{5}Für John E.Smith

{7}1

Die Büroräume der Anwaltsfirma Wellesley und Sable lagen über der Sparkasse an der Hauptstraße von Santa Teresa. Ein privater Lift führte mich aus einer kleinen kahlen Vorhalle in die oberen Regionen, die eine Atmosphäre schlichter Eleganz ausstrahlten. Es kam mir vor, als habe ich mich nach Jahren harten Existenzkampfes endlich in die mir zustehenden Höhen emporgeschwungen. Ich war einer der Auserwählten des Schicksals.

Gegenüber dem Fahrstuhl spielte ein weibliches Wesen mit sorgfältig gefärbtem roten Haar auf den Tasten ihrer elektrischen Schreibmaschine. Eine Schale mit Begonien stand vor ihr auf dem Schreibtisch. Gerahmte Drucke an den getäfelten Wänden nahmen die Farben auf und warfen sie diskret zurück. Ein Harvard-Sessel stand vornehm und wie zufällig in einer Ecke.

Mein Selbstgefühl stieg um mehrere Grade, als ich mich darin niederließ und nach der neuesten Ausgabe des Wall Street Journal griff. Offensichtlich hatte ich hiermit das Richtige getan. Die Rothaarige unterbrach ihr Tippen und geruhte, von mir Notiz zu nehmen.

»Sie wünschen?«

»Ich bin mit Mr. Sable verabredet.«

»Mr. Archer?«

»Ja.«

Sie wurde um einiges leutseliger. Also gehörte ich doch nicht zu den Auserwählten. »Ich bin Mrs. Haines. Mr. Sable konnte heute leider nicht ins Büro kommen und bat mich, Ihnen auszurichten, ob Sie vielleicht so gut sein möchten, ihn in seinem Haus aufzusuchen.«

{8}»Aber sicher.« Ich erhob mich aus dem Harvard-Sessel und fühlte mein Prestige dabei um mehrere Grade sinken.

»Ich weiß, daß es lästig für Sie ist«, sagte sie mitfühlend. »Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Wenn er seinen Strandbungalow noch hat, dann ja.«

»Nein, den hat er nach seiner Heirat aufgegeben. Jetzt hat er ein Haus auf dem Land gebaut.«

»Ich wußte gar nicht, daß er verheiratet ist.«

»Mr. Sable? Und ob! Schon bald zwei Jahre.«

Wegen ihrem einschmeichlerischen Ton fragte ich mich, ob sie selber wohl verheiratet sei. Sie machte mir eigentlich mehr den Eindruck, als sei sie verwitwet oder geschieden und auf der Suche nach einem Nachfolger für den Verflossenen. Vertraulich beugte sie sich zu mir: »Sie sind doch der Detektiv, nicht wahr?«

Das konnte ich nur bestätigen.

»Hat Sie Mr. Sable für sich persönlich engagiert? Ich frage nur, weil er mir nämlich nichts davon gesagt hat.«

Der Grund dafür war offensichtlich. »Mir auch nicht«, sagte ich. »Können Sie mir sagen, wie ich zu ihm rauskomme?«

»Das Haus liegt in Arroyo-Park. Am besten zeige ich es Ihnen auf dem Stadtplan.«

Wir blickten in die Karte. »Kurz vor der Gabelung biegen Sie von der Hauptstraße ab«, erklärte sie, »und hier, an der Arroyo-Country-Schule geht es dann nach rechts. Wenn Sie ungefähr eine halbe Meile am See entlanggefahren sind, können Sie Sables Briefkasten sehen.«

Zwanzig Minuten später hatte ich den Briefkasten gefunden. Er stand unter einer Eiche am Anfang eines Privatweges. Der Weg führte den bewaldeten Hügel hinauf und gab oben den Blick auf ein modernes Haus mit vielen Fenstern und einem überstehenden, grünen, flachen Dach frei.

Noch ehe ich in die unmittelbare Nähe des Hauses gekommen war, öffnete sich die Haustür. Ein Mann mit strähnigem grauen Haar, das ihm tief in die Stirn wuchs, kam mir über {9}den Rasen entgegen. Trotz seiner weißen Dienerjacke wirkte er in dieser exklusiven Umgebung irgendwie fehl am Platze. Mit seiner forschen Haltung und den gestrafften Schultern wirkte er mehr wie jemand, der gerade dabei ist, seinen wohlverdienten Spaziergang zu unternehmen.

»Suchen Sie jemand, Mister?«

»Mr. Sable hat nach mir geschickt.«

»Und weshalb?«

»Ach, hat er’s Ihnen nicht gesagt? Dann wird es Sie wohl nichts angehen«, antwortete ich.

Der Mann trat näher auf mich zu und lächelte. Es war das typische Grinsen eines Schlägers. Die Narben in seinem Gesicht paßten gut dazu. Es gibt Gesichter, die einen auf Anhieb freundlich stimmen. Seins reizte zum Zuschlagen.

Gordon Sables Stimme rief von der Tür herüber: »Schon gut, Peter. Ich erwarte ihn.« Er kam mir über den mit Platten belegten Weg entgegen und reichte mir die Hand. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Lew. Ganz schön lange her, was?«

»Vier Jahre jetzt.«

Sable schien überhaupt nicht gealtert. Der Gegensatz zwischen dem sonnengebräunten Gesicht und dem welligen weißen Haar förderte sogar noch die Illusion der Jugendlichkeit. Das Madrashemd über der enganliegenden englischen Flanellhose betonte seine schlanke, sportliche Taille.

»Ich höre, Sie haben geheiratet«, sagte ich.

»Ja, ich hab’s riskiert.« Sein glücklicher Ausdruck schien mir etwas gezwungen. Er wandte sich an den Diener, der dabeistand und zuhörte. »Sehen Sie lieber nach, ob Mrs. Sable etwas braucht. Und dann kommen Sie in mein Arbeitszimmer. Mr. Archer hat eine lange Fahrt hinter sich und möchte sicher etwas trinken.«

»Sehr wohl, Sir.« Die unterwürfigen Worte standen im krassen Gegensatz zu dem dreisten Ton.

Sable tat so, als ob er es nicht bemerkt hätte. Er ging vor mir her. Wir kamen über einen mit schwarz-weißen Fliesen {10}ausgelegten Gang in einen Hof, in dem eine Menge tropischer Pflanzen wuchsen, deren kräftige Farben von einem ovalen Wasserbecken in der Mitte gebrochen und reflektiert wurden. Schließlich erreichten wir unser Ziel, einen sonnigen, vom übrigen Teil des Hauses abgelegenen Raum, der durch Hunderte von Büchern an den Wänden noch zusätzlich isoliert war.

Sable bot mir einen Ledersessel vor dem Schreibtisch an, aus dem man gleichzeitig auch einen Blick aus dem Fenster werfen konnte. Dann zog er die Vorhänge zurecht, um einen Teil des Lichtes abzublenden.

