{5}1

Die schweren roten Vorhänge vor den Fenstern des Gerichtssaals waren nicht vollständig zugezogen. Goldenes Sonnenlicht drang herein und überstrahlte die elektrische Deckenbeleuchtung. Es ließ einzelne Gegenstände aufblitzen: den gläsernen Wasserspender vor der holzgetäfelten Wand gegenüber der Geschworenenbank, die über die Tasten ihres Stenogeräts jagenden karmesinroten Fingernägel der Gerichtsschreiberin, Mrs. Perrines abgeklärter Blick, der mich über den Tisch der Verteidigung hinweg fixierte.

Es war kurz vor Mittag am zweiten und letzten Verhandlungstag ihres Prozesses. Ich war der letzte Zeuge der Verteidigung. Ihre Anwältin hatte keine weiteren Fragen an mich. Als der Staatsanwalt erklärte, er verzichte auf ein Kreuzverhör, warfen ihm mehrere Geschworene verdutzte Blicke zu. Der Richter beschied mir, ich könne gehen.

Vom Zeugenstand aus war mir der junge Mann aufgefallen, der in der ersten Zuschauerreihe saß. Er gehörte nicht zu den typischen Prozessbeobachtern, den Hausfrauen und Rentnern, die sich ihre ereignislosen Vormittage mit den Sorgen anderer Menschen vertreiben. Dieser Mann hatte selbst Probleme. Sein grüblerischer Blick war auf mich gerichtet, als hätte er die Absicht, diese Probleme bei mir abzuladen.

{6}Er erhob sich von seinem Platz, als ich aus dem Zeugenstand trat, und fing mich an der Tür ab. »Mr. Archer, dürfte ich Sie kurz sprechen?«

»Na schön.«

Der Gerichtsdiener öffnete die Tür und winkte uns hinaus. »Draußen bitte, meine Herren. Die Verhandlung ist noch nicht beendet.«

Wir gingen auf den Flur hinaus. Der junge Mann starrte grimmig auf die sich automatisch schließende Tür. »Ich kann es nicht leiden, herumgestoßen zu werden.«

»Davon kann in diesem Fall wohl kaum die Rede sein. Was bedrückt Sie, mein Freund?«

Ich hätte ihn nicht fragen sollen. Ich hätte auf dem Absatz kehrtmachen und nach Los Angeles zurückfahren sollen. Aber er sah aus wie ein anständiger amerikanischer Junge, und in seinen Augen flackerte der Schmerz.

»Man hat mich soeben aus dem Büro des Sheriffs hinausgeworfen. Vorher bin ich auch schon an anderer Stelle abgeblitzt, und so eine Behandlung bin ich nicht gewöhnt.«

»Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.«

»Sie haben große Erfahrung als Detektiv, nicht wahr? Das schließe ich aus dem, was Sie im Zeugenstand gesagt haben. Übrigens, das war großartig, wie Sie für Mrs. Perrine ausgesagt haben. Die Geschworenen werden sie bestimmt freisprechen.«

»Abwarten. Man sollte sich nie auf Geschworene verlassen.« Ich gab nicht viel auf sein Kompliment, das er mir wahrscheinlich nur gemacht hatte, weil er ein {7}gewichtigeres Anliegen damit verband. Die Verhandlung, in der ich soeben als Zeuge ausgesagt hatte, stand am Ende eines ebenso langwierigen wie langweiligen Falles, für den ich mich mit einem Angelausflug nach La Paz belohnen wollte. »Ist das alles, was Sie mir sagen möchten?«

»Ich habe Ihnen eine ganze Menge zu sagen, wenn Sie mich anhören. Ich habe ein Problem mit meiner Frau. Sie hat mich verlassen.«

»Ich übernehme keine Scheidungsfälle, falls es darum geht.«

»Scheidung?« Er verzog sein Gesicht zu einem gezwungenen, lautlosen Lachen. »Ich war nur einen Tag verheiratet – nicht mal einen Tag. Alle, vor allem mein Vater, liegen mir in den Ohren, ich solle die Ehe annullieren lassen. Aber ich will weder eine Nichtigkeitserklärung noch eine Scheidung. Ich will sie zurückhaben.«

»Wo ist Ihre Frau jetzt?«

»Das weiß ich nicht.« Er zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. »Während unseres Flitterwochenendes ist Dolly plötzlich verschwunden, einen Tag nach der Hochzeit. Vielleicht ist ihr etwas zugestoßen.«

»Oder vielleicht ist sie zu dem Schluss gelangt, dass sie gar nicht verheiratet sein will, oder jedenfalls nicht mit Ihnen. Derlei passiert ständig.«

»Genau das haben sie mir bei der Polizei auch gesagt: Derlei passiert ständig. Als wäre das ein Trost! Davon abgesehen, weiß ich, dass es nicht stimmt. Dolly hat mich geliebt, und ich habe sie – ich liebe sie.«

Er sagte dies mit großem Nachdruck. Ich kannte {8}seinen Charakter nicht, aber ich spürte Empfindsamkeit heraus und Gefühl, mehr Gefühl, als er so ohne weiteres bewältigen konnte.

»Sie haben mir noch nicht verraten, wie Sie heißen.«

»Oh, Entschuldigung. Mein Name ist Kincaid. Alex Kincaid.«

»Was machen Sie beruflich?«

»In letzter Zeit bin ich nicht zu viel gekommen, seit Dolly – seit diese Sache passiert ist. Theoretisch arbeite ich für die Channel Oil Corporation. Mein Vater leitet die Geschäftsstelle in Long Beach. Vielleicht haben Sie von ihm gehört. Frederick Kincaid?«

Der Name sagte mir nichts. Der Gerichtsdiener öffnete die Tür des Gerichtssaals sperrangelweit. Es wurde eine Verhandlungspause eingelegt, die Geschworenen strömten in die Mittagspause. Ihr Gehabe war ernst und feierlich, wie es sich für den Anlass gehörte. Alex Kincaid musterte sie so argwöhnisch, als fürchtete er, sie würden ein Urteil über ihn fällen.

»Man kann hier nicht reden«, sagte er. »Erlauben Sie, dass ich Sie zum Mittagessen einlade.«

»Wir können gern zu Mittag essen. Aber auf getrennte Rechnung.« Ich wollte ihm nichts schuldig sein, jedenfalls nicht, bevor ich seine Geschichte gehört hatte.

Es gab ein Restaurant gleich um die Ecke. Der Hauptraum war verraucht und laut. Die Tische mit den rotkarierten Decken waren allesamt besetzt, unter den Gästen waren viele Gerichtsangestellte, Anwälte, Polizisten und Bewährungshelfer. Obwohl Pacific Point sich fünfzig Meilen südlich meines üblichen Reviers befand, {9}kannte ich ein knappes Dutzend dieser Leute zumindest vom Sehen.

Alex und ich gingen in die Bar und fanden zwei Hocker in einer schummrigen Ecke. Er bestellte einen doppelten Scotch auf Eis. Ich schloss mich an. Er schluckte seinen hinunter wie Medizin und wollte sogleich eine neue Runde ordern.

»Sie legen ein ganz schönes Tempo vor. Immer mit der Ruhe.«

»Wollen Sie mir etwa Vorschriften machen?«, sagte er ebenso heftig wie gereizt.

