{5}1

Ich gelangte zu dem Haus auf einer Privatstraße, die oben in einem Abstellplatz endete. Als ich aus dem Auto stieg, lag die Stadt unter mir im Morgennebel, die Türme der Missionsstation und des Gerichtsgebäudes ragten nur zur Hälfte heraus. Jenseits der Klippe lag die von einem Inselgürtel umkränzte Meeresbucht.

Hier oben herrschte Stille, das einzige Geräusch, abgesehen vom leisen Hintergrundrauschen des Freeways, den ich soeben verlassen hatte, kam von einem hin und her geschlagenen Tennisball. Der Court neben dem Haus war von einem hohen Drahtzaun umgeben. Ein korpulenter Mann in kurzen Hosen und mit einem Leinenhut auf dem Kopf spielte gegen eine behende blonde Frau. Beide legten eine Verbissenheit an den Tag, die mich an Gefängnisinsassen auf dem Exerzierhof erinnerte.

Der Mann verlor mehrere Ballwechsel in Folge und beschloss daraufhin, meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Der Frau und dem Match den Rücken kehrend, trat er an den Zaun.

»Sind Sie Lew Archer?«

Der war ich.

»Sie sind reichlich spät dran.«

»Ich hatte Probleme, den Weg zu finden.«

»Sie hätten jeden Passanten fragen können. Jeder weiß, wo Jack Biemeyer wohnt. Sogar die Flugzeuge benutzen beim Landeanflug mein Haus als Orientierungspunkt.«

{6}Das leuchtete ein. Das Haus war eine ausladende Angelegenheit aus weißem Putz und roten Dachziegeln, hingeklotzt auf dem höchsten Punkt von Santa Teresa. Höher waren nur die sich hinter der Stadt auftürmenden Berge und ein Rotschwanzbussard, der am strahlenden Oktoberhimmel kreiste.

Hinter Biemeyer erschien jetzt auch die Frau. Sie sah erheblich jünger aus als er. Sowohl ihr schmaler blonder Kopf als auch der drahtige, freilich nicht mehr ganz taufrische Körper schienen sich meiner Blicke äußerst bewusst zu sein. Biemeyer machte uns nicht miteinander bekannt. Ich sagte ihr, wer ich war.

»Ich bin Ruth Biemeyer. Sie haben bestimmt Durst, Mr. Archer. Genau wie ich.«

»Du brauchst gar nicht erst die eifrige Gastgeberin hervorzukehren«, sagte Biemeyer. »Der Mann ist geschäftlich hier.«

»Das weiß ich. Es war schließlich mein Bild, das gestohlen wurde.«

»Ich übernehme das Gespräch, Ruth, wenn du nichts dagegen hast.«

Er führte mich ins Haus, seine Frau folgte mit einem gewissen Abstand. Drinnen war es angenehm kühl, auch wenn ich die Protzigkeit des Bauwerks als bedrängend empfand. Man fühlte sich eher wie in einem öffentlichen Gebäude als wie in einem Wohnhaus – als sei man gekommen, um seine Steuern zu bezahlen oder sich scheiden zu lassen.

Wir wanderten zum anderen Ende des Empfangsraums. Biemeyer deutete auf zwei Haken an einer kahlen {7}weißen Wand, an denen, wie er sagte, das Bild gehangen hatte.

Ich zückte Notizbuch und Kugelschreiber. »Wann wurde es entwendet?«

»Gestern.«

»Gestern habe ich bemerkt, dass es weg war«, sagte die Frau. »Aber ich komme nicht jeden Tag in diesen Raum.«

»Ist das Bild versichert?«

»Nicht speziell«, sagte Biemeyer. »Aber natürlich ist alles hier im Haus von irgendeiner Versicherung abgedeckt.«

»Wie viel ist das Bild denn wert?«

»Ein-, zweitausend vielleicht.«

»Es ist mehr wert«, sagte die Frau. »Bestimmt fünf- bis sechsmal so viel. Die Preise für einen Chantry haben angezogen.«

»Wusste gar nicht, dass du das verfolgt hast«, sagte Biemeyer argwöhnisch. »Zehn- bis zwölftausend? Wie viel hast du denn dann für das Bild bezahlt?«

»Das binde ich doch dir nicht auf die Nase. Ich habe es mit meinem eigenen Geld gekauft.«

»Ohne mich vorher um Rat zu fragen – musste das sein? Ich dachte, das hättest du hinter dir, diese Besessenheit, was Chantry anbelangt.«

Sie erstarrte. »Diese Bemerkung ist fehl am Platz. Ich habe Richard Chantry seit dreißig Jahren nicht gesehen. Dass ich das Bild gekauft habe, hat nicht das Geringste mit ihm zu tun.«

»Wenn du es sagst …«

{8}Ruth Biemeyer warf ihrem Mann einen kurzen triumphierenden Blick zu, als habe sie ihm einen Punkt in einem Spiel abgenommen, bei dem es weit mehr zur Sache ging als beim Tennis. »Du bist auf einen Toten eifersüchtig.«

Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Das ist in doppelter Hinsicht lächerlich. Erstens weiß ich verdammt gut, dass ich nicht eifersüchtig bin, und zweitens glaube ich nicht, dass er tot ist.«

Die Biemeyers redeten, als hätten sie mich völlig vergessen, obwohl vermutlich das Gegenteil der Fall war. Ich diente unfreiwillig als Schiedsrichter, unter dessen Aufsicht sie ihren aufgestauten Ärger aneinander auslassen konnten, ohne dass die Sache außer Kontrolle geriet und etwa in eine Prügelei mündete, denn trotz seines Alters waren Biemeyer Handgreiflichkeiten durchaus zuzutrauen. Mir ging das Theater auf die Nerven, und ich machte ihm ein Ende.

»Wer ist Richard Chantry?«

Die Frau sah mich überrascht an. »Soll das heißen, Sie haben noch nie von ihm gehört?«

»Die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung hat noch nie von ihm gehört«, sagte Biemeyer.

»Das ist einfach nicht wahr. Er war schon berühmt, bevor er verschwand, und da war er noch keine dreißig.«

Ihre Stimme klang nostalgisch und liebevoll. Ich beobachtete ihren Mann. Sein Gesicht war rot vor Wut, sein Blick verwirrt. Ich schob mich zwischen die beiden und wandte mich an die Ehefrau.

{9}»Von wo ist Richard Chantry verschwunden?«

»Von hier«, sagte sie. »Aus Santa Teresa.«

»Kürzlich?«

»Nein. Das ist über fünfundzwanzig Jahre her. Er hat von einem Tag auf den anderen alle Brücken hinter sich abgebrochen. Er war, wie er zum Abschied formulierte, auf der Suche nach neuen Horizonten.«

»Hat er das zu Ihnen gesagt, Mrs. Biemeyer?«

»Nicht zu mir, nein. Er hinterließ einen Brief, den seine Frau veröffentlicht hat. Seit unserer Jugend, als wir uns in Arizona kennenlernten, habe ich Richard Chantry nie wiedergesehen.«

»An Versuchen hat es nicht gefehlt«, sagte ihr Mann. »Du wolltest, dass ich mich hier zur Ruhe setze, weil dies Chantrys Stadt war. Du hast mich dazu gebracht, ganz in der Nähe von seinem Haus zu bauen.«

»Das ist nicht wahr, Jack. Es war deine Idee, hier zu bauen. Ich habe mich dem nur gefügt, das weißt du genau.«

Die Röte schwand aus seinem Gesicht, und er wurde plötzlich blass. Mit gequältem Blick quittierte er die Einsicht, einen geistigen Aussetzer gehabt zu haben.