»Peter wird jeden Augenblick kommen. Ich fürchte, ich muß mich für seine Manieren entschuldigen. Es ist heutzutage schwer, das richtige Personal zu finden.«

»Ich habe die gleichen Schwierigkeiten. Die einen fragen gleich nach einer Altersversorgung, und die anderen wollen für fünfzig Dollar am Tag die Leute herumschikanieren. Ich kann weder das eine noch das andere bieten, darum tue ich den größten Teil meiner Arbeit immer noch selber.«

»Das freut mich zu hören.« Sable setzte sich auf die Schreibtischkante und beugte sich vertraulich zu mir. »Die Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen möchte, ist ziemlich delikat. Aus Gründen, die Sie gleich selber einsehen werden, ist es unumgänglich notwendig, daß nichts davon an die Öffentlichkeit gelangt. Alles, was Sie herausfinden, falls Sie überhaupt etwas herausfinden, wird mir berichtet. Und zwar mündlich. Ich wünsche nichts Schriftliches. Haben Sie das verstanden?«

»Sie haben sich sehr klar ausgedrückt. Handelt es sich um eine persönliche Angelegenheit von Ihnen oder um einen Klienten?«

»Um einen Klienten selbstverständlich. Hab ich das nicht am Telefon gesagt? Eine Dame hat mir einen ziemlich schwierigen Auftrag aufgehalst. Offen gesagt, sehe ich kaum eine Möglichkeit, ihre Hoffnung zu erfüllen.«

»Was erhofft sie denn?«

{11}Sable hob seine Augen zu den hellen Deckenbalken. »Das Unmögliche, fürchte ich. Wenn ein Mensch seit zwanzig Jahren verschwunden ist, kann man sicher annehmen, daß er nicht mehr lebt. Oder zumindest, daß er nicht aufgefunden werden will.«

»Es geht also um einen Vermißten.«

»Eine ziemlich hoffnungslose Sache. Das habe ich meiner Klientin schon mehrmals auseinanderzusetzen versucht. Aber schließlich kann ich mich ja nicht weigern, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie ist alt und krank und daran gewöhnt, ihren Kopf durchzusetzen.«

»Und bestimmt auch sehr reich?«

Sable runzelte die Stirn über meine Frivolität. Er war auf Grundstücksverwaltungen spezialisiert und bewegte sich in Kreisen, in denen man Geld hatte, aber nicht davon sprach.

»Der verstorbene Mann der Dame hat sie in recht zufriedenstellenden Verhältnissen zurückgelassen.« Und um mich in meine Schranken zu verweisen, fügte er hinzu: »Ihre Arbeit wird auf jeden Fall gut honoriert werden, ganz unabhängig vom Resultat.«

Der Diener war hinter mir ins Zimmer getreten, ich merkte es an der Veränderung der Beleuchtung. Er trug alte Segelschuhe und bewegte sich geräuschlos.

»Sie haben sich Zeit gelassen«, sagte Sable.

»Martinis mixen braucht seine Zeit.«

»Ich habe keine Martinis bestellt.«

»Madam aber.«

»Vor dem Essen sollten Sie ihr keine Martinis zurechtmachen und eigentlich niemals welche.«

»Dann müssen Sie ihr das sagen.«

»Das werde ich tun. Und im Augenblick sage ich es Ihnen.«

»Sehr wohl, Sir.«

Man konnte sehen, wie Sable unter der Sonnenbräune das Blut ins Gesicht stieg. »Lassen Sie diese Redensarten.«

{12}Der Diener erwiderte nichts, aber seine grünen Augen blickten frech und rastlos umher. Beifallheischend sah er mich an.

»Sie scheinen auch Ihre Probleme mit dem Personal zu haben.« Ich wollte Sable unterstützen.

»Oh, Peter ist ganz in Ordnung, nicht wahr, Alter?« Wie um einer Antwort zuvorzukommen, sah er mich mit einem Grinsen an, unter dem er seine Verlegenheit verbergen wollte. »Was trinken Sie, Lew? Ich möchte einen Tonic haben.«

»Das ist genau das Richtige.«

Der Diener zog sich zurück.

»Was ist mit dieser vermißten Person?« fragte ich.

»Vielleicht ist vermißt nicht ganz das richtige Wort. Der Sohn meiner Klientin hat seine Eltern vorsätzlich verlassen. Und bis heute wurde nie ein Versuch unternommen, ihn aufzufinden oder ihn zurückzuholen.«

»Und warum nicht?«

»Ich. vermute, sie waren genauso unzufrieden mit ihm wie er mit ihnen. Sie mißbilligten das Mädchen, das er heiratete. Mißbilligen ist dabei noch milde ausgedrückt. Außerdem gab es noch andere Gründe für Reibereien. Wie ernst die Gegensätze waren, erkennen Sie am besten aus der Tatsache, daß er auf sein großes Erbe verzichtete.«

»Hat er auch einen Namen, oder müssen wir ihn Mr. X nennen?«

Sable verzog schmerzlich das Gesicht. Es bereitete ihm körperliches Unbehagen, Informationen preiszugeben. »Der Name der Familie ist Galton, und der Name des Sohnes ist oder war Anthony Galton. Er verschwand im Jahre 1936. Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt und kam gerade von der Universität.«

»Das ist sehr lange her.« Es hätte genausogut im vorigen Jahrhundert sein können.

»Ich sagte Ihnen ja, daß die Sache nahezu hoffnungslos ist. Trotzdem wünscht Mrs. Galton, daß nach ihrem Sohn {13}gesucht wird. Sie kann jeden Tag sterben und möchte sich mit der Vergangenheit versöhnen.«

»Und wer behauptet, daß sie jeden Tag sterben kann?«

»Ihr Arzt, Doktor Howell.«

Der Diener trat mit einem klirrenden Tablett in den Raum. Mit betonter Dienstbeflissenheit reichte er uns unsere Gintonics. Dabei bemerkte ich einen blautätowierten Anker auf seinem Handrücken und fragte mich, ob er wohl früher zur See gefahren sein mochte. Denn ein geschulter Diener war er ganz bestimmt nicht. Das Glas, das er mir anbot, zeigte noch alte Lippenstiftspuren am Rand.

Als er wieder gegangen war, fragte ich weiter: »Hatte der junge Galton geheiratet, bevor er fortging?«

»Ja. Seine Frau war übrigens der unmittelbare Anlaß für den Bruch mit seiner Familie. Sie erwartete ein Kind.«

»Und alle drei sind seitdem verschwunden?«

»Als ob die Erde sich geöffnet und sie verschlungen hätte«, sagte Sable dramatisch.

