{5}Für Tony

{7}1

Wenn man nicht so genau hinsah, hätte sie für Ende Zwanzig durchgehen können, vor allem bei der Figur. Ihre Kleidung unterstrich diesen Eindruck noch: seidenes Maßkostüm und hohe Absätze, die die Beine gut zur Geltung brachten. Aber Augen und Mund waren sorgenvoll. Ihre Augen waren tiefblau und hatten einen seltsamen Blick. Sie sahen einen direkt und prüfend an, schauten aber zugleich über einen hinweg. Sie konnte auf Jahre zurückblicken und hatte mehr Dinge gesehen, als die Augen eines Mädchens je gesehen hatten. Etwa fünfunddreißig, dachte ich, und immer noch im Rennen.

Ohne ein Wort zu sagen, stand sie in der Tür und ließ meine Musterung über sich ergehen. Sie kaute auf der Unterlippe herum, während sie beinahe angstvoll die schwarze Wildledertasche umklammerte. Ich schwieg ebenfalls. Sie hatte angeklopft und auf mein »Herein« die Tür geöffnet. Ob sie sich nun entschieden hatte oder nicht, sie konnte von mir kaum erwarten, daß ich sie über die Schwelle trug. Sie war eine erwachsene Person, und bestimmt gab es einen Grund für ihr Kommen.

»Mr. Archer?« fragte sie schließlich.

»Ja. Wollen Sie nicht reinkommen?«

»Danke. Entschuldigen Sie, daß ich mich so albern benehme. Als ob Sie der Zahnarzt wären.«

»Detektive und Zahnärzte sind gleichermaßen unbeliebt. Ich kann sie auch nicht leiden.«

»Wirklich? Übrigens bin ich noch nie bei einem Zahnarzt gewesen.« Sie lächelte, als ob sie das Gesagte illustrieren wollte, und gab mir ungezwungen die Hand. Sie war fest und gebräunt. »Auch nicht bei einem Detektiv.«

{8}Ich ließ sie in dem Sessel am Fenster Platz nehmen. Sie hatte nichts gegen das Licht. Ihr Haar glänzte naturbraun und war, soweit ich feststellen konnte, ohne einen Anflug von Grau. Ihr Gesicht war glatt und gebräunt. Ich fragte mich, ob sie überall glatt und gebräunt war.

»Welcher Zahn macht Ihnen Kummer, Mrs. …?«

»Entschuldigen Sie. Vor Aufregung habe ich vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Maude Slocum.«

Für eine Frau mit dieser Figur und Kleidung entschuldigte sie sich etwas zu oft. »Hören Sie«, sagte ich, »ich habe die Haut eines Nashorns und ein Herz aus Stahl. Seit zehn Jahren bin ich in Los Angeles und bearbeite Scheidungsfälle. Wenn Sie mir etwas Neues erzählen können, werde ich den gesamten Wettgewinn von einer Woche für wohltätige Zwecke spenden.«

»Können Sie mit Wildkatzen fertig werden, Mr. Archer?«

»Wildkatzen sind zwar nicht mein täglicher Umgang, aber manche Leute sind noch schlimmer.«

»Ich weiß, was Sie meinen.« Ihre Zähne malträtierten schon wieder die Unterlippe. »Als ich jünger war, habe ich geglaubt, die Leute wollten nichts als leben und leben lassen. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«

»Mrs. Slocum, Sie sind doch wohl kaum hierhergekommen, um mit mir über abstrakte Moralbegriffe zu sprechen. Wollen Sie nicht endlich zur Sache kommen?«

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich habe gestern einen Schock erlitten.« Sie sah mir voll ins Gesicht und wandte den Blick dann in die Ferne. Ihre Augen waren tief wie das Meer vor der Küste von Catalina. »Jemand versucht, mich zu vernichten.«

»Sie zu töten, meinen Sie?«

»Das zu vernichten, was mir das Wichtigste ist. Meine Ehe, meine Familie, mein Heim.« Ihre Stimme schwankte und brach ab. »Es ist mir schrecklich, darüber zu sprechen. Es ist alles so heimtückisch.«

{9}Da hatte ich’s mal wieder, dachte ich. Ein echter Beichtvormittag, in der Hauptrolle Lew Archer als Geistlicher ohne Priesterrock. »Ich hätte Zahnarzt werden sollen; dann könnte ich mir die Zeit mit etwas so Bequemem und Schmerzlosem wie Zähneziehen vertreiben. Wenn Sie Hilfe benötigen, dann sagen Sie, was ich für Sie tun kann. Wer hat Sie übrigens hergeschickt?«

»Sie wurden mir empfohlen. Ich kenne einen – einen Mann, der bei der Polizei arbeitet. Er sagte, Sie seien ehrlich und diskret.«

»Etwas ungewöhnlich, daß ein Bulle so über mich redet. Möchten Sie mir vielleicht seinen Namen nennen?«

»Nein, das möchte ich nicht.« Allein der Vorschlag schien sie schon zu beunruhigen. Ihre Finger umkrampften die schwarze Wildledertasche. »Er weiß nichts davon.«

»Ich auch nicht. Ich erwarte auch nicht, daß ich es jemals erfahren werde.« Dabei lächelte ich und bot ihr eine Zigarette an. Sie paffte ohne Genuß, aber es schien sie zu beruhigen.