»Ich weiß gar nichts mehr«, sagte er mit der Stimme eines müden, alten Mannes und verließ das Zimmer.

Seine Frau machte Anstalten, ihm nachzugehen, hielt aber inne und blieb neben einem der Fenster stehen. Ihr Gesicht wirkte verhärmt.

»Mein Mann ist ein furchtbar eifersüchtiger Mensch.«

»Hat er mich deswegen kommen lassen?«

»Er hat Sie kommen lassen, weil ich ihn darum {10}gebeten habe. Ich möchte mein Bild zurück. Es ist das Einzige, was mir von Richard Chantry bleibt.«

Ich setzte mich auf die Armlehne eines Sessels und schlug mein Notizbuch wieder auf. »Würden Sie es mir bitte beschreiben?«

»Es ist das stilisierte Porträt einer relativ jungen Frau. Reine, leuchtende Farben nach indianischer Art. Sie hat strohblonde Haare und trägt einen rotschwarz gemusterten Umhang. In seiner Frühphase war Richard stark von indianischer Kunst beeinflusst.«

»Ist dies eins seiner frühen Gemälde?«

»Das weiß ich letzten Endes nicht. Der Mann, von dem ich es gekauft habe, konnte es nicht datieren.«

»Woher wissen Sie, dass es echt ist?«

»Ich glaube, ich erkenne einen Chantry, wenn ich ihn sehe. Außerdem hat der Händler sich für seine Echtheit verbürgt. Er war ein enger Freund Richards aus der Zeit in Arizona. Er ist erst vor kurzem hierher nach Santa Teresa gezogen. Sein Name ist Paul Grimes.«

»Haben Sie ein Foto von dem Gemälde?«

»Nein, aber Mr. Grimes hat eins. Er wird Ihnen sicherlich Einsicht gewähren. Er besitzt eine kleine Galerie in der Unterstadt.«

»Dann sollte ich als Erstes mit ihm sprechen. Kann ich Ihr Telefon benutzen?«

Sie führte mich in ein Zimmer, in dem ihr Mann an einem alten Rollschreibtisch aus Eichenholz saß. Im Gegensatz zu der glänzenden Teakholzvertäfelung der Wände war der Tisch alt und zerkratzt. Biemeyer wandte sich nicht um. Er starrte eine Luftaufnahme an, die über dem {11}Schreibtisch hing. Das Bild zeigte das größte Loch im Erdboden, das ich je gesehen hatte.

Voll wehmütigem Stolz sagte er: »Das war meine Kupfermine.«

»Ich habe dieses Bild immer gehasst«, sagte seine Frau. »Ich wünschte, du würdest es abhängen.«

»Der Mine verdankst du dieses Haus, Ruth.«

»Na, was für ein Segen. Hast du was dagegen, wenn Mr. Archer kurz das Telefon benutzt?«

»Ja. Und ob. Man wird doch wohl in einem Bau, für den man vierhunderttausend Dollar hingeblättert hat, irgendwo seine Ruhe haben dürfen.«

Er stand abrupt auf und verließ das Zimmer.

2

Ruth Biemeyer lehnte im Türrahmen und bot mir ihren Körper im Profil dar. Jung war er nicht mehr, aber das Tennis und vielleicht auch der Groll hielten ihn in Form.

»Ist Ihr Mann immer so drauf?«

»Nicht immer. Aber im Moment macht er sich Sorgen.«

»Um das verschwundene Bild?«

»Das ist auch ein Grund.«

»Was denn noch?«

»Vielleicht hat auch das mit dem Bild zu tun.« Sie zögerte. »Unsere Tochter Doris studiert an der Universität und verkehrt dort mit Leuten, die unserer Ansicht nach kein Umgang für sie sind. Sie wissen ja, wie das ist.«

{12}»Wie alt ist Doris?«

»Zwanzig. Sie ist im dritten Semester.«

»Und lebt bei Ihnen?«

»Leider nein. Doris ist vor einem Monat ausgezogen, zum Beginn des Herbstsemesters. Wir haben ihr eine Wohnung im Studentendorf besorgt, unweit des Campus. Ich hätte sie natürlich lieber hierbehalten, aber sie meinte, sie hätte ein Recht auf ihren eigenen Lebensstil, genau wie Jack und ich. Sie hat sich an Jacks Trinkgewohnheiten gestört. An meinen auch, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

»Nimmt Doris Drogen?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls nicht regelmäßig.« Sie wurde für einen Moment still, während sie sich das Leben ihrer Tochter auszumalen versuchte, das ihr offenbar nicht geheuer war. »Ich bin nicht gerade begeistert über einige der Leute, mit denen sie sich abgibt.«

»Haben Sie jemand Bestimmtes im Auge?«

»Es gibt da einen Jungen namens Fred Johnson, den sie schon mal mit nach Hause gebracht hat. Ein ziemlich in die Jahre gekommener Junge, er muss mindestens dreißig sein. Einer von diesen ewigen Studenten, die an der Uni hängenbleiben, weil ihnen die Atmosphäre gefällt – und die Möglichkeit, junge Mädchen abzuschleppen.«

»Haben Sie ihn in Verdacht, Ihr Bild gestohlen zu haben?«

»So weit würde ich nicht gehen wollen. Aber er interessiert sich für Kunst. Er macht Führungen im {13}Kunstmuseum und besucht Kunstseminare am College. Mit Richard Chantrys Namen war er vertraut, ja er schien sogar recht gut über ihn Bescheid zu wissen.«

»Müsste man nicht annehmen, dass das für alle hiesigen Kunststudenten gilt?«

»Zugegeben. Doch Fred Johnsons Interesse an diesem Bild war außerordentlich groß.«

»Können Sie mir diesen Fred Johnson näher beschreiben?«

»Ich will’s versuchen.«

Ich schlug erneut mein Notizbuch auf und stützte mich auf den Rollschreibtisch. Sie saß im Drehstuhl, mir zugewandt.

