{5}1

Der Rechtsanwalt mit dem Namen John Truttwell ließ mich im Vorzimmer seines Büros warten. Dadurch hatte dieser Raum die Möglichkeit, mich unauffällig zu beeindrucken. Der Sessel, in dem ich saß, war mit weichem grünem Leder überzogen. Ölgemälde von dieser Gegend, Landschaften und Seestücke, hingen um mich herum an den Wänden wie unauffällige Plakate.

Das junge hellrothaarige Mädchen vom Empfang wandte sich von ihrer Telefonvermittlung ab. Dank der dicken schwarzen Striche, die ihre Augen unterstrichen, sah sie wie eine Gefangene aus, die durch Stäbe hindurchblickt.

»Es tut mir leid, daß Mr. Truttwell sich verspätet. Schuld daran ist seine Tochter«, sagte das Mädchen ziemlich geheimnisvoll. »Er sollte ihr ihren Willen lassen und sie ihre eigenen Fehler machen lassen. Ich habe es auch hinter mir.«

»Ach?«

»Eigentlich bin ich nämlich Photomodell. Diesen Job hier habe ich nur übernommen, weil mein zweiter Mann mich sitzengelassen hat. Sind Sie wirklich Detektiv?«

Ich sagte, das stimme.

»Mein Mann ist Photograph. Ich würde eine ganze Menge dafür geben, wenn ich wüßte, mit wem – wo er jetzt ist.«

»Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Es lohnt sich nicht.«

{6}»Vielleicht haben Sie recht. Er ist ein mieser Photograph. Einige Leute, die sehr viel davon verstehen, haben mir gesagt, seine Bilder seien mir nie gerecht geworden.«

Sie braucht Mitleid, dachte ich.

Ein großgewachsener Mann von Ende Fünfzig erschien in der offenen Tür. Breitschultrig und elegant gekleidet, sah er gut aus und schien es auch zu wissen. Sein dichtes weißes Haar war sorgfältig gelegt – genauso sorgfältig wie sein Gesichtsausdruck.

»Mr. Archer? Ich bin John Truttwell.« Mit verhaltener Begeisterung schüttelte er mir die Hand und geleitete mich über einen Korridor zu seinem Büro. »Ich muß mich bei Ihnen bedanken, daß Sie so schnell von Los Angeles hergekommen sind, und mich bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie warten ließ. Ich habe mich zwar halb und halb zur Ruhe gesetzt, aber noch nie habe ich mich bisher mit so vielen Dingen beschäftigen müssen.«

Truttwell war keineswegs so durcheinander, wie seine Worte andeuteten. Durch den Wortschwall hindurch betrachteten seine ziemlich dunklen, kühlen Augen mich sorgfältig. Er ließ mich in sein Büro eintreten und setzte mich in einen braunen Ledersessel, ihm gegenüber, am Schreibtisch.

Nur ein Schimmer des Sonnenlichts drang durch die schweren Vorhänge vor den Fenstern; der Raum war künstlich erhellt. In dem diffusen weißen Licht wirkte Truttwell selbst leicht künstlich, wie eine sorgfältig angefertigte Wachsfigur mit eingebautem Lautsprecher. Auf einem Wandregal oberhalb seiner rechten Schulter {7}stand das gerahmte Bild eines blonden Mädchens mit klaren Augen, wohl seine Tochter.

»Am Telefon erwähnten Sie einen Mr. und eine Mrs. Lawrence Chalmers.«

»Das stimmt.«

»Um welches Problem handelt es sich bei den beiden?«

»Darauf werde ich gleich kommen«, sagte Truttwell. »Zu Beginn möchte ich klarstellen, daß Larry und Irene Chalmers Freunde von mir sind. Wir wohnen schräg gegenüber in der Pacific Street. Larry kenne ich, solange ich lebe, und dasselbe galt vor uns von unseren Eltern. Ein gut Teil dessen, was ich als Jurist gelernt habe, lernte ich von Larrys Vater, dem Richter. Und meine verstorbene Frau stand Larrys Mutter sehr nahe.«

In einer etwas irrealen Weise schien Truttwell auf diese Verbindung stolz zu sein. Seine linke Hand strich leicht über seine Schläfe, als spielte er mit einer Locke. Seine Augen und seine Stimme wirkten, als träumte er von der Vergangenheit.