»Verdammt.« Sie blinzelte; der Rauch war ihr in die Augen gestiegen. »Da habe ich nun eine ganze Nacht lang versucht, mir über alles klarzuwerden, und ich bin keinen Schritt weitergekommen. Sehen Sie, bis jetzt weiß niemand von der Sache; es fällt mir schwer, jemand ins Vertrauen zu ziehen. Schweigen wird zur Gewohnheit – nach sechzehn Jahren.«

»Sechzehn Jahre? Ich dachte, es wäre gestern passiert?«

Sie errötete. »Ist es auch. Ich habe nur daran gedacht, wie lange ich verheiratet bin. Die Sache hat eine ganze Menge mit meiner Ehe zu tun.«

»Das dachte ich mir. Im Raten bin ich nämlich gut.«

»Verzeihung. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Für eine Frau dieses Formats war sie ziemlich deprimiert; es paßte nicht zu dem Hundert-Dollar-Kostüm. »Es ist nicht etwa so, daß ich glaube, sie würden es überall rumtratschen oder versuchen, mich zu erpressen …«

{10}»Versucht man, Sie zu erpressen?«

Die Frage überraschte sie so sehr, daß sie zusammenfuhr. Dann faßte sie sich wieder und beugte sich vor. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung.«

»Dann geht’s Ihnen wie mir.« Ich holte aus der obersten Schreibtischschublade einen Umschlag, öffnete ihn und begann den hektographierten Text zu lesen, in dem man mir eröffnete, daß ich mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu drei binnen eines Jahres im Krankenhaus landen würde und mich tunlichst und schnell dagegen rückversichern sollte. »Wer zögert, ist verloren«, sagte ich laut.

»Sie machen sich über mich lustig, Mr. Archer. Aber Sie müssen doch verstehen … Kann ich mich denn darauf verlassen, daß Sie, falls Sie meinen Fall nicht übernehmen werden, alles wieder vergessen?«

Ich ließ den Ärger in meiner Stimme durchklingen. Diesmal lächelte ich nicht und verzog auch das Gesicht nicht. »Wir wollen es beide vergessen. Sie verschwenden meine Zeit, Mrs. Slocum.«

Sie holte tief Luft. »Diese Sache war für mich wie ein physischer Schlag, ein Schlag von hinten.« Dann öffnete sie ihre Handtasche und sagte plötzlich entschlossen: »Ich nehme an, ich muß es Ihnen zeigen. Ich kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen, herumsitzen und auf den nächsten warten.«

Ich sah mir den Brief an, den sie mir hinreichte. Er war kurz und eindeutig und natürlich ohne Unterschrift:

Lieber Mr. Slocum,

verwesende Lilien riechen schlecht. Macht es Ihnen tatsächlich nichts aus, mit Hörnern herumzulaufen? Oder wissen Sie vielleicht gar nichts über das Liebesleben Ihrer Frau?

Die Botschaft war auf einem Bogen billigen weißen Schreibmaschinenpapiers getippt, der viermal zusammengefaltet war. »War auch ein Briefumschlag dabei?«

{11}»Ja.« Sie kramte in der Tasche und gab mir einen zerknitterten weißen Umschlag, der an James Slocum, Esq., Trail Road, Nopal Valley, Kalifornien, adressiert war. Der Poststempel war klar. Quinto, Kalif., 18. Juli.

»Heute ist Mittwoch«, sagte ich. »Er wurde am Montag aufgegeben. Kennen Sie Leute in Quinto?«

»Alle.« Sie lächelte gezwungen. »Es ist nur ein paar Meilen von Nopal Valley entfernt, wo wir wohnen. Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer ihn abgeschickt haben könnte.«

»Oder warum?«

»Wahrscheinlich habe ich Feinde. Das haben die meisten Leute.«

»Ich nehme an, Ihr Mann hat den Brief nicht gesehen. James Slocum ist doch Ihr Mann?«

»Ja. Er hat ihn nicht gesehen. Er war gerade in Quinto, als der Brief eintraf. Ich hole gewöhnlich die Post aus dem Briefkasten.«

»War er geschäftlich in Quinto?«

»Geschäftlich nicht. Er ist Mitglied der Quinto Players – einer Laientheatergruppe. In dieser Woche proben sie an jedem Nachmittag …«

»Lesen Sie immer die Post Ihres Mannes?« unterbrach ich sie.

»Ja. Und er meine – aber ich habe kaum erwartet, hier in ein Kreuzverhör genommen zu werden, Mr. Archer.«

»Noch eine Frage: stimmt es, was in dem Brief behauptet wird?«

Das Blut stieg ihr ins Gesicht, und ihre Augen blitzten. »Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich darauf antworte.«

»Also gut. Sie wären kaum hier, wenn es nicht stimmte.«

»Im Gegenteil«, sagte sie.

»Und Sie wollen, daß ich den Absender ermittle, damit Sie ihn oder sie gerichtlich belangen können?«

»O nein.« Das kam entsetzt. »Ich will nur, daß das aufhört. Ich kann nicht täglich am Briefkasten Wache halten {12}und die Post abfangen. Und ich kann nicht dauernd grübeln, wer …«

»Außerdem könnte man ihm den nächsten Brief persönlich übergeben. Wäre es so schlimm, wenn er ihn lesen würde?«

»Es wäre schrecklich.«

»Warum? Ist er so eifersüchtig?«

»Überhaupt nicht. Er ist sehr ruhig.«

»Und Sie lieben ihn?«

»Ich habe ihn geheiratet«, sagte sie, »und es nicht bedauert.«

»Wenn Ihre Ehe in Ordnung ist, dann kann einem so ein Geschreibsel doch nichts anhaben.« Ich warf den Brief zwischen uns auf den Schreibtisch und sah ihr voll ins Gesicht.

Mund und Augen wirkten gepeinigt. »Es würde uns den Rest geben. Ich habe eine Tochter, die noch zur Schule geht. Ich werde es einfach nicht zulassen, daß so etwas passiert.«

»Was?«

»Krach und Scheidung«, erwiderte sie hart.