»Haarfarbe?«

»Rötlich blond. Er trägt die Haare ziemlich lang. Oben am Scheitel sind sie schon ein bisschen ausgedünnt. Aber das macht er durch seinen Schnurrbart wett, so eine richtig breite Bürste. Seine Zähne sind nicht besonders gut. Seine Nase ist zu lang.«

»Welche Augenfarbe? Blau?«

»Eher grünlich. Seine Augen sind das, was mich wirklich stört. Er sieht einen nie direkt an, jedenfalls mich nicht.«

»Groß oder klein?«

»Mittel. Einsfünfundsiebzig, würde ich schätzen. Recht schlank. Im Großen und Ganzen sieht er nicht schlecht aus, wenn man den Typ mag.«

»Und Doris mag den Typ?«

»Ich fürchte, ja. Ihr gefällt dieser Fred Johnson mehr, als mir lieb ist.«

{14}»Und Fred gefiel das verschwundene Bild?«

»Es hat ihm mehr als nur gefallen. Es schlug ihn völlig in den Bann. Er hat dem Bild viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als meiner Tochter. Ich hatte fast den Eindruck, dass er wegen des Bildes gekommen war, nicht wegen Doris.«

»Hat er sich irgendwie darüber geäußert?«

Sie zögerte. »Er meinte, es sähe so aus wie eins von Richard Chantrys Erinnerungsbildern. Ich habe ihn natürlich gefragt, was das heißen soll. Er sagte, es sei wahrscheinlich eins von mehreren Chantrys, die nicht nach einem Modell gemalt wurden, sondern nach der Erinnerung. Er schien der Ansicht zu sein, dass es dadurch an Exklusivität und Wert gewinnt.«

»Hat er über den Wert gesprochen?«

»Er hat mich gefragt, wie viel ich dafür bezahlt hätte. Ich hab’s ihm nicht verraten – das ist mein eigenes kleines Geheimnis.«

»Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben.«

»Und bei mir erst.« Sie zog die oberste Schublade des Rollschreibtisches auf und entnahm ihr ein örtliches Telefonbuch. »Sie wollten Paul Grimes anrufen, nicht wahr? Sie können sich aber jeden Versuch sparen, ihm den Preis zu entlocken. Ich habe ihn zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet.«

Ich notierte mir die Telefonnummer des Händlers und seine Adresse in der Unterstadt. Dann wählte ich die Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich, sie klang kehlig, exotisch. Sie sagte, Grimes sei momentan mit einem Kunden beschäftigt, hätte aber in Kürze Zeit für {15}mich. Ich nannte ihr meinen Namen und sagte, ich würde später vorbeischauen.

Ruth Biemeyer flüsterte mir eindringlich ins freie Ohr: »Sagen Sie ihr nichts von mir.«

Ich legte auf. »Wer ist denn das?«

»Ich glaube, sie heißt Paola. Sie bezeichnet sich als seine Sekretärin. Es würde mich aber nicht wundern, wenn ihre Beziehung intimerer Natur wäre.«

»Ihr Akzent, wo kommt der her?«

»Arizona. Ich glaube, sie hat einiges indianisches Blut in den Adern.«

Ich warf einen Blick auf das Foto von dem Loch, das Jack Biemeyer in die Landschaft von Arizona gebohrt hatte. »Dieser Fall entwickelt einen auffälligen Lokalbezug. Sagten Sie nicht, dass auch Richard Chantry von dort stammt?«

»Ja, das ist richtig. Wir alle kommen von dort. Sind aber alle hier in Kalifornien gelandet.«

Sie sagte das ganz nüchtern, ohne Wehmut für den Staat, den sie verlassen hatte, und ohne Begeisterung für den Staat, in dem sie jetzt lebte. Sie klang wie eine enttäuschte, desillusionierte Frau.

»Warum sind Sie nach Kalifornien gekommen, Mrs. Biemeyer?«

»Sie wollen mit dieser Frage wahrscheinlich auf etwas hinaus, was mein Mann vorhin gesagt hat: dass dies Richards Stadt sei, oder gewesen sei, und ich mich nur aus diesem Grund hier niederlassen wollte.«

»Ist es wahr?«

»Wahrscheinlich ist ein bisschen was dran. Richard {16}war der einzige gute Maler, mit dem ich jemals näher bekannt war. Er hat mir buchstäblich die Augen geöffnet. Mir gefiel die Vorstellung, dort zu leben, wo er seine besten Werke schuf. Er schuf sie alle binnen sieben Jahren, und dann verschwand er.«

»Wann war das?«

»Wenn Sie das genaue Datum wissen wollen: Es war der 4. Juli 1950

»Sind Sie sicher, dass er aus eigenem Antrieb verschwunden ist? Er wurde nicht womöglich ermordet oder entführt?«

»Das kann nicht sein. Er hat doch seiner Frau einen Brief hinterlassen.«

»Lebt sie noch in der Stadt?«

»Und ob. Sie können sogar ihr Haus von diesem Grundstück aus sehen. Es liegt gegenüber auf der anderen Seite der Barranca.«

»Kennen Sie sie?«

»Früher, in unserer Jugend, war ich ganz gut mit Francine bekannt. Wir haben uns aber nie besonders nahegestanden. Seit wir hierhergezogen sind, habe ich sie kaum noch gesehen. Warum fragen Sie?«

»Ich würde mir den Brief, den ihr Mann hinterlassen hat, gern mal ansehen.«

»Ich habe ein Faksimile. Das kann man im Kunstmuseum kaufen.«

Sie ging aus dem Zimmer und kehrte mit dem Brief zurück. Er war in Silber gerahmt. Sie stand vor mir, ihre Lippen bewegten sich, als betete sie ihn sich noch einmal vor.

{17}Dann trennte sie sich davon. Bis auf die Unterschrift war der Brief mit Maschine geschrieben und auf den 4. Juli 1950 in Santa Teresa datiert.

Liebe Francine!

Dies ist ein Abschiedsbrief. Es bricht mir das Herz, Dich zu verlassen, doch mir bleibt keine Wahl. Oft schon haben wir darüber gesprochen, dass ich zu neuen Horizonten aufbrechen muss, um jenes Licht zu finden, das mir bislang weder an Land noch auf See beschieden war. Diese liebliche Küste hat mir, wie einst auch Arizona, alles offenbart, was sie zu offenbaren hatte.

Genau wie Arizona ist auch diese Gegend hier zu jung, hat zu wenig Geschichte, um das große Werk zu befördern, für das ich geschaffen bin. So muss ich denn anderswo nach tieferen Wurzeln suchen, nach einer abgründigeren Dunkelheit, einem durchdringenderen Licht. Und wie Gauguin habe ich beschlossen, dass ich allein auf die Suche gehen muss. Denn nicht nur die physische Welt gilt es zu erforschen, sondern ebenso die verborgenen Kammern und Stollen meiner Seele.

Ich nehme nichts mit auf meinen Weg als die Kleider, die ich am Leibe trage, mein Talent und meine Erinnerungen. Ich bitte Dich, meine liebe Frau, und Euch, teure Freunde, behaltet mich in liebevoller Erinnerung. Ich folge nur meiner Bestimmung.

Richard Chantry

{18}Ich gab Ruth Biemeyer den gerahmten Brief zurück. Sie drückte ihn an sich. »Ein wunderschöner Brief, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht recht. Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Für Chantrys Frau muss es ein gehöriger Schock gewesen sein.«

»Sie scheint ihn sehr gut verwunden zu haben.«

»Haben Sie je mit ihr darüber gesprochen?«

»Nein.« Dem scharfen, kurz angebundenen Ton entnahm ich, dass sie und Mrs. Chantry wirklich keine Freundinnen waren. »Aber sie scheint den ererbten Ruhm durchaus zu genießen. Ganz zu schweigen von dem Geld, das er ihr hinterlassen hat.«

»War Chantry womöglich lebensmüde? Hat er je von Selbstmord gesprochen?«

»Nein, wo denken Sie hin.« Nach kurzem Schweigen fügte sie jedoch hinzu: »Sie müssen bedenken, dass ich Richard gekannt habe, als er noch sehr jung war. Ich selber war sogar noch jünger. Seit über dreißig Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen oder gesprochen. Und trotzdem habe ich ganz stark das Gefühl, dass er noch am Leben ist.«

Sie legte ihre Hand auf die Brust, als wolle sie andeuten, dass er zumindest dort noch sehr lebendig sei. Kleine Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie wischte sie beiseite.