»Bestanden irgendwelche Gründe zu der Annahme, daß etwas faul bei der Geschichte war?«

»Ich glaube nicht, soweit ich orientiert bin. Damals stand ich noch nicht in Verbindung zu der Familie. Aber ich werde Mrs. Galton bitten, Ihnen selber über die Einzelheiten zu berichten. Ich kann nur nicht genau sagen, wieviel sie davon preisgeben will.«

»Steckt denn noch mehr dahinter?«

»Wahrscheinlich. Aber nun Prost«, sagte er freudlos und leerte sein Glas im Stehen. »Ehe ich Sie mit hinübernehme, brauche ich natürlich die Gewißheit, daß Sie uns so lange wie notwendig Ihre ganze Zeit widmen können.«

»Ich habe jetzt keine weiteren Verpflichtungen. Was meint die alte Dame, wie weit soll ich denn mit meiner Mühe gehen?«

»Sie sollen selbstverständlich Ihr Bestmögliches tun.«

»Glauben Sie nicht, daß sie mit einer größeren Firma besser bedient wäre?«

{14}»Keineswegs. Ich kenne Sie und habe das unbedingte Vertrauen zu Ihnen, daß Sie die Angelegenheit mit dem notwendigen Maß von Takt und Gewandtheit behandeln werden. Die letzten Tage von Mrs. Galton dürfen auf keinen Fall noch durch einen Skandal getrübt werden. Meine allergrößte Sorge bei dieser ganzen Angelegenheit wird stets sein, den Namen der Familie zu schützen.«

Sables Stimme bebte vor Mitgefühl, aber ich bezweifle, daß es aus irgendeiner tiefen Empfindung für die Familie Galton herrührte. Mit besorgtem Ausdruck blickte er an mir vorbei oder durch mich hindurch, als ob seine eigentlichen Befürchtungen irgendwo anders lägen.

Beim Hinausgehen bekam ich einen Hinweis auf deren Ursache. Hinter einer Bananenstaude im Hof tauchte plötzlich eine hübsche blonde Frau auf, etwa halb so alt wie er. Sie trug Blue jeans und eine weiße Hemdbluse. Anscheinend hatte sie ihm aus diesem Hinterhalt aufgelauert.

»Hallo, Gordon«, sagte sie mit brüchiger Stimme, »wie komisch, dich hier anzutreffen!«

»Schließlich wohne ich ja hier, oder?«

»Das habe ich auch einmal gedacht.«

Vorsichtig, als ob er jeden Satz auf die Waagschale legte, sagte Sable: »Alice, jetzt ist nicht die Zeit, das alles wieder zu erörtern. Was glaubst du wohl, warum ich heute vormittag zu Hause geblieben bin?«

»Als ob mir das etwas genützt hätte! Und wo willst du jetzt hin?«

»Fort.«

»Und wohin?«

»Hör mal, du kannst mich hier nicht einfach ausfragen.«

»O doch, das kann ich sehr gut.«

In einer vorsätzlich provokanten Haltung hatte sie sich breit vor ihm aufgebaut, eine Hüfte vorgeschoben und die Brüste unter dem weißen Hemd gleichzeitig spitz und zart herausgedrückt. Betrunken schien sie nicht zu sein, aber in {15}ihren Augen lag ein heißes, feuchtes Glitzern. Sie waren dunkel und tiefblau und hätten eigentlich schön sein sollen, aber die schwarzen Ringe und die dick aufgetragenen Lidschatten ließen sie wie zwei dunkle Höhlen erscheinen. »Wo wollen Sie meinen Mann hinschleppen?« wandte sie sich an mich.

»Ihr Mann ist derjenige, der mich irgendwo hinschleppt. Eine geschäftliche Angelegenheit«, gab ich zur Antwort.

»Was für eine geschäftliche Angelegenheit? In wessen Auftrag?«

»Nichts was dich interessieren könnte, Liebling.« Sable legte seinen Arm um sie. »Komm, geh jetzt in dein Zimmer. Mr. Archer ist ein Privatdetektiv, der einen Fall für mich bearbeitet. Mit dir hat es nichts zu tun.«

»Ich wette doch!« Sie riß sich von ihm los und wandte sich wieder zu mir. »Was wollen Sie von mir? Hier gibt es nichts herumzuschnüffeln. Ich sitze hier in diesem Mausoleum, und keine Menschenseele spricht mit mir. Ich wünschte, ich wäre wieder in Chicago. Dort habe ich wenigstens ein paar Freunde gehabt.«

»Hier doch auch.« Geduldig wartete Sable, daß sich ihre Erregung legte.

»Die Leute hier hassen mich alle. In meinem eigenen Haus kann ich mir nicht einmal etwas zu trinken bestellen.«

»Nur nicht am Morgen, das ist der einzige Grund.«

»Du liebst mich eben nicht mehr!« Ihr Zorn ging jetzt in Selbstmitleid über und trieb ihr die Tränen in die Augen. »Du machst dir nicht das geringste aus mir.«

»Liebling, wie kannst du so was sagen! Aber ich kann nicht zulassen, daß du dich in der Gegend herumtreibst. Komm, mein Schatz, laß uns hineingehen.«

Er legte wieder den Arm um sie, und diesmal wehrte sie sich nicht. Stützend geleitete er sie um das Bassin herum zu einer Tür, die auf den Hof führte. Als er die Tür hinter sich schloß, lehnte sie sich schwer an ihn.

Ich suchte mir allein den Weg nach draußen.

{16}2

Sable ließ mich eine halbe Stunde warten. Von meinem Platz im Wagen aus konnte ich Santa Teresa im hellen Licht des Mittags wie eine Reliefkarte vor mir ausgebreitet liegen sehen. Es war eine alte, geruhsame Stadt, sofern es so etwas in Kalifornien überhaupt gibt. Die Häuser schienen mit den Bergen verwachsen, freundliche Zeugen einer sicheren Vergangenheit. Mit ihnen verglichen schien Sables Haus wie eine futuristische Angelegenheit, so neu, daß ihm beinahe die Daseinsberechtigung abgesprochen werden mußte.

Als er endlich herauskam, trug er einen braunen Anzug mit einem dezenten roten Nadelstreifen. Außerdem hatte er eine lederne Aktentasche bei sich. Mit dem Wechsel des Anzugs hatte sich auch sein Verhalten geändert. Er wirkte geschäftsmäßig, knapp und reserviert.

Ich hängte mich an seinen schwarzen Imperial und folgte ihm durch die Stadt hindurch bis zu einem älteren Wohnviertel. Hier standen alte, ehrwürdige Häuser, weit von der Straße weggerückt, hinter Ziegelmauern oder geschnittenen Hecken verborgen.