»Würde es dazu kommen, falls Ihr Mann solch einen Brief erhält?« Ich zeigte mit der Zigarette auf das weiße Stück Papier.

»Ich fürchte ja, Mr. Archer. Mit James würde ich vielleicht noch fertig, aber er würde damit zu seiner Mutter gehen – und sie würde Detektive beauftragen.«

»Und die könnten Beweismaterial für eine Scheidung finden?«

»Ich nehme es an«, sagte sie bitter. »Irgend jemand muß was ausgegraben haben.« Ihr ganzer Körper vibrierte, zuckte wie ein Wurm an der Angel. In diesem Augenblick verabscheute sie sich selber. »Dies ist mir sehr peinlich.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte ich. »Meine Frau hat sich im vergangenen Jahr von mir scheiden lassen. Wegen seelischer Grausamkeit.«

»Die traue ich Ihnen zu.« Das klang boshaft; dann schlug {13}ihre Stimmung aber wieder um. »Denken Sie bitte nicht, daß ich eine Scheidung leichtnehmen würde. Es wäre das letzte, was ich mir wünschte.«

»Wegen Ihrer Tochter, sagen Sie?«

Sie überlegte. »Ich glaube ja. Ich bin selbst das Kind geschiedener Eltern und habe darunter gelitten. Aber es gibt auch noch andere Gründe. Meine Schwiegermutter würde eine Scheidung nur zu gern sehen.«

»Was für eine Art Frau ist sie? Könnte sie den Brief geschickt haben?«

Die Frage überraschte sie, und sie mußte nachdenken. »Nein, das nehme ich nicht an. Sie würde viel direkter vorgehen. Sie ist eine Frau mit sehr starkem Willen. Ich sagte Ihnen ja schon, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer ihn geschickt haben könnte.«

»Also jemand in Quinto. Fünfundzwanzigtausend Einwohner, nicht wahr? Oder jemand, der am Montag durch Quinto gekommen ist. Das ist eine ziemlich harte Nuß.«

»Aber Sie werden versuchen, mir zu helfen?« Es schien ihrer Vorstellung von Damenhaftigkeit nicht zu widersprechen, sich graziös im Sessel zurechtzusetzen, um ihre Bitte wirksamer zu unterstützen. Möglicherweise war sie überhaupt keine Dame.

»Es wird einige Zeit dauern, und ich kann nichts versprechen. Haben Sie denn auch die nötigen Moneten, Mrs. Slocum?«

»Sie behalten Ihre Dienste doch wohl nicht ausschließlich den Reichen vor?« Sie sah sich in dem einfachen, kleinen, quadratischen Büro um.

»Ich werfe das Geld nicht zum Fenster raus, aber ich verlange fünfzig Dollar pro Tag plus Spesen. Es wird Sie etwa vier- oder fünfhundert Dollar pro Woche kosten, und mit dem wenigen, was ich in der Hand habe, kann es den ganzen Sommer dauern.«

Sie schluckte ihre Bestürzung hinunter. »Offen gesagt, habe {14}ich nicht viel Geld. Da ist Geld in der Familie, aber James und ich können nicht darüber verfügen. Wir haben nur die Zinsen von einhunderttausend Dollar.«

»Also dreitausendfünfhundert?«

»Weniger. James’ Mutter kontrolliert das Geld. Wir wohnen bei ihr, wissen Sie. Ich habe etwas Geld, aber das habe ich für Cathys Ausbildung gespart. Fünfhundert Dollar kann ich Ihnen aber zahlen.«

»Was das angeht, so kann ich Ihnen innerhalb einer Woche oder eines Monats keine Ergebnisse garantieren.«

»Ich muß aber etwas unternehmen.«

»Ich kann mir schon denken, warum. Die Person, die den Brief geschrieben hat, weiß vermutlich etwas ganz Bestimmtes – und Sie fürchten sich vor dem nächsten Schreiben.«

Sie antwortete nicht.

»Es würde mir helfen, wenn Sie mir alles sagten, was Sie wissen.«

Sie begegnete meinem Blick offen und kalt. »Ich denke nicht daran, einen Ehebruch zu gestehen.«

»Ach, zum Teufel! Wenn ich in einem Vakuum arbeiten soll, verschwende ich nur meine Zeit.«

»Das ist mir gleich.« Sie öffnete ihre Handtasche wieder und zählte zehn Zwanziger auf die Schreibtischplatte. »Da, tun Sie, was Sie können. Kennen Sie Nopal Valley?«

»Ich bin schon einmal durchgekommen, Quinto kenne ich ein wenig. Was tut Ihr Mann bei den Quinto Players?«

»Er ist Schauspieler – oder glaubt es wenigstens zu sein. Sie dürfen nicht versuchen, mit ihm zu sprechen.«

»Wie ich meine Arbeit tue, das müssen Sie mir schon selbst überlassen. Sonst könnte ich mich ebensogut in mein Büro setzen und ein Buch lesen. Wie kann ich Sie erreichen?«

»Sie können mich zu Hause anrufen. Nopal Valley steht im Telefonbuch von Quinto. Sie erreichen mich unter der Nummer von Olivia Slocum.«

Sie stand auf, und ich folgte ihr zur Tür. Zum erstenmal {15}bemerkte ich, daß die Rückseite ihres hübschen Kostüms von der Sonne verblichen war. Unten am Rock, wo der Saum geändert worden war, sah man eine schwache Linie. Die Frau tat mir leid; sie gefiel mir ganz gut.