»Ich fürchte, all dies macht mir ein wenig zu schaffen. Plötzlich überfällt einen die Vergangenheit von neuem. Und dabei dachte ich, dass ich sie endlich unter Kontrolle hätte. Geht Ihnen das auch manchmal so?«

{19}»Tagsüber nicht so sehr. Eher nachts, kurz vor dem Einschlafen –«

»Sind Sie nicht verheiratet?« Sie war eine Frau von rascher Auffassungsgabe.

»War ich, vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren.«

»Lebt Ihre Frau noch?«

»Das will ich hoffen.«

»Haben Sie keine Erkundigungen angestellt?«

»Seit längerem nicht mehr. Ich erfahre lieber etwas über andere Leute. Im Moment würde ich mich zum Beispiel gern mit Mrs. Chantry unterhalten.«

»Ich wüsste nicht, warum das nötig sein sollte.«

»Trotzdem möchte ich einen Versuch wagen. Sie kann mir vielleicht ein paar Hintergründe liefern.«

Die Gesichtszüge der Frau wurden starr vor Missbilligung. »Aber ich will nichts weiter von Ihnen, als dass Sie mir mein Bild wiederbeschaffen.«

»Anscheinend möchten Sie mir außerdem vorschreiben, wie ich das anzustellen habe, Mrs. Biemeyer. Ich habe schon einige Male versucht, auf derartige Kundenwünsche einzugehen, aber es ist nie viel dabei herausgekommen.«

»Warum wollen Sie mit Francine Chantry sprechen? Wir sind nicht gerade mit ihr befreundet, wissen Sie.«

»Und ich soll nur mit Ihren Freunden sprechen?«

»So habe ich das nicht gemeint.« Sie schwieg einen Moment. »Sie haben die Absicht, mit einer ganzen Reihe von Leuten zu sprechen, nicht wahr?«

»Mit so vielen wie nötig. Dieser Fall scheint mir ein bisschen komplizierter zu sein, als Sie glauben. Könnte {20}sein, dass ich mehrere Tage daran zu arbeiten habe, was Sie wiederum mehrere hundert Dollar kosten könnte.«

»Sie zweifeln doch wohl nicht an unserer Zahlungsfähigkeit.«

»Keineswegs. Ich bin mir nur nicht völlig darüber im Klaren, welche Absichten Sie und Ihr Mann verfolgen.«

»Keine Sorge, ich werde Sie bezahlen, falls er es nicht tut.«

Sie führte mich nach draußen und zeigte mir das Haus der Chantrys. Es war ein Anwesen im neospanischen Stil, mit Ecktürmchen und diversen Nebengebäuden, darunter einem großen Gewächshaus. Es lag erheblich tiefer als das Biemeyer-Gelände, auf der anderen Seite der Barranca, eines Einschnitts, der die beiden Grundstücke wie eine klaffende Wunde voneinander trennte.

3

Ich kurvte zu der Brücke hinunter, die über die Barranca führte, und hielt kurz darauf vor dem Anwesen der Chantrys. Ein kräftig gebauter Mann mit Hakennase und im weißen Seidenhemd öffnete die Tür, noch bevor ich anklopfen konnte. Er trat nach draußen und zog die Tür wieder hinter sich zu.

»Was kann ich für Sie tun?« Ton und Benehmen waren die eines arroganten Butlers.

»Ich hätte gern Mrs. Chantry gesprochen.«

»Sie ist nicht da. Ich kann aber gern etwas ausrichten.«

{21}»Ich möchte sie persönlich sprechen.«

»Worum geht es?«

»Auch das würde ich ihr gern persönlich mitteilen, wenn Sie mir sagen, wo sie ist.«

»Ich nehme an, im Museum. Heute wäre der übliche Tag dafür.«

Ich beschloss, unterwegs dem Händler Paul Grimes einen Besuch abzustatten. Dazu fuhr ich an der Küste entlang in Richtung Unterstadt. Weiße Segel waren auf dem Wasser zu sehen, und wie deren Gegenstücke im Kleinformat segelten Möwen und Schwalben durch die Lüfte. Vor einem Motel mit Blick auf den Hafen hielt ich kurz entschlossen und nahm mir ein Zimmer.

Die heruntergekommene Unterstadt erstreckte sich vom Wasser aus etwa zehn Häuserblocks weit den Hügel hinauf. Heruntergekommene Menschen stromerten über die Hauptstraße oder lungerten vor den zahlreichen Trödelläden herum.

Paul Grimes’ Galerie lag einen Block von der Hauptstraße entfernt zwischen einem Spirituosenhandel und einem afroamerikanischen Restaurant. Besonders eindrucksvoll war sie nicht – der Putz bröckelte von den Wänden, und über dem Verkaufsraum befand sich im ersten Stock anscheinend eine kleine Wohnung. Quer über das Schaufenster stand in goldenen Lettern Paul Grimes – Gemälde und Innendekoration. Ich stellte mein Auto auf dem Grünstreifen vor dem Haus ab.

Eine Glocke bimmelte, als ich eintrat. Der Innenraum war mit überstrichenen Spanplatten und grauen Stoffbehängen ausgekleidet. Daran hingen einige unfertig {22}wirkende Bilder. Hinter einem billigen Schreibtisch saß eine Frau mit dunklem Teint in einem losen bunten Kleid und tat sehr beschäftigt.

Sie hatte tiefschwarze Augen, markante Wangenknochen und markante Brüste. Ihr langes Haar war glänzend schwarz. Sie war sehr attraktiv und noch recht jung.

Ich nannte ihr meinen Namen. »Mr. Grimes erwartet mich.«

»Tut mir leid, er musste noch einmal weg.«

»Wann wird er zurück sein?«

»Das hat er nicht gesagt. Soviel ich weiß, hat er auswärts etwas zu erledigen.«

»Sind Sie seine Sekretärin?«

»So könnte man es nennen.« Ihr Lächeln blitzte auf wie ein gezücktes Messer. »Waren Sie das, der vorhin angerufen hat, weil er sich für ein Bild interessierte?«

»Ja.«

»Ich kann Ihnen ein paar zeigen.« Sie deutete auf die ausgestellten Werke. »Diese hier sind größtenteils ziemlich abstrakt, aber hinten haben wir noch einige gegenständliche Bilder.«

»Haben Sie irgendwelche Gemälde von Richard Chantry?«

»Ich glaube nicht. Nein.«

»Mr. Grimes hat ein Gemälde von Chantry an ein Ehepaar namens Biemeyer verkauft. Diese Leute meinten, Sie könnten mir ein Foto des Gemäldes zeigen.«

»Davon weiß ich nichts.«

Um ihre Ratlosigkeit zu unterstreichen, kehrte sie {23}die Innenflächen ihrer Hände nach oben, wobei ihre weiten Ärmel ein Stück nach unten rutschten. Haarflaum bedeckte ihre rundlichen braunen Arme wie ein Schleier.