In Arroyo-Park wurde der Kampf um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorherrschaft ausgefochten; hier wetteiferten Manager und Geschäftsleute, Geist und Einkommen. In der Straße, wo Mrs. Galton wohnte, merkte man von diesem Kampf nichts mehr. Ihre Großväter oder Urgroßväter hatten ihn ein für allemal für sie gewonnen. Der Tod und das Finanzamt waren die einzigen Schatten, die diese Menschen belasteten.

Sable gab mir ein Zeichen, nach links abzubiegen. Wir fuhren zwischen zwei steinernen Torpfeilern hindurch, in die der Name GALTON eingemeißelt war. Die zwei majestätischen Eisentore wirkten wie Fallgitter einer alten Burg. Ein Bediensteter, der gerade den Rasen mit einem Motormäher schnitt, strich sich das Haar aus der Stirne, als wir vorüberfuhren. {17}Der Rasen hatte genau das Grün der Seriennummern auf den Dollarscheinen und erstreckte sich über eine Länge von etwa zweihundert Metern. Und in der grünen Ferne tauchte die weiße Fassade eines Hauses in frühspanischem Stil auf.

Die Auffahrt zog sich in einer Kurve um die Seite des Hauses unter einem Vorbau hindurch. Ich stellte meinen Wagen hinter einem Chevrolet-Coupé ab, an dem ein Arztschild angebracht war. Weiter hinten, im Schatten einer großen Eiche, konnte ich zwei kurzbehoste Mädchen Federball spielen sehen. Blitzschnell wurde der Ball hin- und zurückgeschlagen. Das dunkelhaarige Mädchen, das uns den Rücken zukehrte, verschlug ihn endlich, wobei ihr ein »Verdammt noch mal!« entrutschte.

»Aber, aber«, machte Gordon Sable.

Mit der Grazie einer Tänzerin wirbelte sie herum. Dabei konnte ich erkennen, daß sie kein junges Ding mehr war, sondern eine Frau mit der Figur eines Mädchens. Langsam stieg ihr die Röte in die Wangen. Um ihre Verlegenheit zu kaschieren, setzte sie ein übertriebenes Schmollmündchen auf, wodurch sie wiederum etwas jünger wirkte.

»Ich bin einfach nicht in Form. Sheila hat mich noch nie geschlagen.«

»Doch«, rief das Mädchen auf der anderen Seite des Netzes. »Letzte Woche sogar dreimal. Heute ist es das viertemal.«

»Der Satz ist noch gar nicht zu Ende.«

»Nein, aber ich werde dich trotzdem schlagen.« In Sheilas Stimme schwang eine Leidenschaft mit, die gar nicht zu ihrer Erscheinung zu passen schien. Sie war noch sehr jung, keinesfalls älter als achtzehn. Sie hatte eine Haut wie Milch und Honig und sanfte Rehaugen.

Die ältere der beiden griff nun nach dem Federball und schlug ihn über das Netz; vertieft spielten sie weiter, als ob wer weiß was vom Ausgang des Spiels abhinge.

Ein farbiges Hausmädchen mit weißem Häubchen führte {18}uns in das Empfangszimmer. Schmiedeeiserne Lampen hingen wie riesige schwarze, vertrocknete Trauben von der hohen Decke. Alte schwarze Möbel standen wie in einem Museum unter alten dunklen Bildern an den Wänden aufgereiht. Die Fenster waren schmal und lagen tief in den dicken Mauern eingebettet, wie die Fenster eines mittelalterlichen Schlosses.

»Ist Dr. Howell noch bei ihr?« fragte Sable das Hausmädchen.

»Ja, Sir. Aber er müßte jeden Moment gehen. Er ist schon eine ziemliche Weile bei ihr oben.«

»Sie hat doch keinen Anfall gehabt?«

»Nein, Sir. Es ist nur der übliche Arztbesuch.«

»Würden Sie ihm bitte ausrichten, daß ich ihn gern gesprochen hätte, ehe er wegfährt?«

»Ja, Sir.«

Sie verschwand. Ohne mich anzusehen, sagte Sable in unbewegtem Ton: »Ich brauche mich für das Benehmen meiner Frau wohl nicht zu entschuldigen. Sie wissen ja, wie Frauen sind.«

»Natürlich.« Ich wollte keine Vertraulichkeiten von seiner Seite.

Offensichtlich stand ihm auch keineswegs der Sinn danach. »In Südamerika gibt es Stämme, die ihre Frauen jeden Monat eine Woche lang einsperren. Sie stecken sie alleine in eine Hütte und lassen sie schmoren. Für diese Methode läßt sich eine ganze Menge sagen.«

»Da mögen Sie recht haben.«

»Sind Sie eigentlich verheiratet, Archer?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Dann wissen Sie ja, wie es ist. Sie wollen, daß man sich die ganze Zeit mit ihnen beschäftigt. Segeln und Golfspielen habe ich schon aufgegeben. Ich habe beinahe aufgehört zu leben, aber sie ist immer noch nicht zufrieden. Was tut man nur mit so einer Frau?«

{19}Ich habe mir längst abgewöhnt, gute Ratschläge zu erteilen. Selbst wenn man darum gebeten wird, ärgern sich die Leute nur zum Schluß. »Da müssen Sie einen Klügeren fragen«, sagte ich nur.

Dann schlenderte ich im Zimmer umher und betrachtete mir die Bilder. Hauptsächlich waren es irgendwelche Vorfahren: spanische Dons, Damen in Krinolinen mit weißen Alabasterbusen, ein Offizier aus dem Bürgerkrieg in blauer Uniform und mehrere Herren in der Kleidung des 19. Jahrhunderts mit Koteletten und sauertöpfischen Mienen. Am besten gefiel mir eine Gruppe von Industriemagnaten mit Zylindern, die zusahen, wie ein weiterer Industriemagnat mit einem Bulldoggengesicht einen goldenen Nagel in eine Eisenbahnschwelle hämmerte. Im Hintergrund des Bildes konnte man einen mürrisch dreinblickenden Büffel erkennen.

Das Mädchen kehrte jetzt mit einem Herrn im Tweedanzug zurück. Sable stellte ihn als Dr. Howell vor. Er war ein schwerer Mann in den Fünfzigern, dessen Haltung von einer unbewußten Autorität zeugte.