»Ich bin bereit, mir Ihre Geschichte anzuhören. Sie sollten aber auch noch in der Lage sein, sie zu erzählen.«

»Halten Sie mich für einen Alkoholiker, oder was?«

»Ich halte Sie für ein Nervenbündel. Und es ist noch keinem Nervenbündel gut bekommen, Alkohol in sich hineinzuschütten. Und wo wir schon bei den guten Ratschlägen sind: Reagieren Sie nicht immer so empfindlich. Sie wollen doch nicht für eine Mimose gehalten werden, oder?«

Eine Weile saß er mit gesenktem Kopf da. Sein Gesicht war beinahe durchsichtig vor Blässe, und ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper.

»Ich bin nicht ganz bei mir, zugegeben. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass mir so etwas zustößt.«

»Es wird langsam Zeit, dass Sie mir erzählen, was passiert ist. Fangen Sie am besten ganz von vorne an.«

»Sie meinen, ab dem Moment, wo sie das Hotel verlassen hat?«

»Meinetwegen. Fangen Sie mit dem Hotel an.«

{10}»Wir waren im Surf House abgestiegen, hier direkt in Pacific Point. Eigentlich kann ich mir das gar nicht leisten, aber Dolly wollte gern einmal erleben, wie es sich in so einem feinen Hotel wohnt – es war das erste Mal für sie. Und ich dachte mir, so ein verlängertes Wochenende würde mich schon nicht gleich in den Ruin treiben. Es war das Wochenende vor dem Labor Day. Ich hatte meine Urlaubstage schon aufgebraucht, daher haben wir an dem Samstag geheiratet, damit wir wenigstens drei Tage flittern konnten.«

»Wo sind Sie getraut worden?«

»In Long Beach, von einem Friedensrichter.«

»Hört sich ganz nach einer Spontanhochzeit an.«

»Das war es in gewisser Weise auch. Wir kannten uns noch nicht allzu lange. Dolly war es eigentlich, die baldmöglichst heiraten wollte. Glauben Sie aber nicht, dass ich mich gesträubt hätte. Im Gegenteil. Meine Eltern fanden allerdings, wir sollten noch ein bisschen warten. Zuerst mal ein Haus suchen, es einrichten und so weiter. Sie hätten sich auch eine kirchliche Trauung gewünscht. Aber Dolly wollte von einem Richter getraut werden.«

»Und Dollys Eltern, was haben die dazu gesagt?«

»Die sind tot. Sie hat keine lebenden Angehörigen.« Er wandte langsam den Kopf und sah mich an. »Behauptet sie jedenfalls.«

»Sie scheinen gewisse Zweifel zu hegen.«

»Nicht direkt. Es war nur so, dass sie sich ganz schön ereifert hat, als ich sie nach ihren Eltern fragte. Ich wollte sie gern kennenlernen, ist doch klar, aber sie hat so getan, als würde ich meine Nase in Dinge stecken, die mich {11}nichts angingen. Schließlich ist sie damit herausgerückt, dass ihre gesamte Familie bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei.«

»Wo ist das passiert?«

»Das weiß ich nicht. Wenn man’s genau nimmt, weiß ich überhaupt nicht viel über meine Frau. Außer, dass sie ein wunderbares Mädchen ist«, fügte er in einer loyalen, vom Whisky befeuerten Anwandlung hinzu. »Sie ist schön und intelligent und gutherzig, und ich weiß, dass sie mich liebt.« Er verfiel in eine Art feierlichen Gesang, als könnte er sich die Realität durch Wunschdenken oder reine Beschwörung zurechtbiegen.

»Wie war ihr Mädchenname?«

»Dolly McGee. Eigentlich heißt sie Dorothy. Sie hat in der Universitätsbibliothek gearbeitet, während ich mich für einen Sommerkurs angemeldet hatte in Betriebswirt –«

»Jetzt, diesen Sommer?«

»Ganz recht.« Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte wie ein rasender Schmerz. »Wir kannten uns erst sechs Wochen – sechseinhalb Wochen –, als wir geheiratet haben. Aber in diesen sechseinhalb Wochen haben wir uns jeden Tag gesehen.«

»Was haben Sie zusammen angestellt?«

»Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.«

»Vielleicht doch. Ich versuche, mir eine Vorstellung über ihre persönlichen Gewohnheiten zu machen.«

»Sie hatte keine schlechten Gewohnheiten, falls es das ist, worauf Sie abzielen. Ich durfte nie trinken, wenn wir ausgegangen sind. Sie hatte auch kein großes Interesse {12}daran, ins Kaffeehaus oder ins Kino zu gehen. Sie war – sie ist eine sehr ernste Person. Meistens haben wir uns einfach unterhalten – sind spazieren gegangen und haben geredet. Ich glaube, wir sind praktisch den ganzen Westen von Los Angeles abgelaufen.«

»Worüber haben Sie sich unterhalten?«

»Über den Sinn des Lebens«, sagte er, als verstünde sich das von selbst. »Wir haben versucht, einen Plan zu entwickeln, nach dem wir unser Leben ausrichten wollten, Regeln für unsere Ehe und unsere Kinder. Die Kinder waren für Dolly die Hauptsache. Sie wollte sie zu selbständigen Menschen erziehen. Sie sagte, es sei wichtiger, ein ehrlicher Mensch zu sein, als nach Sicherheit, weltlichem Besitz und so weiter zu streben. Aber ich will Sie nicht mit derlei Dingen langweilen.«

»Keine Sorge. Sie war also, wenn ich recht verstehe, vollkommen aufrichtig?«

»Aufrichtiger geht es gar nicht. Im Ernst. Sie hat mich sogar gedrängt, ich solle meinen Job aufgeben und an die Uni zurückgehen, um meinen Abschluss nachzumachen. Sie fand, ich solle kein Geld von meiner Familie annehmen. Sie war bereit, arbeiten zu gehen, um mir über die Runden zu helfen. Aber diesen Plan haben wir wieder fallenlassen, als wir beschlossen, schnell zu heiraten.«

»Es war aber keine Mussheirat?«

Er sah mich mit steinerner Miene an. »Zwischen uns gab es nichts dergleichen. Tatsächlich haben wir nicht einmal – ich meine, in der Hochzeitsnacht habe ich sie nicht angerührt. Offenbar hat die ganze Atmosphäre im Surf House sie nervös gemacht, obwohl sie es ja war, die {13}dorthin wollte. Also haben wir beschlossen, das Körperliche noch aufzuschieben. Das machen viele Paare heutzutage so.«

»Was hält Dolly von Sex?«

»Viel. Wir haben sehr offen darüber gesprochen. Falls Sie glauben, sie hätte mich verlassen, weil sie Angst davor hatte, liegen Sie völlig falsch. Sie ist ein leidenschaftlicher Mensch.«

»Warum hat sie Sie verlassen, Alex?«

Sein Blick umwölkte sich, der Kummer trat deutlicher hervor denn je. »Ich kann es mir einfach nicht erklären. Es hat nichts mit der Beziehung zwischen mir und Dolly zu tun, da bin ich sicher. Wahrscheinlich hat der Mann mit dem Bart seine Finger drin.«