»Können Sie mir Mr. Grimes’ Privatadresse geben?«

»Er wohnt im ersten Stock. Aber er ist nicht da.«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Kann ich nicht sagen. Manchmal ist er eine ganze Woche lang unterwegs. Er sagt mir nicht, wo er hinfährt, und ich frage ihn nicht danach.«

Ich bedankte mich und ging eine Tür weiter in den Spirituosenladen. Hinterm Tresen stand ein Schwarzer mittleren Alters, der mich fragte, ob er mir behilflich sein könne.

»Das hoffe ich doch. Kennen Sie Mr. Grimes?«

»Wen?«

»Paul Grimes, den Kunsthändler von nebenan.«

»Älterer Mann mit grauem Ziegenbart?« Er deutete mit den Fingern einen Spitzbart an. »Trägt einen weißen Sombrero?«

»Das klingt nach Mr. Grimes.«

Er schüttelte den Kopf. »Kann nicht behaupten, dass ich ihn kenne. Ich glaube nicht, dass er trinkt. Hab jedenfalls noch keine Geschäfte mit ihm gemacht.«

»Was ist mit seiner Freundin?«

»Die ist ein- oder zweimal hier gewesen und hat ein Sechserpack gekauft. Paola heißt sie, glaube ich. Ob die indianisches Blut hat, was meinen Sie?«

»Würde mich nicht wundern.«

»Dacht ich mir doch.« Die Vorstellung schien ihm {24}zuzusagen. »Sieht richtig heiß aus, das Mädchen. Möchte mal wissen, wie ein Mann in seinem Alter an so eine Braut kommt.«

»Tja, das möchte ich auch wissen. Mich würde außerdem interessieren, wann Mr. Grimes wieder zurück ist.« Ich legte zwei Dollarscheine auf den Tresen zwischen uns und eine meiner Visitenkarten obendrauf. »Dürfte ich mich noch mal bei Ihnen melden?«

»Warum nicht?«

Ich fuhr die Hauptstraße entlang zu dem schlichten weißen Gebäude hinauf, in dem das Kunstmuseum untergebracht war. Der freundlich lächelnde junge Mann am Drehkreuz teilte mir mit, dass Fred Johnson das Haus vor etwa einer Stunde verlassen habe.

»Wollten Sie ihn in einer persönlichen Angelegenheit sprechen? Oder hat Ihr Anliegen mit dem Museum zu tun?«

»Wie ich höre, interessiert er sich für den Maler Richard Chantry.«

Sein Lächeln legte noch einmal an Strahlkraft zu. »Das tun wir alle hier. Kommen Sie von außerhalb, Sir?«

»Los Angeles.«

»Haben Sie unsere ständige Chantry-Ausstellung gesehen?«

»Noch nicht.«

»Dann sind Sie genau zur rechten Zeit gekommen, Sir. Mrs. Chantry ist gerade da. Sie beehrt uns jede Woche für einen Nachmittag.«

Durch eine Abteilung mit klassischen Skulpturen, die in bleicher Abgeklärtheit die Stellung hielten, führte er {25}mich in einen gänzlich andersgearteten Raum. Die ersten Bilder, die ich mir ansah, wirkten wie Fenster in eine andere Welt, wie wenn Urwaldreisende wilde Tiere bei Nacht hinter Glas beobachten. Die Tiere auf Chantrys Gemälden schienen sich freilich jeden Moment in Menschen zu verwandeln. Oder waren es Menschen, die sich in Tiere zurückverwandelten?

Eine Frau näherte sich von hinten und beantwortete meine unausgesprochene Frage.

»Was Sie da sehen, sind die sogenannten Schöpfungsbilder – des Künstlers ureigene Vorstellung von der Evolution. Sie stammen aus seiner ersten großen Schaffensphase. So unglaublich es klingen mag: Er hat all diese Bilder innerhalb von nur sechs Monaten gemalt.«

Ich drehte mich zu der Frau um. Trotz ihres konservativen dunkelblauen Kostüms und der etwas gestelzten Redeweise vermittelte sie einen Eindruck von urwüchsiger Kraft. Ihre leicht angegrauten, tadellos frisierten Haare sprühten vor Vitalität.

»Sind Sie Mrs. Chantry?«

»Ja.« Anscheinend freute es sie, erkannt zu werden. »Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Ich gebe heute Abend eine Party. Aber es fällt mir so schwer, dem Museum an meinem speziellen Tag fernzubleiben.«

Sie führte mich quer durch den Raum zu einer Wand, an der einige weibliche Aktstudien hingen. Eine davon erregte meine Aufmerksamkeit. Eine junge Frau saß auf einem Felsen, der, ebenso wie sie selbst, zum Teil von einem um ihre Hüfte geschlungenen Büffelfell verdeckt war. Ihre wohlgeformten Brüste und Schultern waren {26}nackt. Hinter und über ihr hing frei schwebend der Kopf eines Bisonbullen.

»Er hat es Europa genannt«, sagte Mrs. Chantry.

Ich musterte sie. Sie lächelte. Dann sah ich mir noch einmal das Mädchen auf dem Bild an.

»Sind Sie das?«

»In gewisser Weise. Ich habe öfter Modell gesessen für Richard.«

Wir betrachteten einander etwas genauer. Sie war ungefähr in meinem Alter, vielleicht etwas jünger, und der Körper der Europa machte noch immer eine gute Figur in dem blauen Kostüm. Ich fragte mich, was sie wohl antrieb, welche Art von Stolz auf ihren Mann oder auf sich selbst, sich als Museumsführerin für seine Bilder zur Verfügung zu stellen.

»Hatten Sie schon einmal Bilder von ihm gesehen? Sie wirkten eben recht erstaunt.«

»Stimmt. Ich staune immer noch.«

»Sein Werk hat diese Wirkung auf die meisten Menschen, die zum ersten Mal damit konfrontiert werden. Wollen Sie mir verraten, wodurch Ihr Interesse geweckt wurde?«

Ich sagte ihr, ich sei Privatdetektiv und von den Biemeyers engagiert worden, um den Diebstahl ihres Gemäldes aufzuklären. Ich war gespannt auf ihre Reaktion.

Sie wurde blass unter ihrem Make-up. »Die Biemeyers haben keine Ahnung. Das Bild, das sie von Paul Grimes gekauft haben, ist eine Fälschung. Er hat es auch mir angeboten, lange bevor sie es zu Gesicht bekommen haben. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Da wird {27}ganz offensichtlich ein Stil imitiert, den Richard schon vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte.«

»Vor wie langer Zeit?«

»Bestimmt dreißig Jahre. So hat er damals in Arizona gemalt. Vielleicht hat Paul Grimes es selbst verbrochen.«

»Hat Grimes einen so schlechten Ruf, dass Sie ihm das zutrauen würden?«

Jetzt hatte ich eine Frage zu viel gestellt.

»Es steht mir nicht zu, seinen Ruf mit Ihnen oder sonst wem zu erörtern. Er war Richards Freund und Lehrer, damals in Arizona.«

»Aber nicht Ihr Freund?«

»Dazu möchte ich mich nicht näher äußern. Paul war meinem Mann eine große Hilfe, als es darauf ankam. Aber die Menschen verändern sich mit den Jahren. Alles verändert sich.« Sie blickte sich um und betrachtete die Gemälde ihres Mannes, als wären sogar sie ihr plötzlich fremd geworden, wie verblassende Träume. »Ich versuche, den Ruf meines Mannes zu schützen, sein Œuvre rein zu erhalten. Alle möglichen Leute versuchen, aus seinem Werk Kapital zu schlagen.«

»Könnte auch Fred Johnson zu diesen Leuten gehören?«

Die Frage schien sie zu überraschen. Sie schüttelte so entschieden den Kopf, dass ihre Haare wie eine graue Glocke wippten.