»Mr. Archer wird uns bei unseren Ermittlungen helfen«, sagte Sable. »Hat Ihnen Mrs. Galton von ihren Absichten berichtet?«

»Das hat sie.« Der Arzt fuhr sich mit den Fingern durch die grauen Bürstenhaare. Die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. »Ich dachte, die ganze Geschichte mit Tony sei längst begraben und vergessen. Wer hat sie denn nur auf den Gedanken gebracht, die Sache wieder ans Tageslicht zu zerren?«

»Niemand, soweit ich weiß. Es war ihr eigener Einfall. Wie geht es ihr denn heute, Doktor?«

»Den Umständen entsprechend. Maria ist über siebzig. Sie hat ein schwaches Herz und dazu noch Asthma. Dabei muß man auf alles vorbereitet sein.«

»Aber eine unmittelbare Gefahr besteht nicht?«

»Das möchte ich nicht annehmen. Ich kann natürlich nicht {20}voraussagen, was geschieht, wenn sie einer heftigen Gemütsbewegung ausgesetzt wird. Mit Asthma ist nicht zu spaßen.«

»Psychosomatisch, meinen Sie?«

»Sie können es auch somatopsychisch nennen, wie Sie wollen. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Krankheit, die emotionell beeinflußt werden kann. Deshalb bin ich so dagegen, daß Maria von neuem über ihren mißratenen Sohn in Aufregung gerät. Was soll das Ganze eigentlich?«

»Sie will ihr schlechtes Gewissen beruhigen, nehme ich an. Sie hat ihm Unrecht getan und möchte das wiedergutmachen.«

»Aber ist er denn nicht tot? Ich dachte, er sei gesetzlich für tot erklärt worden.«

»Das hätte man tun können. Vor einigen Jahren haben wir amtlich nach ihm suchen lassen. Damals war er schon vierzehn Jahre lang verschollen, das ist mehr als die doppelte Zeit, die für eine gesetzliche Todeserklärung erforderlich ist. Aber Mrs. Galton war dagegen, daß ich den Antrag stellte. Ich glaube, sie hat nie die Hoffnung aufgegeben, daß Anthony eines Tages zurückkommen und sein Erbe beanspruchen würde. In den letzten Wochen ist sie von dieser Vorstellung geradezu besessen.«

»Ganz so drastisch würde ich es zwar nicht ausdrücken«, sagte der Arzt. »Aber ich glaube, jemand hat ihr einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich frage mich nur, warum.«

»Wer sollte das denn gewesen sein?«

»Vielleicht Cassie Hildreth. Sie hat großen Einfluß auf Maria. Und da wir gerade von Hoffnungen sprechen – als junges Ding hat sie selber ein paar gehabt. Sie pflegte Tony nachzulaufen, als wäre er der Herrlichste von allen. Was er keineswegs war, wie Sie sich erinnern werden.« Howell lächelte etwas schief und melancholisch.

»Davon habe ich nichts gewußt. Ich werde einmal mit Miss Hildreth reden.«

»Mißverstehen Sie mich bitte nicht, es handelt sich hier um {21}eine reine Vermutung meinerseits. Nur meine ich, daß man die Sache soweit wie möglich hinauszögern sollte.«

»Das habe ich die ganze Zeit getan. Andererseits kann ich mich aber nicht offen weigern, ihr behilflich zu sein.«

»Nein, aber es wäre am besten, wenn Sie sie weiter hinhalten könnten, ohne definitive Ergebnisse zu erzielen, bis sie ihr Interesse etwas anderem zuwendet.« Der Blick des Arztes bezog mich in das Komplott mit ein. »Wir haben uns doch verstanden?«

»Ich habe Sie sehr gut verstanden«, sagte ich. »Ich soll also nur so tun, in Wirklichkeit aber keinerlei Nachforschungen anstellen. Ist das nicht eine ziemlich kostspielige Therapie?«

»Sie kann es sich leisten, falls Ihnen das Sorge macht. Maria nimmt im Monat mehr Geld ein, als sie in einem Jahr ausgeben kann.« Einen Augenblick lang betrachtete er mich schweigend und rieb seine große Nase. »Ich wollte damit nicht gesagt haben, daß Sie Ihre Arbeit vernachlässigen sollten, für die Sie bezahlt werden. Aber falls Sie auf etwas stoßen sollten, was Mrs. Galton aufregen könnte …«

Sable mischte sich schnell ein. »Das habe ich bereits mit Archer besprochen. Zuerst wird mir alles berichtet. Und Sie wissen ja, daß Sie sich auf meine Diskretion verlassen können.«

»Ja, ich glaube, das kann ich wohl.«

Sables Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich. Seine Augenlider flatterten nur einmal kurz, als sei er von einem Schlag bedroht gewesen, dann blieben sie wieder schwer über den wachsamen Augen hängen. Für einen Mann seines Alters und seiner Position war er reichlich empfindlich.

Ich wandte mich an den Doktor: »Kannten Sie Anthony Galton eigentlich?«

»Flüchtig.«

»Was für ein Mensch war er?«

Howell senkte die Stimme. »Tony war ein ziemlich wilder und ungehobelter Typ. Rein äußerlich und gesellschaftlich {22}meine ich. Er hatte auch nichts von den besonderen Charakteristika der Galtons geerbt. Alles Geschäftliche wurde von ihm mit einer maßlosen Verachtung abgetan. Tony hatte immer behauptet, er wollte Schriftsteller werden, ich habe aber nie eine Spur von Talent bei ihm entdecken können. Das einzige, was er wirklich gut konnte, war saufen und herumhuren. Ich glaube, er gehörte damals einer ziemlich üblen Bande aus San Francisco an. Persönlich war ich immer der Meinung, daß einer von denen ihn seines Geldes wegen umgebracht und in die Bay geworfen hat.«

»Bestanden irgendwelche Gründe zu dieser Annahme?«

»Selbstverständlich nichts Greifbares. Aber San Francisco war in den dreißiger Jahren ein gefährliches Pflaster für einen jungen Mann aus reicher Familie. Und er mußte schon ganz schön tief gegriffen haben, um an das Mädchen zu geraten, das er dann später geheiratet hat.«

»Sie kannten sie auch, nicht wahr?« fragte Sable.

»Seine Mutter schickte sie einmal zu mir, und da habe ich sie untersucht.«

»Hat sie hier in der Stadt gelebt?« erkundigte ich mich.

»Kurze Zeit. Tony heiratete sie und brachte sie sofort mit nach Hause. Ich glaube nicht, daß er sich in der Hoffnung gewiegt hat, seine Familie würde sie mit offenen Armen empfangen. Es ging ihm wohl mehr darum, seiner Familie einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Wenn das seine Absicht gewesen war, ist ihm das prächtig gelungen.«

»Was war denn mit dem Mädchen los?«

»Das Naheliegende, und zwar offenkundig. Sie war im siebten Monat schwanger.«

»Und Sie sagten, daß sie gerade erst geheiratet hatten.«

»Stimmt. Sie hat ihn eingefangen. Ich habe mich ein wenig mit ihr unterhalten, und ich möchte wetten, daß er sie direkt von der Straße aufgelesen hat. Trotz ihres dicken Bauches war sie ein hübsches kleines Ding. Sie mußte ein hartes Leben gehabt haben; Oberschenkel und Gesäß waren voller {23}Narben. Sie weigerte sich, irgendwelche Erklärungen darüber abzugeben, es war aber sonnenklar, daß man sie geprügelt hatte, und zwar nicht nur einmal.« Die Erinnerung an diese grausamen Tatsachen ließ schwache rote Flecken auf den Backenknochen des Arztes auftreten.