»Ein Mann mit Bart, wie passt der ins Bild?«

»Er tauchte an jenem Nachmittag im Hotel auf – am Tag ihres Verschwindens. Ich war am Strand, um ein bisschen zu schwimmen, und hinterher bin ich in der Sonne eingeschlafen. Ich muss ein, zwei Stunden weggewesen sein. Als ich ins Zimmer zurückkam, war sie nicht mehr da, Gepäck, Handtasche, alles mitgenommen. Am Empfang sagte man mir, sie habe einen Besucher gehabt, bevor sie gegangen sei, einen Mann mit grauem Backenbart, der ungefähr eine Stunde lang im Zimmer geblieben sei.«

»Kein Name?«

»Seinen Namen hat er nicht genannt.«

»Sind er und Ihre Frau zusammen weggegangen?«

»Der Rezeption zufolge nicht. Der Mann ist zuerst gegangen. Dann hat Dolly sich ein Taxi zum {14}Busbahnhof genommen, aber soweit ich ermitteln konnte, hat sie dort keine Fahrkarte gekauft. Sie hat auch kein Bahn- oder Flugzeugticket erworben. Ein Auto hatte sie nicht. Deswegen bin ich davon ausgegangen, dass sie sich noch immer in Pacific Point aufhält. Sie wird ja nicht über den Freeway gewandert sein.«

»Sie könnte per Anhalter gefahren sein.«

»Dolly? Niemals.«

»Wo hat sie gewohnt, bevor Sie geheiratet haben?«

»In Westwood, in einer möblierten Wohnung. Die hat sie gekündigt, und am Samstagvormittag, kurz vor der Trauung, haben wir ihre Schreibmaschine und ihre sonstige Habe in meine Wohnung geschafft. Die Sachen sind alle noch da, und das ist es unter anderem, was mich beunruhigt. Ich bin alles gründlich durchgegangen, auf der Suche nach Hinweisen, aber sie hat keine hinterlassen – etwas wirklich Persönliches ist nicht dabei.«

»Glauben Sie, es war ihr Plan, Sie zu heiraten und gleich wieder zu verlassen?«

»Nein. Wozu sollte das gut sein?«

»Da fallen mir mehrere Möglichkeiten ein. Sind Sie zum Beispiel hoch versichert?«

»Einigermaßen. Dad hat bei meiner Geburt eine Versicherung für mich abgeschlossen. Aber der Nutznießer ist immer noch er.«

»Ist Ihre Familie reich?«

»Nicht übermäßig. Dad verdient gut, aber er muss dafür auch arbeiten. Wie auch immer, was Sie da andeuten, ist vollkommen abwegig. Dolly ist durch und durch ehrlich, und außerdem macht sie sich nichts aus Geld.«

{15}»Woraus macht sie sich denn etwas?«

»Aus mir, dachte ich«, sagte er mit gesenktem Kopf. »Und eigentlich glaube ich das immer noch. Irgendetwas muss ihr zugestoßen sein. Vielleicht ist sie durchgedreht.«

»War sie psychisch labil?«

Er dachte über die Frage nach und legte sich eine Antwort zurecht. »Ich glaube nicht. Natürlich hatte sie ihre Tiefs. Das geht ja wohl den meisten Leuten so. Nein, das war eben einfach so ins Blaue geredet.«

»Machen Sie ruhig weiter damit. Man weiß nie, was sich hinterher als wichtig erweist. Sie haben natürlich eine Suchaktion gestartet?«

»Soweit es mir möglich war. Aber so ganz allein, ohne jede Hilfe der Polizei, kommt man nicht weit. Die schreiben alles, was ich sage, auf kleine Zettel, dann verstauen sie sie in der Schublade und sehen mich mitleidig an. Anscheinend glauben sie, Dolly hätte in der Hochzeitsnacht etwas Beschämendes über mich herausgefunden.«

»Könnte diese Vermutung ein Fünkchen Wahrheit enthalten?«

»Nein! Wir waren ganz verrückt nacheinander. Das habe ich auch dem Sheriff heute Morgen klarzumachen versucht. Aber er hat mir nur so einen anzüglichen Blick zugeworfen und gemeint, er könne keine Maßnahmen ergreifen, solange kein Hinweis vorliege, dass die öffentliche Ordnung gestört sei. Ich habe ihn gefragt, ob das Verschwinden einer Frau kein solcher Hinweis sei, und er sagte: nein. Sie sei ein freier Mensch, sie sei aus eigenem Antrieb gegangen, und ich hätte keine rechtliche {16}Handhabe, sie zur Rückkehr zu zwingen. Er gab mir den Rat, die Ehe annullieren zu lassen. Ich sagte ihm, wohin er sich seinen Rat stecken könne, daraufhin hat er mich von zweien seiner Leute aus dem Büro werfen lassen. Ich habe mich dann erkundigt, wo ich den stellvertretenden Staatsanwalt finde, nämlich im Gericht, und dort habe ich gewartet, um Beschwerde einzureichen – da sah ich Sie dann zufällig im Zeugenstand.«

»Es hat Sie also niemand zu mir geschickt?«

»Nein, aber ich kann Referenzen vorweisen. Mein Vater –«

»Von Ihrem Vater haben Sie bereits gesprochen. Er ist auch der Meinung, Sie sollten die Ehe annullieren lassen.«

Alex nickte traurig. »Dad meint, ich vergeude nur meine Zeit mit einem Mädchen, das es nicht wert sei.«

»Vielleicht hat er recht.«

»Auf keinen Fall. Dolly ist die einzige Frau, die ich je geliebt habe, und die einzige, die ich je lieben werde. Wenn Sie mir nicht helfen, suche ich mir jemand anders.«

Seine Beharrlichkeit gefiel mir. »Ich bin aber nicht billig. Hundert pro Tag plus Spesen.«

»Ich habe genug, um Sie für mindestens eine Woche zu bezahlen.« Er zückte seine Brieftasche und knallte sie so heftig auf den Tresen, dass der Barkeeper ihn misstrauisch musterte. »Wollen Sie einen Vorschuss in bar?«

»Das eilt nicht«, sagte ich. »Haben Sie ein Bild von Dolly?«

Er zog ein zusammengefaltetes Stück Zeitung aus der Brieftasche, übergab es mir jedoch recht zögerlich, als wäre es wertvoller als Geld. Es war ein Ausschnitt mit {17}einem Foto, schon etliche Male zur Hand genommen und wieder zusammengefaltet.

»Zu den glücklichen Flitterwöchnern im Surf House«, lautete die Bildunterschrift, »gehören auch Mr. und Mrs. Alex Kincaid aus Long Beach.« Alex und seine Braut lächelten mir durch trübes Licht entgegen. Sie hatte ein ovales Gesicht von eigenwilliger Schönheit, in ihrem Blick schlummerte Intelligenz, und die Lippen umspielte ein bittersüßer Hauch von Ironie.

»Wann ist das aufgenommen worden?«

»Samstag vor drei Wochen, gleich nachdem wir im Surf House eingetroffen waren. Das ist ein Service des Hauses. Das Foto wurde in der Sonntagszeitung abgedruckt, und ich habe es gleich ausgeschnitten. Zum Glück. Es ist das einzige Bild von ihr, das ich habe.«

»Sie könnten sich Abzüge besorgen.«

»Woher?«

»Von dem, der die Fotos gemacht hat.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich werde mich an den Hotelfotografen wenden. Wie viele Abzüge sollte ich machen lassen?«

»Zwei oder drei Dutzend auf jeden Fall. Im Zweifelsfall lieber zu viele als zu wenige.«

»Das wird nicht billig sein.«

»Genauso wenig wie ich.«

»Legen Sie es darauf an, sich um diesen Auftrag zu bringen?«

»Angewiesen bin ich nicht darauf, und ein bisschen Ruhe könnte ich auch gebrauchen.«

»Dann scheren Sie sich zum Teufel.«

{18}Er griff nach dem mürben Zeitungsfetzen zwischen meinen Fingern. Der zerriss genau in der Mitte. Wir standen einander wie erbitterte Feinde gegenüber, jeder mit einer Hälfte des glücklichen Hochzeitspaars in der Hand.