»Fred ist vom Werk meines Mannes fasziniert. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich daran bereichern will.« Sie war für einen Moment still. »Hat Ruth {28}Biemeyer ihn beschuldigt, ihr elendes Gemälde gestohlen zu haben?«

»Sein Name fiel.«

»Also das ist Unsinn. Selbst wenn er unehrlich wäre, wofür ich keine Anzeichen sehe, hätte Fred einen viel zu guten Geschmack, um auf eine so klägliche Imitation hereinzufallen.«

»Ich würde mich trotzdem gern mit ihm unterhalten. Wissen Sie zufällig, wo er wohnt?«

»Ich kann mal nachschauen.« Sie ging ins Büro und kehrte wenig später mit einem Zettel zurück. »Fred wohnt bei seinen Eltern in der Olive Street 2024. Fassen Sie ihn nicht zu hart an. Er ist ein empfindsamer junger Mann und ein ganz großer Chantry-Verehrer.«

Ich bedankte mich für die Information. Sie bedankte sich für mein Interesse an ihrem Mann. Es schien eine vielschichtige Rolle zu sein, die sie da spielte: Sie pries das Werk ihres Mannes an, war Hüterin eines Schreins, und dann war da auch noch etwas anderes. Unwillkürlich begann ich zu spekulieren, ob dieses undefinierbare Etwas mit der erotischen Forschheit einer ausgehungerten Witwe zu tun haben könnte.

4

Das Haus der Johnsons gehörte zu einem Block dreigeschossiger Giebelhäuser, die nach meiner Schätzung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden sein mussten. Die Olivenbäume, denen die Straße ihren {29}Namen verdankte, waren sogar noch älter. Ihre Blätter sahen im Licht der Nachmittagssonne wie angelaufener Silberschmuck aus.

Ich befand mich hier in einem recht gemischten Viertel mit Pensionen und privaten Wohnhäusern, Arztpraxen und Gebäuden, die teils als Wohnung, teils als Büro genutzt wurden. Mittendrin ragte ein großes modernes Krankenhaus, das mit seinen vielen Fenstern an eine riesige Bienenwabe erinnerte, aus seiner Umgebung empor, deren ganze Energie es auszusaugen schien.

Besonders kraftlos und heruntergekommen präsentierte sich das Holzhaus der Johnsons. Etliche Bretter hatten sich gelockert, ein neuer Anstrich war überfällig. Wie ein graues Gespenst von einem Haus hockte es in einem Garten, der an verbranntem Gras und vertrocknetem Unkraut zu ersticken drohte.

Die rostige Fliegentür rasselte, als ich mit der Faust dagegenklopfte. Langsam, eher widerstrebend, schien das Haus zum Leben zu erwachen. Ich hörte, wie jemand mit schleppenden Schritten die Treppe aus dem ersten Stock herunterkam.

Ein korpulenter alter Mann öffnete die Haustür und sah mich durch das Drahtgitter prüfend an. Er hatte schmutzige graue Haare und einen grauen Dreitagebart, der wie von Motten zerfressen aussah. Seine Stimme klang mürrisch.

»Was gibt’s?«

»Ich hätte gern Fred gesprochen.«

»Weiß gar nicht, ob er da ist. Hab grad ein kleines Nickerchen gemacht.« Er beugte sich vor, das Gesicht {30}ans Fliegengitter gelehnt, ich konnte den Wein in seinem Atem riechen. »Was wollen Sie denn von Fred?«

»Mich einfach nur mit ihm unterhalten.«

Seine kleinen roten Augen musterten mich von oben bis unten. »Und worüber wollen Sie sich mit ihm unterhalten?«

»Das würde ich Fred gern persönlich sagen.«

»Sagen Sie’s lieber mir. Mein Sohn ist ein vielbeschäftigter junger Mann. Seine Zeit ist gutes Geld wert. Fred ist ein anerkannter Experte« – er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen –, »und das ist noch mehr Geld wert.«

Ich hatte den Eindruck, dass dem Alten der Wein ausgegangen war und er mich jeden Moment anpumpen wollte. Eine Frau in Krankenschwesterntracht kam jetzt hinter der Treppe hervor. Sie trug eine gewisse, wenn auch plumpe Autorität vor sich her, doch ihre Stimme war dünn und mädchenhaft.

»Ich werde mit dem Mann reden, Gerard. Du musst deinen armen Kopf nicht mit Freds Angelegenheiten belasten.«

Sie legte ihre Hand auf seine filzige Wange, blickte ihm scharf in die Augen, als gälte es, eine Diagnose zu stellen, und gab ihm zum Abschluss einen kleinen Klaps, dann war er entlassen. Er erhob keinen Widerspruch, ging gehorsam zur Treppe und verzog sich zurück nach oben.

»Ich bin Mrs. Johnson«, sagte sie zu mir. »Freds Mutter.«

Sie hatte schwarze, von grauen Strähnen durchzogene Haare, glatt nach hinten aus einem Gesicht gekämmt, {31}in dem, genau wie bei ihrem Mann, jede Spur gelebten Lebens, jeder Ausdruck unter einer trägen Fleischschicht begraben war. Ihr massiger Körper wurde immerhin von einem strengen Mieder gebändigt, und die weiße Schwesterntracht war sauber.

»Ist Fred da?«

»Ich glaube nicht.« Sie blickte an mir vorbei auf die Straße. »Jedenfalls sehe ich das Auto nicht.«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Schwer zu sagen. Fred studiert an der Universität.« Sie sagte dies, als sei er ihr ganzer Stolz. »Seine Seminare werden ständig auf andere Zeiten verlegt, und außerdem arbeitet er nebenbei noch im Kunstmuseum. Die sind dort wirklich sehr auf ihn angewiesen. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

»Möglich. Wär’s Ihnen recht, wenn ich reinkomme?«

»Ich komme lieber nach draußen«, sagte sie aufgeräumt. »Das Haus ist von drinnen nicht vorzeigbar. Seit ich wieder Vollzeit als Krankenschwester arbeite, habe ich keine Zeit mehr, es in Ordnung zu halten.«

Sie zog einen schweren Schlüssel aus der Innenseite des Schlüssellochs und schloss, nachdem sie nach draußen getreten war, die Tür hinter sich zu. Ich fragte mich, ob sie ihren Mann wohl immer hinter Schloss und Riegel sperrte, wenn er getrunken hatte.