Das rehäugige Mädchen vom Federballplatz erschien hinter ihm in der Tür. Ihr Körper war wie eine reifende Frucht, nur teilweise von dem ärmellosen Pullover und den hochgerollten Shorts bedeckt. Sie strahlte gesunde Schönheit aus, trotzdem war der Mund ungeduldig verzogen.

»Daddy? Wie lange dauert’s denn noch?«

Bei ihrem Anblick vertiefte sich die Farbe auf Howells Backenknochen. »Roll die Hosenbeine sofort hinunter, Sheila.«

»Das sind doch keine Hosen.«

»Das ist mir gleichgültig, roll sie hinunter.«

»Aber warum denn?«

»Weil ich es möchte.«

»Das brauchst du mir aber nicht so in aller Öffentlichkeit zu sagen. Wie lange soll ich denn noch warten?«

»Du wolltest Tante Maria doch etwas vorlesen.«

»Dazu habe ich keine Lust.«

»Versprochen hast du es aber.«

»Nein, du hast es für mich versprochen. Ich habe bis jetzt mit Cassie Federball gespielt, und das ist meine gute Tat für heute gewesen.«

Sie ging fort, wobei sie absichtlich das Wiegen ihrer Hüften übertrieb. Wütend blickte Howell auf seine Armbanduhr, als ob sie die Quelle seines ganzen Ärgers sei. »Ich muß jetzt weiter. Ich habe noch andere Besuche zu machen.«

»Können Sie mir seine Frau beschreiben oder mir wenigstens ihren Namen sagen?« fragte ich.

»An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Was ihr Aussehen angeht, nun, sie war klein, blauäugig, dunkelhaarig und ziemlich mager trotz ihres Zustandes. Mrs. {24}Galton … nein, wenn ich es recht bedenke, würde ich sie nicht nach dem Mädchen fragen, wenn sie die Sache nicht selber anschneidet.«

Der Arzt wandte sich zum Gehen, aber Sable hielt ihn zurück. »Wäre etwas dagegen einzuwenden, wenn Mr. Archer ihr ein paar Fragen stellt, ich meine, es wird doch nicht ihrem Herzen schaden oder einen Asthmaanfall verursachen?«

»Das kann ich nicht garantieren. Wenn Maria ihren Anfall haben will, kann ich nichts dagegen unternehmen. Aber Scherz beiseite, wenn sich ihre Gedanken so sehr mit Tony beschäftigen, kann sie auch über ihn sprechen. Das ist sogar noch besser, als nur herumzusitzen und zu grübeln. Auf Wiedersehen, Mr. Archer, freut mich, Sie kennengelernt zu haben. Guten Tag, Sable.«

3

Das Hausmädchen führte Sable und mich in einen Salon der ersten Etage, wo Mrs. Galton uns erwartete. Der Raum roch nach Arzneien und hatte die typische, gedämpfte Krankenhausatmosphäre. Die Fenster waren teilweise von schweren Vorhängen bedeckt. Mrs. Galton ruhte im Halbdunkel auf einer Chaiselongue, einen Morgenmantel über den Knien.

Sie war völlig angekleidet; ihr runzeliger Hals war von etwas Weißem, Rüschigem verborgen. Ihren grauen Kopf hielt sie gerade. Ihre Stimme klang rauh, aber überraschend voll; ihre letzten verbleibenden Kräfte schienen sich darin gesammelt zu haben.

»Sie haben mich warten lassen, Gordon. Es ist jetzt beinahe Zeit für mein Mittagessen, und ich hatte Sie noch vor Doktor Howells Besuch erwartet.«

»Es tut mir schrecklich leid, Mrs. Galton, ich wurde zu Hause aufgehalten.«

{25}»Lassen Sie die albernen Entschuldigungen, ich kann das nicht leiden. Entschuldigungen sind nichts weiter als zusätzliche Geduldsproben.« Ihre funkelnden Augen forschten in seinen Zügen. »Hat diese Frau, die Sie sich da aufgegabelt haben, Ihnen wieder Ärger gemacht?«

»Aber nein, nichts dergleichen.«

»Gut so. Sie wissen ja, was ich von Scheidungen halte. Das heißt, Sie hätten lieber meinen Rat befolgen sollen, sie nicht zu heiraten. Ein Mann, der bis fünfzig noch nicht geheiratet hat, soll die Finger davon lassen. Mr. Galton war Ende vierzig, als wir heirateten. Die Folge davon war, daß ich beinahe seit zwanzig Jahren Witwe bin.«

»Sie haben es schwer gehabt, ich weiß«, sagte Sable salbungsvoll.

Als das Mädchen das Zimmer verlassen wollte, hielt Mrs. Galton sie zurück. »Einen Augenblick. Sag Miss Hildreth, sie soll mir mein Essen selber heraufbringen. Sie kann sich ja ein Sandwich mitbringen und bei mir essen, wenn sie will. Richte das Miss Hildreth aus.«

»Ja, Mrs. Galton.«

Die alte Dame deutete auf die beiden Stühle, die rechts und links neben ihr standen, und wandte mir ihren Blick zu. Er war hell und wachsam und irgendwie unmenschlich. Wie der Blick eines Vogels. Sie schien mich für ein ganz besonders seltsames Geschöpf zu halten.

»Ist das der Mann, der meinen Sohn wiederfinden soll?«

»Ja, das ist Mr. Archer.«

»Ich werde es zumindest versuchen«, warf ich ein und dachte an den Rat des Arztes. »Ein positives Ergebnis kann ich nicht versprechen. Ihr Sohn ist vor sehr langer Zeit verschwunden.«

»Das weiß ich besser als Sie, junger Mann. Am 11. Oktober 1936 habe ich Anthony zum letztenmal gesehen. Wir trennten uns voller Zorn und Haß. Und seitdem nagt die Erinnerung daran an meinem Herzen. So kann ich nicht {26}sterben. Ich möchte Anthony noch einmal wiedersehen und mit ihm sprechen. Ich möchte ihm vergeben, und er soll auch mir verzeihen.«

Erschütterung klang in ihrer Stimme mit. Ich zweifelte nicht, daß dieses Gefühl teilweise aufrichtig war. Trotzdem klang eine unechte Note darin mit. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß sie jahrelang mit ihren Gefühlen herumgespielt hatte, bis sie alle etwas fadenscheinig geworden waren.

»Ihnen verzeihen?« wiederholte ich.