»Ich fahre noch am Vormittag raus. Und Sie hüten wohl am besten Ihren Briefkasten.«

Nachdem sie fort war, setzte ich mich hinter den Schreibtisch und sah auf die unpolierte Platte. Der Brief und die Zwanziger lagen noch darauf. Sex und Geld; die Wurzel allen Übels. Im Aschenbecher verglimmte Mrs. Slocums vergessene Zigarette, mit Lippenstift markiert wie mit einem schwachen Blutrand. Sie qualmte, und ich drückte sie aus. Dann steckte ich den Brief in die Brusttasche und die Zwanziger in die Brieftasche. Als ich auf die Straße trat, waren es schon dreißig Grad. Die Sonne ging auf Mittag zu.

2

Eine Stunde nördlich von Santa Monica verkündete ein Schild:

SIE KOMMEN JETZT NACH QUINTO, DER PERLE DES MEERES, HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT 25 MEILEN

Ich fuhr langsamer und begann, mich nach einer Bleibe umzusehen. Die weißen Häuschen vom Motel del Mar sahen sauber und schattig aus. Ich fuhr auf den kiesbedeckten Abstellplatz vor der U-förmigen Einfriedung. Ehe der Wagen stand, öffnete sich die Tür des Büros, und eine dünne Frau im Leinenkittel tänzelte auf mich zu und schenkte mir ein blendendes und gekünsteltes Lächeln.

»Wollten Sie ein Zimmer, Sir?«

»Das wollte ich und möchte es noch.«

Sie kicherte und strich über ihr spärliches Haar, das von {16}ihrem scharfen Gesicht aus straff nach hinten gezogen war und in einem Knoten endete. »Sie reisen allein?«

»Ja. Vielleicht bleibe ich ein paar Tage.«

Sie blinzelte schelmisch und schüttelte den Kopf. »Bleiben Sie nicht zu lange, sonst erliegen Sie noch dem Zauber von Quinto. Es ist nämlich die Perle des Meeres, wissen Sie. Sie werden noch wünschen, für immer und ewig hierzubleiben. Wir haben ein sehr hübsches Einzelzimmer zu sieben Dollar.«

»Darf ich es mir ansehen?«

»Selbstverständlich. Es wird Ihnen bestimmt gefallen.«

Sie zeigte mir ein Zimmer aus knorriger Kiefer mit Bett, Tisch und zwei Stühlen. Fußboden und Möbel glänzten vom Bohnerwachs. An einer Wand hing eine Reproduktion von Rivera, das Safrangelb darin kehrte in den Ringelblumen wieder, die in einer Vase auf dem Kaminsims standen. Unter dem Westfenster glitzerte das Meer.

Sie wandte sich mir zu wie ein Musiker, der sich von seinem Piano wegdreht. »Nun?«

»Wirklich sehr hübsch«, sagte ich.

»Wenn Sie nur noch eben mitkommen und sich eintragen wollen, dann sorge ich dafür, daß Henry die Karaffe mit Eiswasser füllt. Sie sollen sich doch bei uns wohl fühlen.«

Ich folgte ihr zurück zum Büro, etwas überwältigt von ihrem Überschwang. Ich schrieb meinen vollen Namen in das Anmeldebuch, Lew A. Archer, und meine Adresse in Los Angeles.

»Ach, Sie wohnen in Los Angeles«, sagte sie und nahm mein Geld.

»Zur Zeit. Ich möchte mich hier vielleicht niederlassen.«

»Wirklich?« sprudelte sie heraus. »Hast du das gehört, Henry? Der Herr hier möchte sich in Quinto niederlassen.«

Ein müde aussehender Mann wandte sich halb von dem Schreibtisch im Hintergrund des Raumes ab und gab einen unbestimmten Laut von sich.

»Es wird Ihnen bestimmt gefallen«, sagte sie. »Das Meer, {17}die Berge. Die klare, kühle Luft. Die Nächte. Henry und ich sind so froh, daß wir uns entschlossen haben, das Motel hier zu kaufen. Im Sommer sind wir jede Nacht besetzt. Schon vor Einbruch der Dunkelheit können wir das Schild ALLES BESETZT ins Fenster hängen. Henry und ich machen uns immer ein Spielchen daraus – nicht wahr, Henry?«

Henry brummte wieder.

»Gibt es hier viele Möglichkeiten, seinen Unterhalt zu verdienen?«

»Nun, da gibt es Einzelhandelsgeschäfte und Grundstücke, alles mögliche. Selbstverständlich keine Industrie, das erlaubt der Stadtrat nicht. Man braucht sich ja nur anzusehen, was aus Nopal Valley geworden ist, nachdem man die Ölbohrungen zugelassen hat.«

»Und was ist aus Nopal Valley geworden?«

»Sie haben es ruiniert, völlig ruiniert. Horden von Leuten der unteren Klasse, Mexikaner und schmutzige Bohrmannschaften, kamen von Gott weiß woher und haben die Stadt überschwemmt. Das dürfen wir hier nicht geschehen lassen.«

»Auf keinen Fall.« Für die Ironie in meiner Stimme hatte sie jedoch kein Ohr. »Quintos natürliche Schönheit muß erhalten bleiben. Es ist ein Kulturzentrum. Übrigens habe ich schon viel von den Quinto Players gehört.«

»Nein, wirklich, Mr. Archer?« Ihre Stimme sank zu einem gezierten Flüsterton herab. »Sie sind doch nicht gar eine Hollywood-Persönlichkeit – oder?«

»Nicht so ganz.« Ich ließ die Frage offen. »Ich habe aber viel in und um Hollywood gearbeitet.« Heimlich in Flohkisten von Hotels gespäht, Ehefesseln gelöst, Erpresser durch Erpressung aus dem Geschäft geworfen. Dreckige, schwere, gelegentlich gefährliche Arbeit.