Sie führte mich von der Veranda hinunter und blickte an der abblätternden Hausfassade hinauf. »Von außen ist es auch nicht viel besser. Aber was will man machen. Das Haus gehört der Klinik, wie alle Häuser hier – nächstes Jahr wird man sie abreißen. Diese ganze Straßenseite {32}soll zu einem riesigen Parkplatz werden.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht, wo wir dann bleiben sollen, wo doch die Mieten immer weiter steigen und mein Mann praktisch invalide ist.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Das mit Jerry, meinen Sie? Ja, mir tut das auch leid. Früher war er ein wirklich stattlicher Mann. Aber vor einiger Zeit hatte er einen Nervenzusammenbruch – kommt alles noch vom Krieg –, und seitdem ist er nicht mehr der Alte. Außerdem hat er natürlich ein Alkoholproblem. Wie so viele von denen«, fügte sie nachdenklich hinzu.

Mir gefiel die Offenherzigkeit der Frau, auch wenn sie etwas Übergriffiges hatte. Wie kam es wohl, überlegte ich müßig, dass so viele Krankenschwestern einen invaliden Mann zu Hause hatten?

»Was ist denn Ihr Problem?«, fragte sie in verändertem Ton.

»Es gibt kein Problem. Ich möchte einfach nur mit Fred sprechen.«

»Worüber?«

»Ein Bild.«

»Ah ja, natürlich, das ist sein Fachgebiet. Über Bilder kann Fred Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wollen.« Doch ganz plötzlich, als bekäme sie es mit der Angst zu tun, ließ sie das Thema wieder fallen, und mit abermals veränderter, jetzt zögernd zaghafter Stimme fragte sie: »Ist Fred irgendwie in Schwierigkeiten?«

»Ich hoffe nicht, Mrs. Johnson.«

»Ich auch nicht. Fred ist ein guter Junge. War er schon {33}immer. Ich sollte es wissen, immerhin bin ich seine Mutter.« Sie richtete einen langen, zweifelnden Blick auf mich. »Sind Sie von der Polizei?«

Ich war in jüngeren Jahren Polizist gewesen, und wer einen Blick dafür hatte, konnte mir das offenbar noch immer ansehen. Aber ich hatte eine geeignete Story parat: »Ich bin Journalist. Ich würde gern einen Zeitschriftenartikel über den Künstler Richard Chantry schreiben.«

Gesicht und Körper der Frau waren plötzlich angespannt, als wappneten sie sich gegen eine drohende Gefahr. »Aha.«

»Wie ich höre, ist Ihr Sohn ein Experte, was Chantry betrifft.«

»Darüber weiß ich nichts«, antwortete sie. »Fred interessiert sich für ganz verschiedene Künstler. Er will das zu seinem Beruf machen.«

»Als Kunsthändler?«

»Das würde er gern werden. Aber dafür braucht man Kapital. Und uns gehört noch nicht einmal das Haus, in dem wir wohnen.«

Sie ließ ihren Blick über die graue Fassade schweifen, als wäre sie die Ursache all ihrer Probleme. An einem Fenster hoch unter dem Dach stand ihr Mann und beobachtete uns wie aus einem Gefängnisturm. Sie stemmte die offene Hand nach vorn, wie eine Kugelstoßerin. Johnson zog sich ins Halbdunkel des Zimmers zurück.

»Der Gedanke verfolgt mich«, sagte sie, »dass er eines Tages aus einem dieser Fenster stürzt. Der arme Kerl ist nie über seine Kriegsverletzungen hinweggekommen. {34}Manchmal, wenn es ganz schlimm kommt, schlägt er der Länge nach hin. Ich frage mich oft, ob ich ihn nicht wieder ins Veteranenkrankenhaus stecken sollte. Aber ich bringe es einfach nicht übers Herz. Hier bei uns ist er so viel glücklicher. Fred und ich würden ihn wirklich vermissen. Und Fred ist ein Junge, der seinen Vater braucht.«

Ihre Worte klangen gefühlvoll, aber die Stimme, mit der sie sie aussprach, war völlig emotionslos. Ihr kalter Blick bohrte sich in meine Augen, um meine Reaktion abzuschätzen. Ich vermutete, dass sie Angst um ihren Sohn hatte und daher versuchte, mir eine Familienidylle vorzugaukeln.

»Wissen Sie, wo ich Fred finden kann?«

»Nein, keine Ahnung. Vielleicht auf dem Campus, aber er könnte auch im Kunstmuseum sein oder sonst wo in der Stadt. Er ist ein vielbeschäftigter junger Mann, immer unterwegs. Im nächsten Frühjahr macht er sein Examen, wenn alles gutgeht. Und es wird bestimmt gutgehen.«

Sie nickte mehrmals nachdrücklich. Mir schien jedoch etwas Verzweifeltes darin zu liegen, so als renne sie mit dem Kopf gegen die Wand.

Wie aufs Stichwort kam in diesem Moment eine alte blaue Ford-Limousine am Krankenhaus vorbei die Straße entlang. Sie wurde langsamer, als sie sich uns näherte, steuerte auf den Bordstein hinter meinem Wagen zu. Der junge Mann am Lenkrad hatte lange Haare und einen Schnurrbart, beides rötlich blond.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Mrs. Johnson eine leise, kaum merkliche Kopfbewegung machte. {35}Die Augen des jungen Mannes flackerten auf. Bevor er noch ganz zum Halten gekommen war, lenkte er den Ford zurück auf die Straße, wobei er meinen linken hinteren Kotflügel nur knapp verfehlte. Träge, eine üble Rauchwolke hinter sich herziehend, beschleunigte der Wagen.

»War das Fred, Mrs. Johnson?«

Sie antwortete nach kurzem Zögern. »Ja, das war Fred. Ich weiß gar nicht, wo er jetzt noch hinwill.«

»Sie haben ihm ein Zeichen gegeben, nicht zu halten.«

»Ich? Das müssen Sie sich eingebildet haben.«

Ich ließ sie stehen, sprang in mein Auto und folgte dem blauen Ford. An der Ausfahrt zum Freeway fuhr er bei Dunkelgelb über die Ampel und bog rechts ab in Richtung Universität. Ich musste ewig bei Rot warten und beobachtete, wie die Auspuffgase sich verflüchtigten und in dem Smog aufgingen, der über diesem Teil der Stadt lag.

Als die Ampel endlich umsprang, fuhr ich hinaus zum Campus, wo Freds Freundin Doris Biemeyer wohnte.

5

Die Universität war auf einer weit ins Meer hinausragenden Landzunge erbaut worden, an deren Sockel die Gezeiten nagten. Fast ganz von Wasser umgeben und von einem blauen Dunstschleier weichgezeichnet, sah sie von weitem aus wie eine mittelalterliche Festungsstadt.

{36}Beim Näherkommen aber verflüchtigten sich alle romantischen Assoziationen. Halbherzig modern kamen die Gebäude daher, Würfel und Quader, die den Eindruck vermittelten, ihr Architekt habe sein Leben lang nichts als Geschäftsgebäude entworfen. Der Parkwächter am Eingang teilte mir mit, dass das Studentendorf sich am nördlichen Ende befinde.

Ich kurvte am Rande des Campus entlang und hielt Ausschau nach Fred Johnson. Es waren nicht viele Studenten zu sehen. Dennoch wirkte das Ganze überfüllt und unruhig, wie auf eine Landkarte hingeworfen, in der Hoffnung, dass es schon irgendwie haftenbleiben würde.