Alex brach in Tränen aus.

2

Während des Lunchs erklärte ich mich bereit, ihm bei der Suche nach seiner Frau zu helfen. Diese Zusage im Verein mit der Hühnerpastete besänftigte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas gegessen hatte, und fiel entsprechend heißhungrig über seinen Teller her.

Wir fuhren in zwei Autos zum Surf House. Es lag am Meer im besseren Teil der Stadt: ein Pueblo-Hotel, dessen hängende Gärten mit Cottages für hundert Dollar pro Tag übersät waren. Das terrassierte Gelände vor dem Hauptgebäude führte in breiten grünen Stufen zu einem hauseigenen Jachthafen hinunter. Segelboote und Barkassen schaukelten an den Anlegern. Draußen auf dem Meer, jenseits der Felszunge, der Pacific Point seinen Namen verdankte, lehnten weiße Segel sich gegen eine niedrige graue Nebelwand.

Der in einem piekfeinen Anzug steckende Mann am Empfang zeigte sich zwar überaus höflich und hilfsbereit, hatte aber an dem Samstag, der mich interessierte, keinen Dienst gehabt. Und der betreffende Kollege, stellte sich heraus, war eine Aushilfskraft für den {19}Sommer gewesen, ein Student, der inzwischen in sein College im Osten zurückgekehrt war. Er selbst, müsse er zu seinem großen Bedauern sagen, wisse rein gar nichts über Mrs. Kincaids bärtigen Besucher oder ihre Abreise.

»Ich würde mich gern mit dem Hotelfotografen unterhalten. Ist der im Moment greifbar?«

»Ja, Sir. Ich glaube, er ist draußen am Swimmingpool.«

Wir hatten ihn bald aufgespürt. Er war nicht zu verkennen. Staksig wie ein Seevogel, trug er eine schwere Kamera um den Hals. Zwischen all der bunten Strand- und Badebekleidung wirkte er in seinem dunklen Straßenanzug wie ein Leichenbestatter. Er war damit beschäftigt, ein paar sehr gewagte Aufnahmen von einer Dame mittleren Alters zu machen, die besser beraten gewesen wäre, keinen Bikini zu tragen. Ihr glänzender Bauchnabel starrte in die Kamera wie eine leere Augenhöhle.

Als er seinen trostlosen Job erledigt hatte, wandte der Fotograf sich lächelnd zu Alex um. »Hi. Wie geht’s der werten Gattin?«

»Ich habe sie seit längerem nicht mehr gesehen«, sagte Alex niedergeschlagen.

»Waren Sie nicht erst kürzlich auf Hochzeitsreise? Habe ich Sie nicht fotografiert?«

Alex antwortete nicht. Er wirkte unter den müßig am Pool lagernden Gästen wie ein Gespenst, das sich verzweifelt in Erinnerung zu rufen versucht, was es heißt, ein Mensch zu sein. Ich sagte:

»Wir möchten Sie um ein paar Abzüge Ihres Fotos bitten. Mrs. Kincaid wird vermisst, und ich bin Privatdetektiv. Mein Name ist Archer.«

{20}»Fargo. Simmy Fargo.« Er griff nach meiner Hand und bannte mich auf seine Linse wie eine Kamera, die ein Bild für die Ewigkeit schießt. »Inwiefern vermisst?«

»Näheres wissen wir noch nicht. Am Nachmittag des zweiten Septembers hat sie das Haus in einem Taxi verlassen. Seither ist Kincaid auf der Suche nach ihr.«

»Üble Sache«, sagte Fargo. »Ich nehme an, Sie brauchen die Abzüge für eine öffentliche Suchaktion. Wie viele wären denn nötig?«

»Drei Dutzend?«

Er pfiff durch die Zähne und schlug sich gegen die schmale, gefurchte Stirn. »Ich habe ein volles Wochenende vor mir, und es hat sogar schon angefangen. Heute ist Freitag. Ich könnte sie Ihnen bis Montag fertig machen. Aber ich schätze, Sie wollen sie spätestens bis gestern?«

»Heute würde reichen.«

»Damit kann ich nicht dienen.« Er zuckte ratlos mit den Schultern, wobei die Kamera auf seiner Brust hin- und herhüpfte.

»Es könnte wichtig sein, Fargo. Wie wär’s, wenn wir uns auf ein Dutzend beschränken, in zwei Stunden?«

»Ich würde Ihnen ja gern helfen. Aber ich habe hier einen Job.« Langsam, fast widerwillig, drehte er sich um und sah Alex an. »Passen Sie auf, ich mache Folgendes: Ich sage meiner Frau Bescheid, und Sie kriegen Ihre Abzüge. Lassen Sie mich aber nicht hängen, so wie der andere kürzlich.«

»Welcher andere?«, sagte ich.

»So ein Großer mit Bart. Hat einen Abzug desselben {21}Fotos bestellt, ihn aber nie abgeholt. Diesen Abzug können Sie übrigens sofort haben, wenn Sie möchten.«

Alex erwachte aus seiner Trance. Er packte Fargos Arm mit beiden Händen und schüttelte ihn. »Sie haben ihn also gesehen? Wer ist er?«

»Ich dachte, Sie würden ihn kennen.« Fargo machte sich frei und trat einen Schritt zurück. »Tatsächlich kam er mir selber auch bekannt vor. Ich möchte schwören, dass ich ihn mal fotografiert habe. Aber ich konnte das Gesicht nicht zuordnen. Ich habe einfach zu viele Gesichter gesehen.«

»Hat er Ihnen seinen Namen genannt?«

»Muss er wohl. Ohne Namen nehme ich keine Bestellungen an. Gucken wir mal, ob ich ihn wiederfinde.«

Wir folgten ihm ins Hotel und durch ein Labyrinth von Fluren bis zu seinem kleinen unaufgeräumten, fensterlosen Büro. Nachdem er seine Frau angerufen hatte, wühlte er sich durch einen Berg von Papieren auf seinem Schreibtisch und brachte schließlich einen Fotoumschlag zum Vorschein. Darin befand sich, zwischen zwei Bögen Wellpappe, ein Hochglanzfoto der Jungvermählten. Auf der Vorderseite des Umschlags hatte Fargo mit Bleistift notiert: »Chuck Begley, Weinkeller.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte er. »Er gab an, er würde im Weinkeller arbeiten. Das ist ein Spirituosengeschäft nicht weit von hier. Weil Begley sich nicht blicken ließ, um sein Bild abzuholen, habe ich dort angerufen. Man sagte mir, dass Begley nicht mehr bei ihnen beschäftigt sei.« Fargo sah von mir zu Alex. »Sagt Ihnen der Name Begley etwas?«