Sie kniff die Augen und Lippen zusammen, als ob sie mich verstehe. »Ich habe es gespürt, daß Sie aus Hollywood sind. Selbstverständlich werden Sie das neue Stück an diesem Wochenende sehen wollen. Mr. Marvell hat es selbst {18}geschrieben – er ist ein brillanter Mann –, und er führt auch Regie. Rita Treadwith, eine sehr gute Freundin von mir, hilft bei den Kostümen. Sie sagt, das Stück habe große Aussichten: Film, Broadway, alles mögliche.«

»Ja«, sagte ich, »ich habe schon davon gehört. Wo ist das Theater, in dem sie proben?«

»Direkt neben dem Highway in der Stadtmitte. Sie brauchen am Gericht nur rechts abzubiegen und sehen das Schild: QUINTO-THEATER

»Danke«, sagte ich und ging. Die Schwingtür klappte ein zweites Mal, bevor ich bei meinem Wagen war. Henry schlurfte über den Kies auf mich zu. Er war zäh und hager, geschlagen und ausgedörrt von langen Sommern. Er kam so nahe an mich heran, daß ich ihn riechen konnte.

»Hören Sie, Freund, war das Ihr Ernst, als Sie sagten, Sie möchten sich hier niederlassen?« Er blickte hinter sich, um sicher zu sein, daß seine Frau außer Hörweite war, und spuckte auf den Kies. »Ich kann Ihnen was erzählen, wie Sie Geld verdienen können, falls Sie interessiert sind. Zehntausend bar auf den Tisch und der Rest aus den Einnahmen. Fünfzigtausend für alles, für zwölf gute Häuschen und den angesehenen Namen des Motels.«

»Sie möchten dies hier verkaufen? An mich?«

»Zu diesem Preis werden Sie nie etwas Besseres bekommen.«

»Ich dachte, Sie seien verrückt auf Quinto.«

Er warf einen verächtlichen, mißtrauischen Blick über die Schulter. »Das denkt sie. Denkt? Sie läßt die Handelskammer für sich denken. Ich habe die Möglichkeit, in Nopal eine Schanklizenz zu bekommen.«

»Wie ich höre, gibt’s Geld in Nopal.«

»Da können Sie Gift drauf nehmen. Nopal Valley stinkt vor Geld, seitdem sie dort auf Öl gestoßen sind, und keiner gibt so leicht Geld aus wie Bohrarbeiter. Wie gewonnen, so zerronnen.«

{19}»Tut mir leid«, sagte ich. »Bin nicht interessiert.«

»Okay. Ich hab ja auch nur mal angefragt. Sie will ja nicht, daß ich ein Schild ZU VERKAUFEN aufstelle oder dies gottverdammte Ding in eine Verkaufsliste eintrage.« Er schlurfte zum Büro zurück.

 

Die Männer und Frauen auf der Straße hatten den verzückten Sonnenanbeter-Blick von Urlaubern. Viele waren sehr jung oder sehr alt, und die meisten Jüngeren trugen Badekleidung. Die weißen Gebäude im spanischen Stil schienen unwirklich zu sein, ein Bühnenbild, aufgemalt auf festen blauen Himmel. Zur Linken, am Ende der Querstraßen, lag das ruhige Meer da wie eine flache blaue Wand.

Ich parkte nahe beim Gericht vor einem Restaurant und ging hinein, um etwas Kaltes zu essen. Die Kellnerin trug eine rotkarierte Schürze passend zum Tischtuch. Ich gab ihr ein Trinkgeld und ging um den Block zum Quinto-Theater. Nach meiner Uhr war es zwei; die Probe müßte schon begonnen haben. Falls das Stück am Wochenende herauskommen sollte, würden sie es heute bestimmt schon ganz durchlaufen lassen.

Das Theater stand etwas abseits von der Straße, hinter einem von der Sonne vertrockneten Rasenstreifen: ein massiver, fensterloser Kasten, von dem der Stuck stellenweise heruntergefallen war und den alten Putz zeigte. Zwei verwitterte Säulen trugen das Dach der Vorhalle. An jeder Säule hing ein Theaterzettel, eine Welturaufführung wurde darauf angekündigt: Der Ironiker, ein neues Stück von Francis Marvell. An der Wand neben der Kasse hing eine blaue Papptafel mit Fotos. Miss Jeanette Dermott als Clara – eine junge Blondine mit leuchtenden, verträumten Augen; Mrs. Leigh Galloway als Ehefrau – eine Frau mit hartem Gesicht und professionellem Lächeln, die strahlenden Zähne bereit, ein imaginäres Publikum zu fressen.

Der dritte in diesem glänzenden Trio interessierte mich. {20}Der Mann war Ende Dreißig, mit hellem Haar, das sich über einer blassen, edlen Stirn wellte. Die Augen waren groß und voller Trauer, der Mund klein und empfindsam. Das Bild war im Halbprofil aufgenommen worden, so daß die feingeschnittene Nase gut zur Geltung kam. Mr. James Slocum als ›Der Ironiker‹ besagte die Bildunterschrift. Falls die Aufnahme der Wirklichkeit entsprach, war Mr. James Slocum der Traum jeder Jungfrau. Also meiner nicht.

Eine alte Packard-Limousine fuhr vor dem Theater vor, und ein junger Mann stieg aus. Seine langen Beine steckten in verblichenen Jeans, die massigen Schultern waren von einem geblümten Hawaii-Hemd bedeckt. Hose und Hemd paßten nicht zu der schwarzen Fahrermütze auf seinem Kopf. Er mußte es gemerkt haben, denn er warf die Mütze auf den Vordersitz des Packard, ehe er den Weg zum Theater heraufkam. Glänzende dunkle Locken umrahmten sein Gesicht. Die Augen wirkten durch die tiefe Bräune seiner Haut beinahe farblos. Noch ein Traum einer Jungfrau. Es gab sie wohl zu Dutzenden in den kalifornischen Ferienorten.

