er erwies sich ebenfalls als unschuldig. Er sagte aus, dass er mit einem Private namens Law nach Brixton gegangen sei und dort durch die Pubs gezogen wäre. Zu später Stunde sei er hinter einen Pub gegangen, um sich zu erleichtern, und als er zurückkehrte, war Private Law verschwunden. Also machte er sich allein nach Battersea, Chelsea und Charing Cross auf. Gegen 4:30 Uhr traf er per Zufall wieder auf Private Law. Sie gingen zusammen nach Billingsgate und von dort aus Richtung Kaserne, wo sie gegen sechs Uhr ankamen. Private Law, der daraufhin getrennt von Leary zu den Geschehnissen der Nacht befragt wurde, bestätigte diese Version. Weitere Zeugen, die die Soldaten gesehen hatten, konnten allerdings nicht gefunden werden.30

Das Alibi der Soldaten mutet – insbesondere weil sie angaben, sich in der Nacht zufällig wieder getroffen zu haben und weil keine anderen Zeugen, die ihre Version bestätigen konnten, gefunden wurden – recht wackelig an. Zwar wurden sie unabhängig voneinander befragt, aber falls sie in den Tabram-Mord involviert waren, hätten sie genügend Zeit gehabt, sich vorher eine passende Geschichte zurechtzulegen. Reid aber kam – auch weil Constable Barrett bei der Identifizierung des Soldaten ziemlich unsicher aufgetreten war – zu der Überzeugung, dass die Männer die Wahrheit sagten und Barrett »einen großen Fehler gemacht hatte, und verfügte, dass die beiden Soldaten abtreten durften.«31 Die Regimentsakten, noch heute aufbewahrt in den National Archives, zeigen zudem, dass beide Männer, abgesehen von einigen Trinkeskapaden, eine tadellose Soldatenlaufbahn aufwiesen.32

Eine weitere kurzfristige Spur ergab sich bei einem Corporal namens Benjamin, der in der Mordnacht Ausgang hatte und erst am 9. August um 11:30 Uhr wieder in der Kaserne erschien. Seine Kleidung und sein Bajonett wurden daraufhin untersucht, Blutspuren konnten aber nicht gefunden werden. Seine Aussage, dass er die Nacht bei seinem Vater verbracht hatte, der das Canbury Hotel, Kingston, führte, konnte im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen bestätigt werden.33

Noch gaben sich die Polizisten aber nicht geschlagen, da wie erwähnt am 9. August plötzlich in der Polizeistation der Commercial Road »Pearly Poll« auftauchte und erklärte, dass sie die Mordnacht mit Martha Tabram und zwei Soldaten verbracht hatte. Ihre Aussagen über die beiden Soldaten unterstützten unverhofft Constable Barretts Beobachtungen in der Mordnacht. »Pearly Poll« wurde zur wichtigsten Zeugin. Die Polizei setzte große Hoffnungen in sie, da sie schließlich in der besagten Nacht mehrere Stunden mit den beiden Soldaten zusammengewesen war und sich somit, ganz im Gegensatz zu Constable Barrett, die Gesichter der Soldaten gut hätte einprägen können.

Für den 10. August wurde ein wiederholter Termin am Tower anberaumt, bei dem sich die Soldaten erneut in Reihe aufstellen sollten, damit »Pearly Poll« sie genau begutachten konnte. Die Prostituierte blieb der Gegenüberstellung jedoch fern. Auch eine kurzerhand eingeleitete Suche nach ihr blieb fruchtlos. »Pearly Poll« schien nach den ersten polizeilichen Befragungen untergetaucht zu sein und war spurlos verschwunden. Erst einige Tage später konnte Sergeant Eli Caunter sie bei ihrer Cousine, Mrs. Shean, im Fullers Court, Dury Lane, ausfindig machen. Eine Erklärung, warum sie, ohne die Polizei zu informieren, der Gegenüberstellung einfach ferngeblieben war, blieb sie schuldig. Überhaupt machte »Pearly Poll«, eine große, maskulin wirkende Frau mit rotem Gesicht und heiserer Stimme,34 einen undurchsichtigen Eindruck und ihr Auftritt vor dem Coroner-Ausschuss war skurril: Sie trat zu ihrer Befragung verhüllt in einem alten, grünen Kopftuch auf und teilte mit heiserer Stimme mit, dass etwas mit ihrer Brust nicht in Ordnung sei. Sie sprach so leise, dass ein Polizist teilweise ihre Worte laut wiederholen musste.

Am Tower wurde eine erneute Gegenüberstellung organisiert, bei der sich alle Soldaten aufreihen mussten, die in der Mordnacht Ausgang gehabt hatten. Aber die Prostituierte konnte niemanden wiedererkennen, sie war sich sogar sicher, dass der gesuchte Soldat nicht unter den Angetretenen war.35 Nun rückte »Pearly Poll« aber plötzlich mit einer weiteren Information heraus: Angeblich sollen die Soldaten weiße Bänder um ihre Kappen getragen haben.

Diese Spur ließ die Polizei glauben, dass es sich nicht um die im Tower stationierten Grenadier Guards handeln konnte, sondern um die Coldstream Guards der Wellington Barracks. Also wurde in jener Kaserne das Prozedere wiederholt, und auch hier mussten sich die Soldaten, die in der Mordnacht Ausgang gehabt hatten, in einer Reihe aufstellen.