{22}Wir verneinten beide. »Können Sie ihn beschreiben, Mr. Fargo?«

»Ich kann den Teil von ihm beschreiben, der nicht mit Seetang bedeckt war, also mit dem Bart. Seine Haare sind grau, genau wie der Bart, sehr dicht und gewellt. Graue Augenbrauen und graue Augen, eine ganz normale gerade Nase, auf der er einen Sonnenbrand hatte, wie mir aufgefallen ist. Für einen Mann seines Alters sieht er nicht schlecht aus, abgesehen von den Zähnen, die sind nicht besonders. Und wenn mich nicht alles täuscht, war er schon einige Male in Prügeleien verwickelt. Ich persönlich würde mich nicht mit ihm anlegen wollen. Er ist ziemlich groß und macht einen rabiaten Eindruck.«

»Wie groß?«

»Gut und gern zehn Zentimeter größer als ich. Also schätzungsweise so um die eins neunzig. Er trug ein kurzärmeliges Sporthemd, daher konnte ich seine Armmuskeln gut erkennen.«

»Wie hat er gesprochen?«

»Unauffällig. Er hat sich nicht besonders gewählt ausgedrückt, aber auch nicht primitiv.«

»Hat er Ihnen verraten, warum er das Bild haben wollte?«

»Aus sentimentalen Gründen, meinte er. Er hatte es in der Zeitung gesehen, und es erinnerte ihn an jemanden. Ich weiß noch, wie ich dachte, er müsse sofort losgelaufen sein. Die Zeitung mit dem Bild ist am Sonntagmorgen erschienen, und Sonntagmittag stand er hier auf der Matte.«

{23}»Er muss gleich danach zu Ihrer Frau gegangen sein«, sagte ich zu Alex. Und zu Fargo: »Wie kam es eigentlich, dass gerade dieses Bild in der Zeitung abgedruckt wurde?«

»Sie haben es aus einem ganzen Stoß ausgewählt, den ich hingeschickt hatte. Die Press bringt häufig Fotos von mir, früher war ich da sogar mal angestellt. Warum sie sich nun gerade für dieses Bild entschieden haben, kann ich nicht sagen.« Er hielt das Foto gegen die Leuchtstofflampe, bevor er es mir reichte. »Es ist recht gut geworden, und Mr. Kincaid und seine Frau sind ein attraktives Paar.«

»Danke für die Blumen«, sagte Alex sarkastisch.

»Das sollte ein Kompliment sein, mein Freund.«

»Aber sicher doch.«

Ich nahm Fargo das Foto ab und schob Alex aus dem Zimmer, bevor es zu klein für ihn wurde. Immer wieder schoss der Kummer in ihm hoch und verwandelte sich in bittere Galle, sobald er mit der Außenluft in Berührung kam. Er trauerte nicht nur seiner Eintagsfrau hinterher, er war auch um seiner selbst willen verbittert. Er wusste offenbar nicht mehr, ob er sich noch als ganzer Mann fühlen durfte.

Ich konnte ihm seine Gefühle nicht verargen, aber eine Hilfe war er mir in dieser Stimmung nicht. Als ich den Weinkeller ausfindig gemacht hatte, der einige Blocks landeinwärts zwischen einer Reihe von Motels lag, ließ ich ihn deshalb in seinem kleinen roten Sportwagen warten.

In dem Spirituosenladen war es angenehm kühl. Ich {24}war der einzige potentielle Kunde. Der Mann hinter dem Verkaufstresen kam mir erwartungsfroh entgegen.

»Was kann ich für Sie tun, Sir?«

Er trug eine karierte Weste und besaß die teigige Aussprache, die wässrigen Augen und die gerötete Haut eines Mannes, der den ganzen Tag und gern auch die halbe Nacht trinkt.

»Ich möchte mit Chuck Begley sprechen.«

Er machte ein etwas gequältes Gesicht, und in seiner Stimme schwang Tadel mit. »Ich musste Chuck rausschmeißen. Wenn ich ihn mit einer Lieferung losgeschickt habe, kam sie manchmal pünktlich am richtigen Ort an, manchmal aber auch nicht.«

»Wann haben Sie ihn gefeuert?«

»Vor ein paar Wochen. Er war auch nur wenige Wochen bei mir. Er ist für diese Sorte Arbeit nicht gemacht. Ich habe ihm mehr als einmal gesagt, dass er damit unterfordert ist. Chuck Begley ist eigentlich ein gescheiter Kerl, wenn er sich nur mal am Riemen reißen würde, na ja, Sie wissen schon.«

»Nein, keine Ahnung.«

»Ich dachte, Sie wären ein Bekannter von ihm.«

Ich zeigte ihm meine Lizenz.

Er blies mir Pfefferminzgeruch ins Gesicht. »Ist Begley auf der Flucht?«

»Möglich. Warum?«

»Als er hier anfing, habe ich mich gleich gefragt, warum so einer einen Teilzeitjob als Ausfahrer annimmt. Weswegen wird er gesucht?«

»Da bin ich überfragt. Hätten Sie seine Privatadresse?«

{25}»Ja, ich glaube schon.« Er rieb sich die geäderte Nase und sah mich über seine Finger hinweg an. »Sagen Sie Begley nicht, dass ich Ihnen Auskunft gegeben habe. Ich möchte nicht, dass er mir deswegen die Hölle heißmacht.«

»Keine Sorge.«

»Er hält sich oft im Haus einer meiner Kundinnen auf. Als nichtzahlender Gast, könnte man sagen. Ich möchte ihr auf keinen Fall Ärger bereiten. Andererseits«, überlegte er, »falls Begley tatsächlich auf der Flucht vor der Polizei ist, tue ich ihr einen Gefallen, wenn ich dazu beitrage, dass er geschnappt wird. Stimmt’s?«

»Würde ich auch sagen. Wo wohnt sie denn?«

»Shearwater Beach, in der Nummer siebzehn. Ihr Name ist Madge Gerhardi. Nehmen Sie den Freeway Richtung Süden, nach ein paar Kilometern sehen Sie die Abfahrt Shearwater. Aber verraten Sie bloß keinem von beiden, dass ich Sie geschickt habe. Okay?«

»Okay.« Ich überließ ihn der Obhut seiner Flaschen.

3

Wir parkten unsere Autos am Ende der Zufahrtsstraße. Ich konnte Alex überreden, in seinem sitzen zu bleiben und sich nicht blicken zu lassen. Shearwater Beach entpuppte sich als eine Art Edelslum mit mehreren Dutzenden von Strandhütten auf Pfählen, die alle in einer Reihe standen. Durch die schmalen Lücken dazwischen flimmerte der blaue Widerschein des Meeres. Über den spitzen Dächern, weit draußen über dem Wasser, kreiste {26}eine Meerschwalbe mit blitzenden Flügeln, auf der Jagd nach Fisch.

Nummer siebzehn konnte einen neuen Anstrich vertragen und stützte sich auf seine Pfeiler wie ein Mann auf Krücken. Ich klopfte an die verschrammte graue Tür. Langsam, als würden Körper über den Boden geschleift, näherten sich Schritte von der anderen Seite. Dann stand der Bärtige in der Tür.

Er war ein Mann um die fünfzig, dessen Kopf aus dem offenen Kragen seines schwarzen Hemds wie ein verwitterter Felsblock hervorragte. Die Sonne schlug glimmende Funken aus seinen Augen. Die Fingernägel der Hand, mit der er die Tür umkrallte, waren restlos abgekaut. Als er bemerkte, dass ich hinstarrte, ballte er sie zur Faust.