Das angrenzende Studentendorf wirkte noch zusammengewürfelter als der Campus. Streunende Hunde und streunende Studenten bevölkerten die engen Straßen. Von Hamburgerbuden über winzige Hütten bis hin zu Doppelhäusern und riesigen Apartmentblocks war baulich alles vertreten. Das Sherbourne, in dem Doris Biemeyer wohnte, gehörte zu den größeren Exemplaren. Es hatte sechs Stockwerke und nahm fast einen ganzen Block ein.

Ich fand einen Parkplatz hinter einem bemalten Wohnanhänger, der aussah wie eine Blockhütte auf Rädern. Keine Spur von dem alten blauen Ford. Ich betrat das Sherbourne und fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock.

Das Gebäude war noch recht neu, innen aber roch es gammelig. Die Ausdünstungen der rasch wechselnden Bewohner hatten sich bereits festgesetzt, Schweiß, {37}Parfüm, Dope und Gewürze hingen schwer in der Luft. Menschliche Stimmen gab es nicht, oder aber sie wurden von der Musik übertönt, die aus mehreren Wohneinheiten gleichzeitig drang wie die einander ins Wort fallenden Stimmen einer multiplen Persönlichkeit.

Ich klopfte mehrmals an die Tür des Apartments 304. Das junge Mädchen, das mir schließlich öffnete, sah aus wie eine etwas kleinere Nachbildung der Mutter, hübscher zwar, aber mit weniger Persönlichkeit, weniger Selbstbewusstsein.

»Miss Biemeyer?«

»Ja?«

Ihre Augen blickten an mir vorbei auf etwas, das sich knapp hinter meiner linken Schulter befand. Ich machte, schon auf einen Schlag von hinten gefasst, einen Schritt zur Seite. Aber da war niemand.

»Darf ich reinkommen und mich kurz mit Ihnen unterhalten?«

»Tut mir leid, aber ich bin grad am Meditieren.«

»Worüber meditieren Sie denn?«

»Das weiß ich nicht so genau.« Sie kicherte leise und fasste sich an die Stirn, die von hellem Haar so glatt wie Rohseide umrahmt war. »Es hat sich noch nicht zusammengefügt. Noch nicht materialisiert, verstehen Sie?«

Sie machte den Eindruck, als hätte sie sich selbst noch nicht so recht materialisiert. Ihre Blondheit hatte etwas Ätherisches. Sie schwankte sanft wie ein Vorhang im Wind. Dann verlor sie plötzlich das Gleichgewicht und sackte im Türrahmen zusammen.

Ich packte sie und zog sie hoch. Ihre Hände waren {38}kalt, sie schien leicht benommen. Ich fragte mich, was sie wohl getrunken, geschluckt oder geraucht hatte.

Einen Arm um ihre Schulter gelegt, bugsierte ich sie ins Wohnzimmer. Eine Fliegengittertür gegenüber dem Eingang führte auf einen Balkon. Das Zimmer war so kahl wie die Hütte eines Tagelöhners: zwei schlichte Stühle, eine Pritsche, ein Kartentisch, ein paar Bastmatten als Teppich. Der einzige Schmuck war ein großer Schmetterling aus rotem, glitterübersäten Seidenpapier auf einem Drahtskelett. Er war fast so groß wie das Mädchen, hing mitten im Zimmer an einer Schnur von der Decke und drehte sich langsam um sich selbst.

Sie saß auf einer der Bodenmatten und sah zu dem Schmetterling hoch. Unter dem langen Baumwollhemd, offenbar das einzige Kleidungsstück, das sie am Leibe hatte, versuchte sie, ihre Beine und Füße in die Lotusstellung zu zwingen, scheiterte aber kläglich.

»Haben Sie den Schmetterling gebastelt, Doris?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so was krieg ich nicht hin. Er war Teil der Dekoration beim Abschlussball im Internat. War die Idee meiner Mutter, ihn hier aufzuhängen. Ich kann ihn nicht ausstehen.« Ihre leise, zaghafte Stimme schien ihren Lippenbewegungen kaum folgen zu können. »Ich fühl mich nicht so besonders.«

Ich hockte mich, auf ein Knie gestützt, neben sie. »Was haben Sie genommen?«

»Bloß ein paar Tabletten für die Nerven. Da kann ich besser meditieren.« Sie versuchte erneut, ihre Beine und Füße in die erwünschte Position zu bringen. Ihre Fußsohlen waren schmutzig.

{39}»Was für Tabletten?«

»Von den roten. Aber nur eine oder zwei. Mein Problem ist, dass ich lange nichts gegessen habe, seit gestern irgendwann. Fred wollte mir von zu Hause was mitbringen, aber anscheinend lässt seine Mutter ihn nicht weg. Sie mag mich nicht – sie will Fred für sich alleine haben.« Leise zischend fügte sie hinzu: »Zur Hölle mit ihr. Soll sie sich doch ins Knie ficken.«

»Was ist mit Ihrer eigenen Mutter, Doris?«

Sie ließ von ihren Füßen ab, streckte die Beine nach vorn und zog das lange, nachthemdartige Hemd züchtig über die Knie.

»Was soll mit ihr sein?«

»Wenn Sie etwas zu essen oder Hilfe brauchen, können Sie sich dann nicht an Ihre Mutter wenden?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Die Haare fielen ihr übers Gesicht. Ärgerlich schleuderte sie sie mit beiden Händen wieder zurück, wie um sich eine Gummimaske vom Gesicht zu reißen.

»Auf ihre Hilfe kann ich verzichten. Sie will mir nur meine Freiheit rauben – mich in eine Anstalt sperren und den Schlüssel wegschmeißen.« Sie rappelte sich auf die Knie auf, so dass ihre blauen Augen auf einer Höhe mit meinen waren. »Sind Sie einer von diesen Seelenklempnern?«

»Nicht doch.«

»Ganz sicher? Sie hat damit gedroht, mir die Irrenärzte auf den Hals zu hetzen. Soll sie doch – denen werde ich was erzählen!« Außer sich vor Wut, hackte sie mit ihrem zarten Kinn durch die Luft.

{40}»Was denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, dass sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes gemacht haben, als zu streiten. Erst bauen sie sich dieses riesengroße, schreckliche Haus, und dann haben sie nichts Besseres zu tun, als sich ständig in den Haaren zu liegen. Wenn sie sich nicht zur Abwechslung tagelang anschweigen.«

»Worüber haben sie denn gestritten?«

»Über eine Frau namens Mildred – das war einer der Punkte. Das Hauptproblem ist aber, dass sie sich nicht lieben – und nie geliebt haben –, und dafür geben sie sich gegenseitig die Schuld. Und mir geben sie offenbar auch die Schuld. Ich hab nicht viel von dem behalten, was passiert ist, als ich klein war, aber ich kann mich noch erinnern, wie sie sich über meinen Kopf hinweg angebrüllt haben – wie wahnsinnig gewordene Riesen haben sie geschrien, ohne irgendwas an, und ich dazwischen. Er war total erregt. Sie hat mich dann gepackt, wir sind ins Badezimmer, und sie hat abgeschlossen. Aber er ist mit der Schulter gegen die Tür gerannt und hat sie aufgebrochen. Anschließend musste er monatelang den Arm in einer Schlinge tragen. Und ich«, fügte sie leise hinzu, »trage seitdem meine Seele in einer Schlinge.«

»Mit Beruhigungspillen lässt sich das nicht heilen.«