Traum Nummer zwei öffnete die schwere Tür zu meiner Linken und ließ sie hinter sich wieder zufallen. Ich wartete eine Minute und folgte ihm ins Foyer. Es war klein und eng und von der roten Birne der Notbeleuchtung nur trübe erhellt. Der junge Mann war verschwunden, aber hinter einer anderen Tür hörte ich Stimmengemurmel. Ich ging durch das Foyer und betrat den Saal. Er war verdunkelt, bis auf die Bühne, auf der zwei Personen im Scheinwerferlicht agierten. Ich setzte mich in die letzte Reihe und fragte mich, was, zum Teufel, ich hier überhaupt wollte.

Das Bühnenbild war aufgebaut, ein englischer Salon mit Stilmöbeln, aber die Schauspieler waren noch in Straßenkleidung. James Slocum, hübsch wie auf seinem Foto, in einem gelben Rollkragenpullover, teilte sich die Bühne mit dem blonden Mädchen, das lange Hosen trug. Sie unterhielten sich in der Mitte der Bühne.

{21}»Roderick«, sagte das Mädchen, »warst du dir wirklich meiner Liebe zu dir bewußt und hast mir nie ein Wort davon verraten?«

»Warum hätte ich das tun sollen?« Slocum zuckte lässig amüsiert die Schultern. »Du warst zufrieden zu lieben, und ich war zufrieden, geliebt zu werden. Natürlich tat ich mein Bestes, dich zu ermutigen.«

»Du hast mich ermutigt?« Sie übertrieb die Überraschung, wobei ihre Stimme etwas kreischend klang. »Aber das habe ich ja nie gewußt.«

»Dafür habe ich auch gesorgt, bis du die schmale Grenze zwischen Bewunderung und Leidenschaft überschritten hattest. Aber ich war immer da mit einem Streichholz für deine Zigarette, einem Kompliment für dein Kleid, einem Berühren der Hand, wenn wir uns verabschiedeten.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft und unterstrich damit unbewußt diese Banalität.

»Aber deine Frau? Was ist mit ihr? Ich kann es kaum glauben, daß du mich absichtlich an den dunklen Abgrund des Ehebruchs geführt hättest.«

»Dunkel, meine Liebe? Im Gegenteil. Leidenschaft strahlt mit der Kraft von tausend Sonnen, glänzend wie der junge Tag, schillernd wie die Pracht des Regenbogens.« Er sprach diese Worte, als glaube er sie selbst, mit einer klingenden Stimme, die nur ein bißchen krächzte. »Neben der Liebe, die wir füreinander fühlen mögen – fühlen werden –, ist die legale Verbindung der Verheirateten wie die Paarung von verängstigten Kaninchen in einem Stall.«

»Roderick, ich hasse und fürchte und liebe dich«, verkündete das Mädchen. Sie warf sich ihm zu Füßen wie eine Ballerina.

Er reichte ihr beide Hände und zog sie zu sich empor. »Ich liebe es, geliebt zu werden«, antwortete er leichthin. Umarmung.

Eine magere Gestalt war im Orchestergraben nervös vor {22}dem Rampenlicht hin und her gejagt. Jetzt sprang sie in einem Satz auf die Bühne und umkreiste das stümperhaft spielende Paar wie ein Schiedsrichter.

»Sehr gut«, sagte der Mann. »Wirklich sehr gut. Sie haben beide meine Absichten wunderschön erfaßt. Aber wäre es möglich, Miss Dermott, den Kontrast zwischen hasse und fürchte einerseits sowie liebe andererseits noch um eine Spur deutlicher herauszubringen? Schließlich ist das ja der eigentliche Grundton des ersten Akts: die Ambivalenz in Claras Reaktion auf den Ironiker, die die Ambivalenz seiner Einstellung zu Liebe und Leben verkörpert. Vielleicht noch einmal bei ›Kaninchen in einem Stall‹ angefangen?«

»Selbstverständlich, Mr. Marvell.«

Das war also der Autor des Stücks. Es gehörte zu jenen Stücken, die nur der Autor oder ein Schauspieler lieben konnte, ein Zeug, das sich selbst parodierte.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf den verdunkelten Saal. Er wirkte größer, als er tatsächlich war, weil sich nur wenige Leute darin befanden. In den ersten Reihen hockten einige und beobachteten schweigend, wie die Schauspieler den abgedroschenen Text wiederkäuten. Die anderen Sperrholzsitze waren frei, nur einige Reihen vor mir saß noch ein Paar. Nachdem meine Augen sich an das trübe Licht gewöhnt hatten, konnte ich einen jungen Mann und ein Mädchen ausmachen, die die Köpfe aneinandergelehnt hatten. Zumindest hatte sich der Jüngling hinübergelehnt; das Mädchen saß aufrecht. Als er ihr den Arm um den Rücken legen wollte, rückte sie einen Sitz weiter.