»Ich bin auf der Suche nach einer vermissten jungen Frau, Mr. Begley«, kam ich ohne Umschweife zur Sache. »Sie könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein, und in diesem Fall wären Sie womöglich der Letzte, der sie lebend gesehen hat.«

Er rieb sich die Wange mit der geballten Faust. Die Vergangenheit hatte handfeste Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, neben seinen Augensäcken zeigte sich eine dünne Narbe an der Schläfe, von Nahtstichen unterteilt wie ein Miniaturlineal. Eine Vergangenheit, die jederzeit wieder lebendig werden konnte.

»Sie sind wohl verrückt. Ich kenne überhaupt keine jungen Frauen.«

»Du kennst mich«, sagte eine Frau hinter ihm. Sie lehnte sich gegen seine Schulter und wartete darauf, dass jemand die selbst verabreichte Schmeichelei bekräftigte. {27}Sie war etwa in Begleys Alter, wenn nicht darüber hinaus. Ihr Körper steckte sehr selbstbewusst in Shorts und einem rückenfreien Oberteil. Vom regelmäßigen Färben und Bleichen standen ihr die Haare wie bei einer Clownsperücke vom Kopf ab. Ihre ginfarbenen Augen waren von tiefblauem Lidschatten eingefasst.

»Tut mir sehr leid, aber Sie müssen sich täuschen«, sagte sie mit einem kultivierten Ostküstenakzent, der aber gleich darauf in sich zusammenfiel. »Ich schwöre bei allen Heiligen, dass Chuck nichts mit irgendwelchen jungen Dingern zu schaffen hatte. Er war viel zu beschäftigt damit, sich um meine Wenigkeit zu kümmern.« Sie schlang einen drallen weißen Arm um seinen Nacken. »Nicht wahr, Liebling?«

Begley steckte zwischen mir und der Frau fest. Ich zeigte ihm Fargos Hochglanzfoto der Flitterwöchner.

»Sie kennen dieses Mädchen, nicht wahr? Ihr Name, das heißt, ihr Ehename, ist Dolly Kincaid.«

»Nie von ihr gehört.«

»Zeugen berichten mir etwas anderes. Nämlich dass Sie sie im Surf House besucht haben, am Sonntag vor drei Wochen. Sie haben ihr Foto in der Zeitung gesehen und beim Fotografen des Surf Houses einen Abzug bestellt.«

Die Frau schraubte ihren Arm fester um seinen Nacken, es sah jetzt mehr nach Ringkampf aus als nach Liebkosung. »Wer ist sie, Chuck?«

»Ich habe keine Ahnung.« Aber dann murmelte er: »Geht also alles wieder von vorne los.«

»Was geht alles wieder von vorne los?«

Die Frau klaute mir ständig meinen Text.

{28}»Könnte ich bitte mit Mr. Begley allein sprechen?«

»Er hat keine Geheimnisse vor mir«, erklärte sie stolz, wenn auch der Stolz etwas von Sorge angefressen schien. »Stimmt’s, Liebling? Wir werden bald heiraten, nicht wahr, Liebling?«

»Kannst du mal aufhören, mich Liebling zu nennen? Wenigstens für fünf Minuten? Bitte?«

Den Tränen nahe, wich sie zurück; die roten Mundwinkel hingen herab wie bei einem schwermütigen Clown.

»Bitte, geh ins Haus«, sagte er. »Lass mich mit dem Mann reden.«

»Das ist mein Haus. Ich habe ein Recht zu wissen, was in meinem eigenen Haus vor sich geht.«

»Ja, sicher, Madge. Aber als Mitbewohner genieße ich auch ein paar Rechte. Geh rein, und trink einen Kaffee.«

»Bist du in Schwierigkeiten?«

»Nein. Natürlich nicht.« Aber seine Stimme klang resigniert. »Bist doch ein braves Mädchen, also verzieh dich, okay?«

Das Zugeständnis, ein braves Mädchen zu sein, schien sie zu besänftigen. Langsam, sich mehrfach nach uns umdrehend, verschwand sie im Flur. Begley schloss die Tür und stellte sich von außen davor.

»Jetzt können Sie mir die Wahrheit sagen«, sagte ich.

»Na schön, ich habe sie im Hotel aufgesucht. Es war eine dumme Anwandlung. Das macht mich aber nicht zum Mörder.«

»Das hat auch niemand gesagt, nur Sie.«

»Ich dachte, ich erspare Ihnen die Mühe.« Er breitete {29}die Arme aus, als wolle er sich auf der Stelle kreuzigen lassen. »Sie sind vermutlich von der örtlichen Polizei?«

»Ich arbeite mit der Polizei zusammen«, sagte ich etwas waghalsig. »Mein Name ist Archer. Sie haben mir noch nicht erklärt, warum Sie Mrs. Kincaid aufgesucht haben. Wie gut kannten Sie sie?«

»Ich kannte sie überhaupt nicht.« Er ließ die ausgestreckten Arme theatralisch fallen. Die Mundwinkel wurden von seinem Bart verdeckt, daher konnte ich nicht sehen, was er damit anstellte. Seine grauen Augen waren ausdruckslos. »Ich dachte, ich würde sie kennen, aber das war ein Irrtum.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich dachte, sie könnte meine Tochter sein. Auf dem Zeitungsfoto war die Ähnlichkeit ziemlich groß, in natura aber weniger. Mein Irrtum war allerdings verständlich, schließlich habe ich meine Tochter ewig nicht mehr gesehen.«

»Wie heißt Ihre Tochter?«

Er zögerte. »Mary. Mary Begley. Wir haben über zehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt. Ich war außer Landes, am anderen Ende der Welt.« Er sagte es in einem Ton, als wäre es mindestens die andere Seite des Mondes gewesen.

»Ihre Tochter war dann wohl noch recht jung, als Sie weggegangen sind.«

»Ja. Zehn oder elf.«

»Und Ihnen muss viel an ihr liegen«, sagte ich, »wenn Sie sich ein Foto bestellen, nur weil es Sie an sie erinnert.«

{30}»Ja, sie hat mir viel bedeutet.«

»Warum haben Sie das Bild dann nicht abgeholt?«

Er versank in tiefes Schweigen. Es war, wurde mir bewusst, etwas durchaus Bemerkenswertes an dem Mann, wie die unantastbare Würde eines betagten Tieres.

»Ich hatte Angst, dass Madge eifersüchtig werden würde«, sagte er. »Zufällig lebe ich von ihr.«

Ich hatte den Verdacht, dass sich hinter diesem unverblümten Geständnis eine Lüge verbarg. Vielleicht hatte sie aber auch eine tiefer sitzende Ursache. Es gibt Leute, die sich ihr ganzes Leben lang für die bloße Tatsache bestrafen, dass sie geboren wurden, und Begley wies einige der Wundmale eines Menschen auf, der keinem Ärger aus dem Weg geht. Er sagte:

»Was, glauben Sie, ist Mrs. Kincaid zugestoßen?« Sein Ton, kalt und formell, bestritt jedes Interesse an einer Beantwortung seiner Frage.