»Dafür, daß ich ihn so schlecht behandelt habe. Er war jung und töricht und hatte ein paar katastrophale Fehler begangen. Trotzdem waren mein Mann und ich nicht dazu berechtigt, ihn aus dem Haus zu weisen. Das war wirklich abscheulich, und wenn es nicht zu spät ist, möchte ich es wiedergutmachen. Wenn er noch mit seiner Frau zusammenlebt, bin ich bereit, sie anzuerkennen. Ich bevollmächtige Sie hiermit, ihm das mitzuteilen. Ich will mein Enkelkind sehen, bevor ich sterbe.«

Ich blickte zu Sable hinüber. Kaum merklich schüttelte er den Kopf. Aber wenn seine Klientin auch etwas wirr im Kopf zu sein schien, ihre Menschenkenntnis war nach wie vor ungetrübt.

»Ich weiß, was Sie beide denken. Sie glauben, daß er tot ist. Aber wenn es so wäre, würde ich es hier fühlen.« Dabei berührte ihre Hand die glatte Seide über ihrer flachen Brust. »Er ist mein einziger Sohn. Irgendwo muß er leben. Nichts auf dieser Welt geht verloren.«

Bis auf einige Millionen Menschen, dachte ich. »Ich werde mein Bestes tun, Mrs. Galton. In ein oder zwei Punkten könnte ich allerdings Ihre Hilfe brauchen. Bitte geben Sie mir doch eine Liste mit den Namen seiner Freunde.«

»Ich habe seine Freunde niemals gekannt.«

»Er muß doch ein paar Freunde im College gehabt haben. Hat er nicht in Stanford studiert?«

{27}»Ja, im Frühling zuvor war er aus Stanford gekommen. Er machte nicht einmal seine Abschlußprüfung. Aber keiner seiner Studienkameraden konnte sagen, was aus ihm geworden ist. Sein Vater hatte damals gründlich bei allen nachgeforscht.«

»Wo hat Ihr Sohn denn damals gewohnt, nachdem er die Universität verlassen hatte?«

»In den Slums von San Francisco, zusammen mit dieser Frau.«

»Haben Sie die Adresse?«

»Ich glaube wohl. Miss Hildreth soll nachher danach suchen.«

»Damit hätten wir erst einmal einen Anhaltspunkt. Als er hier mit seiner Frau fortging, beabsichtigte er da, nach San Francisco zurückzugehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich habe sie nicht mehr gesehen, bevor sie gingen.«

»Soviel ich weiß, kamen sie einmal zu Besuch zu Ihnen?«

»Ja. Aber sie blieben nicht einmal über Nacht.«

»Was mir am meisten helfen würde«, sagte ich vorsichtig, »wäre eine Schilderung der genauen Umstände ihres Besuches und ihrer Abreise. Alles, was Ihr Sohn über seine Pläne sagte, alles, was das Mädchen erwähnte, alles, an das Sie sich noch erinnern können. Erinnern Sie sich noch an ihren Namen?«

»Er nannte sie Teddy. Ich habe keine Ahnung, ob das ihr richtiger Name war. Wir sprachen nicht sehr viel miteinander. Ich weiß wirklich nicht mehr, was damals gesagt wurde. Die ganze Atmosphäre war unerfreulich, und diese Person war so schrecklich, daß ich tagelang noch ganz krank davon war. Und es war leider so offensichtlich, daß sie nur auf sein Geld aus war.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Schließlich habe ich Augen, um zu sehen, und Ohren, um zu hören.« Ihre Stimme ließ die ersten Anzeichen aufsteigenden Ärgers erkennen. »Sie war angezogen und angemalt wie {28}ein Straßenmädchen, und wenn sie erst den Mund aufmachte – da wußte man gleich, wo sie herkam. Sie machte grobe Witze über das Kind in ihrem Schoß und wie«, ihre Stimme war kaum mehr zu hören, »es hineingelangt war. Ihr fehlte jeder Respekt und jedes Gefühl für Anstand. Das Mädchen hat meinen Sohn auf dem Gewissen.«

Alle guten Absichten auf Versöhnung waren vergessen. In der Wut kippte ihre Stimme beinahe über. Sie klang wie das Heulen des Windes in einer Ruine. Sable sah sie besorgt an, sagte aber kein Wort.

»Wieso hat sie ihn auf dem Gewissen?« fragte ich.

»Sie hat ihn moralisch total zerstört. Sie war sein böser Geist. Mein Sohn hätte nie das Geld genommen, wenn sie ihn nicht verhext hätte. Darauf könnte ich einen Eid leisten.«

Sable beugte sich in seinem Sessel vor. »Von welchem Geld sprechen Sie denn?«

»Von dem Geld, das Anthony seinem Vater gestohlen hat. Habe ich Ihnen nie davon erzählt, Gordon? Nein, ich glaube nicht; ich habe nie davon gesprochen, weil ich mich immer so geschämt habe.« Sie hob die Hände und ließ sie wieder in den Schoß zurückfallen. »Aber auch das vergebe ich ihm jetzt.«

»Um wieviel Geld handelte es sich?« fragte ich.

»Auf den Cent genau kann ich das nicht sagen. Jedenfalls waren es mehrere tausend Dollar. Seit dem großen Banckrach pflegte mein Mann immer eine gewisse Menge Bargeld für die laufenden Ausgaben im Hause zu behalten.«

»Und wo bewahrte er es auf?«

»In seinem Privatsafe im Arbeitszimmer. Die Kombination stand auf einem Zettel, den er in die Innenseite seiner Schreibtischschublade geklebt hatte. Anthony muß sie dort entdeckt und so den Safe geöffnet haben. Er nahm alles mit, das gesamte Geld und sogar einen Teil meines Schmuckes, den ich dort aufbewahrte.«

»Und Sie sind ganz sicher, daß er es genommen hat?«

{29}»Leider ja. Es verschwand zur gleichen Zeit wie er. Das ist wohl auch der Grund, weshalb er sich versteckte und nie wieder zu uns zurückkam.«

Sable sah immer düsterer drein. Wahrscheinlich dachte er dasselbe wie ich, daß damals zur Zeit der größten Geldknappheit in den Slums von San Francisco mehrere tausend Dollar in bar einer Freikarte in den Tod gleichkamen.

Aber das konnten wir nicht aussprechen. Mit ihrem Geld, ihrem Asthma und ihrem kranken Herzen lebte Mrs. Galton weit entfernt von der Wirklichkeit. Anscheinend mußte das so sein.

»Haben Sie ein Bild Ihres Sohnes, das nicht allzu lange vor seinem Verschwinden aufgenommen wurde?« fragte ich.