Ich sah sein Gesicht, als er sich zur Seite beugte, um mit ihr zu sprechen: es war Traum Nummer zwei. »Verdammt noch mal«, flüsterte er, »du behandelst mich wie den letzten Dreck. Ich dachte, wir würden uns verstehen, und dann kriechst du in deinen kleinen Iglu und knallst mir die Tür ins Gesicht.«

»Iglus haben keine Türen. Man kriecht durch einen Tunnel hinein.«

{23}»Das ist auch so eine Sache.« Der Ärger zerrte an seinen Stimmbändern, daß die Worte mal laut, mal leise herauskamen. »Du tust immer so verdammt überlegen – das reinste Supergehirn. Dabei könnte ich dir Sachen erzählen, von denen du noch nicht einmal gehört hast.«

»Ich will sie auch nicht hören. Außerdem möchte ich gern zuhören, Mr. Reavis, und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich in Ruhe ließen.«

»Mr. Reavis! Warum auf einmal so förmlich? Gestern abend, als ich dich nach Hause brachte, warst du noch wild genug – und jetzt heißt es ›Mr. Reavis‹.«

»Das war ich nicht! Und ich verbiete Ihnen, so mit mir zu reden!«

»Das glaubst du. Mit mir kannst du nicht spielen – verstanden? Ich bin nicht irgendwer, ich hab Ideen, und wenn ich will, kann ich jede Menge Frauen haben – verstehst du?«

»Ich weiß, Sie sind unwiderstehlich, Mr. Reavis. Daß ich nicht entsprechend reagiere, ist zweifellos pathologisch.«

»Hochtrabende Worte bedeuten mir gar nichts«, rief er enttäuscht und wütend. »Ich werde dir etwas zeigen, was mehr bedeutet.«

Ehe sie sich rühren konnte, kauerte er vor ihr und drückte sie fest auf den Sitz. Sie gab ein ersticktes Kreischen von sich und schlug ihm die Fäuste ins Gesicht. Er fand jedoch ihren Mund und hielt ihren Kopf an beiden Seiten mit eisernen Händen fest. Ich hörte, wie beider Atem pfiff und der Sitz unter dem Gewicht der kämpfenden Leiber knarrte. Ich blieb, wo ich war. Die beiden kannten einander besser als ich sie, und hier konnte ihr nichts geschehen.

Er gab sie schließlich frei, blieb aber über sie gebeugt, wobei die Kurve seiner Schultern eine gewisse Hoffnung ausdrückte.

»Dreckskerl!« sagte sie. »Sie Dreckskerl!«

Die Worte trafen ihn schwer – Schlammspritzer in seinem Gesicht. »Das kannst du nicht zu mir sagen!« Er hatte {24}vergessen zu flüstern. Seine Hände tasteten nach ihren Schultern oder ihrem Hals.

Ich hatte mich schon halb erhoben, als die Lichter im Saal angingen. Auf der Bühne war es still geworden, jedermann im Theater kam den Gang heruntergerannt, Marvell an der Spitze. Er war ein flachshaariger Mann in Harris-Tweed und ein Nervenbündel. Die Spur eines englischen Akzents klang in seiner Stimme mit.

»Also wirklich! Was, um Himmels willen, geht denn hier vor?« Seine Worte klangen wie die einer alten, unverheirateten Lehrerin, die einen Schüler auf frischer Tat ertappt hat.

Der Junge war wieder auf die Beine gestolpert und hing, halb abgewandt, über die Rückenlehne seines Sitzes. Seine Bewegungen zeigten, daß er sich schämte und ihm alles sehr peinlich war, sie signalisierten aber auch Gefahr. Seine Muskeln waren straff gespannt und seine Augen schwarzes Eis.

Slocum kam einen Schritt vor und legte die Hand auf Marvells Schulter. »Lassen Sie mich das machen, Francis.« Er wandte sich dem Mädchen zu, das gespannt auf seinem Platz saß. »Also, Cathy, was war hier los?«

»Nichts, Vater.« Ihre Stimme war wieder spröde. »Wir haben hier gesessen und miteinander gesprochen, da hat Pat plötzlich verrückt gespielt, mehr nicht.«

»Er hat dich geküßt«, sagte Slocum. »Ich habe euch von der Bühne aus beobachtet. Du wischst dir wohl besser dein Gesicht ab, ich rede später noch mit dir.«

Sie fuhr sich mit der Hand zum Mund. »Ja, Vater«, sagte sie zwischen den Fingern hindurch. Sie war ein hübsches Mädchen, viel jünger, als ich aus ihren Worten geschlossen hatte. Ihr kastanienbraunes Haar blühte im Nacken zu Locken auf, die im Licht einen Kupferschimmer hatten.

Der Junge schaute auf ihren Kopf hinunter und dann zu ihrem Vater hin. »Sie kann nichts dafür«, sagte er. »Ich habe versucht, sie zu küssen, aber sie wollte nicht.«

»Das geben Sie also zu, Reavis?«

{25}Der Junge stand jetzt neben Slocum und überragte ihn um einiges. Mit seinen dünnen Schulterblättern, die sich unter dem gelben Pullover abzeichneten, sah Slocum wie der jüngere von beiden aus. Er stand da, unnachgiebig und wütend.

»Warum sollte ich das nicht zugeben?« erwiderte Reavis. »Kein Gesetz verbietet, Mädchen zu küssen …«

Slocum sprach mit überlegter, kalter Wut: »Wenn es um meine Tochter geht, sind bestimmte Dinge untragbar« – er suchte nach einem Wort und fand es –, »widerwärtig. Kein Lümmel von Chauffeur …«

»Ich werde nicht immer Chauffeur bleiben …«

»Da haben Sie recht. Sie sind schon jetzt keiner mehr.«

»Das heißt wohl, daß ich rausgeschmissen bin.« Seine Stimme war eintönig und spöttisch.