»Ich hatte gehofft, dass Sie mir etwas zu diesem Thema sagen könnten. Sie wird seit fast drei Wochen vermisst, und das gefällt mir nicht. Sicher, ständig verschwinden irgendwelche Mädchen, aber nicht während ihrer Flitterwochen – nicht, wenn sie ihren Mann lieben.«

»Und sie liebt ihren Mann, ja?«

»Er glaubt es jedenfalls. Was machte sie für einen Eindruck auf Sie? War sie niedergeschlagen?«

»Das würde ich nicht sagen. Sie war einfach überrascht über meinen Besuch.«

»Weil sie Sie so lange nicht gesehen hatte?«

In seinem Bart machte sich ein Grinsen breit. »Sparen Sie sich die Mühe, mich reinlegen zu wollen. Ich habe {31}Ihnen schon gesagt, dass sie nicht meine Tochter ist. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer ich bin.«

»Worüber konnten Sie sich dann unterhalten?«

»Wir haben uns nicht unterhalten.« Er machte eine Pause. »Kann sein, dass ich ihr ein paar Fragen gestellt habe.«

»Zum Beispiel?«

»Wer ihr Vater war. Wer ihre Mutter war. Wo sie herkommt. Sie sagte, sie komme aus Los Angeles. Ihr Mädchenname war Dolly Soundso – hab den Namen vergessen. Ihre Eltern sind beide schon tot. Das war so ziemlich alles.«

»Da haben Sie aber viel Zeit gebraucht, um ihr diese paar Informationen zu entlocken.«

»Ich war nur fünf oder zehn Minuten dort, höchstens fünfzehn.«

»Der Mann vom Empfang sprach von einer Stunde.«

»Dann hat er sich getäuscht.«

»Oder aber Sie haben sich getäuscht, Mr. Begley. Die Zeit vergeht manchmal schneller, als man denkt.«

Er griff bereitwillig nach dem hingehaltenen Strohhalm. »Möglich, dass ich länger geblieben bin, als mir klar war. Jetzt fällt’s mir wieder ein, sie wollte, dass ich noch ein bisschen bleibe, um ihren Mann kennenzulernen.« Sein Blick blieb ungerührt, auch wenn ich glaubte, darin kurz den Schimmer der Lüge aufblitzen zu sehen. »Aber er kam und kam nicht wieder, daher bin ich dann gegangen.«

»Haben Sie ihr vorgeschlagen, sich mal wiederzutreffen?«

{32}»Nein, so interessant fand sie meine Geschichte nun auch wieder nicht.«

»Sie haben ihr Ihre Geschichte erzählt?«

»Selbstverständlich habe ich ihr von meiner Tochter erzählt, genau wie Ihnen auch.«

»Ich verstehe nicht ganz. Sie sagten, Sie seien zehn Jahre außer Landes gewesen. Wo genau?«

»Hauptsächlich in Neukaledonien. Ich habe dort in einem Chrombergwerk gearbeitet. Letztes Frühjahr wurde es stillgelegt, da hat man uns nach Hause geschickt.«

»Und jetzt suchen Sie nach Ihrer Tochter?«

»Na ja, ich wüsste weiß Gott gern, wo ich sie finden kann.«

»Damit Sie sie als Brautjungfer bei Ihrer Hochzeit einsetzen können?« Ich wollte testen, wie weit ich mit meinen Sticheleien gehen konnte.

Diese nahm er hin, ohne einen Ton zu sagen.

»Was war mit Ihrer Frau?«

»Sie ist gestorben.« Sein Blick wurde jetzt doch unruhig. »Hören Sie, müssen wir das lang und breit erörtern? Es ist schlimm genug, wenn man Angehörige verliert, schon ohne dass jemand ständig in der Wunde herumstochert.«

Ich konnte nicht erkennen, ob sein Selbstmitleid gespielt war oder nicht. In gewissem Maße ist Selbstmitleid immer unecht. »Ist natürlich ein Jammer, dass Sie Ihre Familie verloren haben«, sagte ich. »Aber was kann man erwarten, wenn man für zehn Jahre in ein anderes Land geht?«

{33}»Ich hatte es mir nicht ausgesucht. Was würden Sie denn machen, wenn Sie betrunken gemacht und verschleppt werden und keine Möglichkeit haben zurückzukehren?«

»Ist das Ihre Geschichte? Hört sich nicht sehr wahrscheinlich an.«

»Meine Geschichte ist noch viel abenteuerlicher, aber lassen wir das. Sie würden mir sowieso nicht glauben. Hat bisher noch keiner getan.«

»Sie können mich gern auf die Probe stellen.«

»Das würde den ganzen Tag dauern. Sie haben Besseres zu tun, als mit mir zu reden.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Sie sagten, eine junge Frau werde vermisst. Gehen Sie, und finden Sie das Mädchen.«

»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen. Das hoffe ich noch immer, Mr. Begley.«

Er blickte hinunter auf seine Füße. Er trug Barfußsandalen. »Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich über sie weiß. Ich hätte gar nicht erst in dieses Hotel gehen sollen. Na gut, habe ich eben einen Fehler gemacht. Dafür können Sie niemanden hängen, dass er sich mal ein bisschen vertut.«

»Sie haben vorhin von Mord gesprochen und jetzt davon, gehängt zu werden. Ich frage mich, warum.«

»Das war nur so eine Redensart.« Aber seine Selbstsicherheit rann aus den Löchern heraus, die meine Nadelstiche verursacht hatten. Seine Stimme drohte zu kippen, als er fragte: »Sie glauben, ich hätte sie ermordet?«

»Nein. Ich glaube Folgendes: Etwas ist zwischen Ihnen {34}vorgefallen, oder es wurde etwas gesagt, das erklären könnte, warum sie so Hals über Kopf verschwunden ist. Überlegen Sie doch bitte mal.«

Langsam, vielleicht unwillkürlich, hob er den Kopf und blickte hinauf in die Sonne. Unter dem abstehenden Bart war sein Hals blass und dürr. Sein Gesicht wirkte so undurchdringlich wie eine antike griechische Maske.

»Nein, es wurde nichts dergleichen gesagt.«

»Hat es Ärger zwischen Ihnen gegeben?«

»Nein.«

»Warum hat sie Sie überhaupt in ihr Zimmer gelassen?«

»Wahrscheinlich hat es sie interessiert, was ich zu sagen habe. Ich hatte übers Haustelefon mit ihr gesprochen und gesagt, sie würde meiner Tochter ähneln. Es war einfach eine alberne Idee. Als ich sie gesehen habe, wusste ich sofort, dass sie es nicht war.«

»Haben Sie verabredet, sich wiederzusehen?«

»Nein. Aber jetzt würde ich’s doch gerne.«

»Haben Sie vor dem Hotel auf sie gewartet oder sich am Busbahnhof verabredet?«

»Auf keinen Fall. Warum versuchen Sie ständig, mir irgendwas anzuhängen? Was wollen Sie von mir?«

»Nur die Wahrheit. Und ich bin nicht überzeugt, sie bisher gehört zu haben.«

Von jäher Wut gepackt, sagte er: »Sie haben verdammt noch mal nicht …« Doch schon bereute er seinen Ausbruch und verschluckte den Rest seiner Worte.

Er drehte sich abrupt um, ging ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu. Ich wartete noch ein bisschen, {35}dann gab ich auf und ging über die sandige Zufahrtsstraße zu unseren Autos zurück.

Die blonde Frau, Madge Gerhardi, saß neben Alex in seinem roten Porsche. Er sah mir mit leuchtenden Augen entgegen.