»Ich glaube wohl. Cassie wird danach suchen. Sie wird bald hier sein.«

»Können Sie mir noch weitere Informationen geben? Wohin hat er sich gewandt, wen hat er aufgesucht?«

»Nachdem er die Universität verlassen hatte, weiß ich nichts mehr von seinem Leben. Er hatte sich von allen anständigen Leuten abgesondert. Er hatte einen perversen Hang, sich gesellschaftlich zu deklassieren. Er muß eine Art nostalgie de la boue – einen Hang zur Gosse gehabt haben. Er versuchte das alles zu vertuschen, indem er törichtes Zeug daherredete. So wollte er den Kontakt zur Erde wiederherstellen, ein Dichter des Volkes und der Armen werden und dergleichen Unsinn mehr. Aber in Wirklichkeit fühlte er sich einfach wohl in dem ganzen Schmutz. Ich habe ihn erzogen und ihn gelehrt, seine Gedanken und Wünsche rein zu erhalten. Aber irgendwie mußte der Schmutz und das Laster faszinierend auf ihn gewirkt haben. Und schließlich erstickte er in dem ganzen Schlamm.«

Sie atmete laut und zitterte. Mit wächsernen Fingern kratzte sie auf dem Morgenrock über ihren Knien.

Begütigend neigte sich Sable zu ihr. »Sie dürfen sich nicht aufregen, Mrs. Galton. Das ist alles schon so lange vorbei.«

{30}»Nichts ist vorbei. Ich will Anthony zurückhaben. Ich habe niemanden mehr. Man hat ihn mir gestohlen.«

»Wir werden das Menschenmögliche tun, ihn zurückzubringen.«

»Ja, ich weiß, daß Sie das tun werden, Gordon.« Auf einmal war ihre Stimmung umgeschlagen. Ihr Kopf sank etwas vor, als wolle sie an Sables Schulter lehnen. Zeit und Verluste hatten ihr Haar gebleicht, ihr Runzeln in das Gesicht geschrieben und ihr Todesfurcht ins Herz gelegt; nun jammerte sie mit klagender Kleinmädchenstimme: »Ich bin eine dumme, alte Person. Sie waren immer so gut zu mir. Und wenn Anthony wiederkommt, wird er auch gut zu mir sein, glauben Sie nicht? Was ich auch gegen ihn gesagt habe, er war ein süßer Junge. Und er war immer so lieb zu seiner armen Mutter. Und so soll es wieder werden.«

Hoffnung klang in diesem Bittgebet auf: wenn sie die Worte oft genug wiederholte, müßten sie wahr werden.

»Davon bin ich überzeugt, Mrs. Galton.«

Sable stand auf und drückte ihr die Hand. Ich bin immer etwas mißtrauisch gegen Männer, die sich zu sehr um reiche alte Damen bemühen, selbst sogar um arme. Aber schließlich gehörte das mit zu seiner Aufgabe.

»Ich bin hungrig«, sagte sie. »Ich will mein Essen. Was machen die denn da unten …« Sie richtete sich halb von ihrer Chaiselongue auf und drückte einen Klingelknopf auf dem Tisch neben ihr. Und sie ließ den Finger auf dem Knopf, bis das Essen kam. Das dauerte ganze fünf Minuten.

4

Die Frau, die ich unten beim Federballspielen gesehen hatte, brachte ihr das Essen in einer zugedeckten Schüssel herauf. Sie hatte ihre Shorts gegen ein einfaches Leinenkleid vertauscht, das wohl ihre Figur, nicht aber ihre gutgeformten {31}braunen Beine verbergen konnte. Wachsam blickten ihre blauen Augen uns an.

»Du hast mich warten lassen, Cassie«, beklagte sich die alte Frau. »Was in aller Welt hast du bloß gemacht?«

»Dein Essen zurechtgemacht. Und vorher habe ich mit Sheila Howell eine Partie Federball gespielt.«

»Das hätte ich mir eigentlich denken können; ihr zwei amüsiert euch miteinander, und ich sitze hier oben und kann verhungern.«

»Na, na, so schlimm ist das wohl nicht.«

»Das kannst du gar nicht beurteilen, du bist schließlich nicht der Arzt. Frage doch August Howell, er wird dir schon sagen, wie wichtig es ist, daß ich mein Essen pünktlich bekomme.«

»Tut mir leid, Tante Maria. Ich dachte, du wolltest bei deiner Besprechung nicht gestört werden.«

Sie stand immer noch in der Tür und hielt das Tablett wie ein Schild vor sich. Sie war nicht mehr jung; aus der Nähe konnte man die Erfahrung in ihren blauen Augen lesen – sie mußte die Vierzig schon überschritten haben. Aber wie sie dastand, festgefroren in ihrer Hilflosigkeit, wirkte sie irgendwie jugendlich linkisch.

»Steh da nicht so herum wie ein Holzklotz!«

Endlich kam Bewegung in Cassie. Sie setzte das Tablett auf dem Tisch ab und nahm den Deckel von der Schüssel. Sie hatte eine gute Portion angerichtet, und Mrs. Galton begann sofort, Mengen von Salat in den Mund zu schaufeln. Ihre Hände und Kiefer bewegten sich dabei schnell und mechanisch. Sie bemerkte nicht, daß wir drei sie beobachteten.

Sable und ich zogen uns in die Halle zurück und traten an den Treppenabsatz, von welchem sich die Treppe in hochherrschaftlichen Bogen zur unteren Etage hinunterzog. Er lehnte sich an das eiserne Geländer und zündete sich eine Zigarette an.

»Nun, Lew, was halten Sie von der ganzen Sache?«

{32}Ehe ich antwortete, steckte ich mir selber auch eine Zigarette an. »Ich halte das Ganze für eine Vergeudung von Zeit und Geld.«

»Das habe ich gleich gesagt.«

»Und Sie wollen, daß ich die Sache trotzdem in Angriff nehme?«

»Ich sehe keine Möglichkeit, mich da herauszuwinden, ohne Mrs. Galton auf die Füße zu treten. Sie ist gar nicht so leicht zu behandeln.«

»Kann man sich wenigstens auf ihr Gedächtnis verlassen? Sie scheint ziemlich stark in der Vergangenheit zu leben. Manchmal wissen alte Leute nicht mehr so genau, was wirklich geschehen ist. Nehmen Sie die Geschichte von dem Geld, das er gestohlen haben soll. Glauben Sie daran?«

»Ich habe sie nie bei einer Lüge ertappt, und ich bezweifle ehrlich, daß sie ganz so verwirrt ist, wie sie wirkt. Sie setzt sich gerne in Szene, es ist das einzige Vergnügen, das ihr geblieben ist.«

»Wie alt ist sie eigentlich?«

»Dreiundsiebzig, glaube ich.«

»Das ist nicht sehr alt. Und ihr Sohn?«

»Der muß etwa vierundvierzig sein, wenn er noch lebt.«

»Das scheint ihr nicht bewußt zu sein. Sie spricht von ihm, als wäre er noch ein junger Mann. Wie lange sitzt sie denn schon in diesem Zimmer?«