»Sehr richtig.«

»Ach, Sie armes, verdammtes Würstchen, Sie können mich gar nicht rausschmeißen. Sie haben mir sowieso nie Lohn gezahlt. Nicht etwa, daß ich diesen verflixten Job bei Ihnen behalten will. Den können Sie sich sonstwohin stecken.«

Die beiden Männer standen sich so nahe gegenüber, daß sie einander fast berührten. Die anderen drängten heran und umringten die beiden. Marvell zwängte sich zwischen sie und legte Reavis eine zarte Hand auf die Brust. »Jetzt ist es aber genug.« Er verkniff sich das ›mein bester Mann‹, aber es klang durch. »Ich rate Ihnen, hier zu verschwinden, ehe ich die Polizei rufe.«

»Weil ich euerm kleinen Goldjungen die Meinung gesagt habe?« Reavis versuchte zu lachen, was ihm auch beinahe gelang. »Ich wäre schon vor Monaten gegangen, wenn Cathy nicht gewesen wäre. Der Kerl tut mir mit seinem Rausschmiß nur einen Gefallen.«

Cathy erhob sich von ihrem Sitz; ihre Augen glitzerten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Gehen Sie, Pat! So dürfen Sie nicht mit Vater reden.«

»Haben Sie gehört, Reavis?« Slocums Nacken war gerötet, {26}um den Mund war er blaß geworden. »Raus hier, und lassen Sie sich nie wieder blicken! Ihre Sachen werden wir Ihnen zuschicken.«

Die Atmosphäre entspannte sich, als Reavis langsam zurückwich. Er wußte, daß er geschlagen war, und seine Schultern zeigten es. Er sah Cathy an, aber sie vermied seinen Blick. Ehe sich die Aufmerksamkeit auf mich richten konnte, erhob ich mich aus meinem Parkettsitz und ging ins Foyer hinaus.

Das Foto des ›Ironikers‹ starrte, ohne zu blinzeln, in die Nachmittagssonne. In Gedanken teilte ich ihm mit, daß die private Szene eben besser gewesen sei als die soeben geprobte. Es antwortete nicht; es war versunken in den Traum von seiner eigenen Schönheit.

3

Etwas weiter unten auf der Straße fand ich einen Drugstore mit einer Telefonzelle. Einen James Slocum fand ich nicht im Telefonbuch, aber da war eine Olivia Slocum, vermutlich seine Mutter. Ich warf die zehn Cent für ein Vorortgespräch ein und hörte eine gebrochene, trockene Stimme, die sowohl einem Mann als auch einer Frau gehören konnte.

»Hier bei Slocum.«

»Mrs. James Slocum, bitte.«

Ein Klicken war in der Leitung: »Schon gut, Mrs. Strang, ich nehme das Gespräch auf meinem Apparat entgegen.«

Mrs. Strang brummte und legte auf.

»Archer hier. Ich bin in Quinto.«

»Ich habe gehofft, daß Sie anrufen würden. Ja, bitte?«

»Hören Sie, Mrs. Slocum, mir sind praktisch die Hände gebunden. Ich kann keine Fragen stellen, weil ich damit Gerede in Gang bringen würde, wo jetzt noch keins ist. Ich habe keine Spur und keine Kontakte. Gibt es nicht {27}irgendeine Möglichkeit, Ihre Familie kennenzulernen – zumindest Ihren Mann?«

»Aber er hat doch nichts damit zu tun. Sie werden nur Verdacht erregen.«

»Das muß nicht sein. Aber wenn ich ohne Erklärung herumschwirre, werde ich bestimmt Verdacht erregen. Und ich werde nichts herausbekommen, wenn ich nicht mit jemandem sprechen kann.«

»Das hört sich nicht sehr hoffnungsvoll an.«

»Das war ich von Anfang an auch nicht gewesen. Wie soll ich Ihnen helfen, wenn ich in einem luftleeren Raum arbeiten muß? Selbst eine Liste von Verdächtigen …«

»Aber es gibt keine. Ich könnte Ihnen nicht eine einzige Person nennen. Ist der Fall wirklich so aussichtslos?«

»Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß mir plötzlich jemand sein Herz ausschüttet und die Sache gesteht. – Mrs. Slocum, hier handelt es sich um sehr diskrete Dinge. Ich kann nichts tun, wenn ich nicht etwas mehr über Ihr Privatleben weiß.«

Sehr sanft fragte sie: »Wollen Sie mir vielleicht nachspionieren, Mr. Archer?«

»Kaum. Ich arbeite für Sie. Aber ich brauche einen Ausgangspunkt. Und das sind Sie und Ihre Familie. Ich habe gerade einen Blick auf Ihren Mann und Ihre Tochter geworfen, aber ein Blick genügt eben nicht.«

»Ich habe doch ausdrücklich betont, daß Sie sich meinem Mann nicht nähern sollen.«

Ihren Launen war schwer zu folgen und zu begegnen. Ich sagte kalt: »Falls Sie mich die Angelegenheit nicht auf meine Weise anpacken lassen, werde ich es aufgeben müssen. Das Geld schicke ich Ihnen mit der Post zurück.«

Während des folgenden Schweigens hörte ich, wie sie mit dem Bleistift gegen das Telefongehäuse klopfte. »Nein«, sagte sie schließlich, »ich wünsche, daß Sie weitermachen. Falls Sie einen vernünftigen Vorschlag haben …«

{28}»Er ist zwar nicht sehr vernünftig, aber er könnte ausreichen. Haben Sie Freunde in Hollywood? Leute vom Film?«

Wieder Schweigen. »Da wäre Mildred Fleming. Sie ist Sekretärin in einem der Studios. Ich habe heute mit ihr zu Mittag gegessen.«

»In welchem Studio ist sie?«

»Warners, glaube ich.«

»Gut. Sie haben ihr erzählt, daß Sie das Stück für gut halten. Sie hat einen Freund, der bei einem Agenten arbeitet, und der hat mit Aufführungsrechten zu tun. Der Freund bin ich.«

»Ich verstehe«, sagte sie langsam. »Ja, das könnte gehen. Sogar sehr gut. Ich habe heute einige Freunde von James zum Cocktail da. Wenn Sie um fünf hier sein könnten?«

»Ich werde zeitig kommen.«

»Sehr gut, Mr. Archer.« Sie gab mir die Adresse und legte auf.