»Mrs. Gerhardi hat sie gesehen. Sie hat Dolly gesehen.«

»Mit Begley?«

»Nein, nicht mit ihm.« Sie stieß die Tür auf und schob sich aus dem schmalen Wagen heraus. »Es war in dieser Werkstatt, die auf ausländische Fahrzeuge spezialisiert ist. Ich fahre selber einen MG, und der brauchte einen Ölwechsel. Das Mädchen war mit einer alten Frau da. Sie sind zusammen in einem alten braunen Rolls weggefahren. Das Mädchen saß am Steuer.«

»Sind Sie sicher, dass es dasselbe Mädchen ist?« Ich zeigte ihr noch einmal das Bild.

Sie warf nur einen kurzen Blick darauf und nickte nachdrücklich. »Völlig sicher, es sei denn, sie hätte einen Zwilling. Sie ist mir aufgefallen, weil sie wirklich umwerfend aussah.«

»Wissen Sie, wer die alte Frau war?«

»Nein, aber das müsste man Ihnen in der Werkstatt sagen können.« Sie beschrieb uns den Weg dorthin und hatte es dann eilig. »Ich sollte lieber zum Haus zurückgehen. Ich habe mich über den Strand weggeschlichen, und Chuck wird sich fragen, wo ich bin.«

{36}4

Ein Mechaniker, der rücklings auf einem Montagerollbrett lag, schob sich unter dem aufgebockten Vorderende einer Jaguarlimousine hervor. Als er sich aufrichtete, sah ich, dass es sich um einen untersetzten Mann mediterranen Typs handelte, auf dessen Overall der Name »Mario« gestickt war. Er nickte begeistert, als ich ihn auf den alten Rolls und die alte Dame ansprach.

»Das ist Mrs. Bradshaw. Ich kümmere mich seit zwölf Jahren um ihren Rolls, seit sie ihn damals gekauft hat. Und er läuft heute noch so gut wie am ersten Tag.« Er blickte mit Befriedigung auf seine verschmierten Hände, wie ein Chirurg, der sich an eine Reihe von schwierigen, aber erfolgreich verlaufenen Operationen erinnert. »Einige von den Mädchen, die sie zum Chauffieren engagiert, wissen allerdings nicht, wie man mit so einem Klasseauto umgeht.«

»Kennen Sie das Mädchen, das sie zur Zeit chauffiert?«

»Ihren Namen kenne ich nicht. Bei Mrs. Bradshaws Fahrerinnen herrscht ein Kommen und Gehen. Es sind meistens Studentinnen. Ihr Sohn ist Dekan hier am College, und er lässt nicht zu, dass die alte Dame sich selbst ans Steuer setzt. Sie leidet an schwerem Rheuma und war, glaube ich, auch mal in einen üblen Unfall verwickelt.«

Ich unterbrach Marios komplizierte Erläuterungen, indem ich ihm das Foto zeigte. »Das Mädchen hier?«

»Jawohl. Die war kürzlich mit Mrs. Bradshaw hier. Sie ist noch neu. Wie gesagt, Mrs. Bradshaw hat einen ganz schönen Verschleiß. Sie ist ein bisschen eigen, und {37}diese Studentinnen lassen sich nicht gern was sagen. Ich persönlich komme ausgezeichnet mit Mrs. Bradshaw zurecht –«

»Wo wohnt sie?«, drängte Alex, und seine Nervosität übertrug sich auf Mario. »Was wollen Sie eigentlich von ihr?«, fragte er, misstrauisch geworden.

»An ihr bin ich nicht interessiert. Aber das Mädchen ist meine Frau.«

»Haben Sie beide sich verkracht?«

»Ich weiß nicht. Ich muss unbedingt mit ihr reden.«

Mario blickte hinauf zum hohen Wellblechdach der Werkstatt. »Meine Frau hat sich vor ein paar Jahren von mir scheiden lassen, seitdem nehme ich nur noch zu. Man verliert einfach die Motivation.«

»Wo wohnt Mrs. Bradshaw?«, sagte ich.

»Am Foothill Drive, gar nicht weit von hier. Nehmen Sie die erste Querstraße rechts, die führt Sie direkt dorthin. Die Hausnummer können Sie im Telefonbuch nachschlagen, dort auf dem Schreibtisch. Der Anschluss läuft auf den Namen ihres Sohnes, Roy Bradshaw.«

Ich bedankte mich. Er legte sich wieder aufs Rollbrett und glitt unter den Jaguar. Der ramponierte Schreibtisch stand in der hintersten Ecke, das Telefonbuch lag unter dem Apparat. Ich fand den gesuchten Eintrag: »Roy Bradshaw, 311 Foothill Drive.«

»Wir könnten gleich von hier aus anrufen«, sagte Alex.

»Ist immer besser, wenn man persönlich erscheint.«

Trotz der Neubaugebiete und der schornsteinlosen Industriebetriebe, die am Stadtrand aus dem Boden {38}schossen, hatte Pacific Point seinen ursprünglichen Charakter bewahrt. Foothill Drive war eine baumbestandene Allee und wirkte regelrecht angestaubt. Alteingesessene Familien lebten hier hinter zinnenbewehrten Mauern, die ganze Erdbeben überstanden, oder hinter Hecken, die etliche Generationen von Gärtnern überdauert hatten.

Die hoch aufragende Zypressenhecke vor Nummer 311 schirmte das Haus vor Blicken ab. Ich bog, gefolgt von Alex, durch das offene Eisentor auf das Grundstück ein. Wir passierten ein kleines weißes Pförtnerhaus mit grüner Tür und grünen Fensterläden, und nach der nächsten Biegung tauchte das weiße Kolonialhaus auf.

Eine Frau mit breitem, unterm Kinn festgebundenem Strohhut kniete halb verborgen in einem Blumenbeet unweit des Eingangs. In den behandschuhten Händen hielt sie eine Gartenschere, die in die Stille hineinklapperte, sobald wir unsere Motoren ausgeschaltet hatten.

Sie erhob sich mit einiger Mühe und kam uns, während sie graue Haarsträhnen unter ihren Hut stopfte, einige Schritte entgegen. Sie war zwar eine alte Dame in schmutzigen Tennisschuhen, aber ihr Körper, dessen Umrisse unter ihrem weiten blauen Kittel allenfalls zu erahnen waren, bewegte sich mit der Autorität eines Menschen, der einst mächtig oder attraktiv gewesen war. Ihre Gesichtszüge waren unter der Last des Fleisches und der Jahre zusammengefallen. Ihre schwarzen Augen allerdings waren munter und rege, wie unvermutet auffliegende Vögel, die in alten Gemäuern nisten.

»Mrs. Bradshaw?«, preschte Alex vor.

»Das bin ich. Was wünschen die Herren? Ich bin sehr {39}beschäftigt, wie Sie sehen.« Sie fuchtelte mit ihrer Gartenschere. »An meine Rosen lass ich niemand Fremden ran. Aber obwohl ich sie so sorgfältig beschneide, gehen sie mir ein, die Ärmsten.« Bedauern färbte ihre Stimme.

»Ich finde, sie sehen wunderschön aus«, sagte ich munter. »Mr. Kincaid und ich belästigen Sie nur äußerst ungern. Aber es scheint, als sei er seiner Frau verlustig gegangen, und wir haben Grund zu der Annahme, dass sie bei Ihnen beschäftigt ist.«