»Damit möchte ich lediglich feststellen«, sagte er, »daß die Chalmers wertvolle Menschen sind – persönlich wertvoll für mich. Ich wünsche, daß Sie die beiden mit entsprechender Sorgfalt behandeln.«

Die Atmosphäre des Büros strotzte von gesellschaftlichen Interessen. Ich versuchte, das eine oder andere zu ergründen. »Wie alte Kunstgegenstände?«

»So ungefähr, obgleich sie nicht alt sind. In meinen Augen sind sie Kunstgegenstände, bei denen es nicht darum geht, daß sie einen nützlichen Zweck erfüllen.« Truttwell verstummte und fuhr dann fort, als wäre {8}ihm eben ein neuer Gedanke gekommen: »Tatsache ist, daß Larry seit dem Kriege nicht viel geleistet hat. Natürlich hat er sehr viel Geld verdient, aber selbst das wurde ihm quasi auf einem silbernen Tablett serviert. Seine Mutter hinterließ ihm einen soliden Heckpfennig, und an der Börse sind daraus mittlerweile Millionen geworden.«

In Truttwells Stimme lag ein Unterton von Neid, dem sich entnehmen ließ, daß seine Gefühle für die beiden Chalmers kompliziert waren und nicht allein aus Verehrung bestanden. Meine Reaktion auf den neidischen Unterton unterdrückte ich nicht.

»Soll ich jetzt beeindruckt sein?«

Truttwell warf mir einen verblüfften Blick zu, als hätte ich ein obszönes Geräusch von mir gegeben oder mir herausgenommen, ein derartiges Geräusch wahrzunehmen. »Ich sehe schon, daß es mir nicht gelungen ist, mich klar auszudrücken. Der Großvater von Larry Chalmers kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg, kam dann nach Kalifornien und heiratete die Erbin eines spanischen Großgrundbesitzers. Larry war im Krieg selbst ein Held, spricht jedoch nicht darüber. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft kommt er dadurch dem am nächsten, was wir als Aristokratie bezeichnen.« Er lauschte dem Klang des Satzes, als hätte er ihn schon früher einmal ausgesprochen.

»Was ist mit Mrs. Chalmers?«

»Kein Mensch würde Irene als Aristokratin bezeichnen. Aber«, fügte er mit unerwartetem Eifer hinzu, »sie ist eine verdammt gut aussehende Frau. Und mehr braucht eine Frau nicht.«

{9}»Sie haben immer noch nicht erwähnt, um welches Problem es sich bei den beiden handelt.«

»Zu einem Teil kommt es daher, daß es mir selbst nicht vollkommen klar ist.« Truttwell griff nach einem gelben Bogen, der auf seinem Schreibtisch lag, und betrachtete die darauf stehenden Notizen mit gekrauster Stirn. »Ich hoffe nur, daß die beiden einem Fremden gegenüber offener sind. Soviel ich bisher verstanden habe, ist bei den Chalmers eingebrochen worden, als sie über ein langes Wochenende in Palm Springs waren. Dabei handelt es sich um einen ziemlich merkwürdigen Einbruch. Nach dem, was Mrs. Chalmers mir erzählte, wurde nur ein einziger wertvoller Gegenstand mitgenommen – eine alte goldene Dose, die sich im Safe des Arbeitszimmers befand. Ich habe den Safe selbst gesehen – Richter Chalmers ließ ihn damals, in den zwanziger Jahren, einbauen –, und ihn aufzubrechen dürfte schwierig sein.«

»Haben Mr. und Mrs. Chalmers die Polizei benachrichtigt?«

»Nein, und sie haben auch nicht die Absicht.«

»Ist Personal im Hause?«

»Die Chalmers haben einen spanischen Diener, der jedoch nicht im Hause wohnt. Aber der Mann ist jetzt seit mehr als zwanzig Jahren bei ihnen. Außerdem fuhr er die beiden nach Palm Springs.« Er verstummte und schüttelte den weißen Kopf. »Trotzdem sieht es so aus, als könnte ein Außenstehender es nicht gewesen sein, nicht wahr?«

»Verdächtigen Sie den Diener, Mr. Truttwell?«

»Ich möchte Ihnen lieber nicht sagen, wen oder was {10}ich vermute. Für Sie dürfte es besser sein, wenn Sie nicht allzu viele vorgefaßte Meinungen zu hören bekommen. Obwohl ich Irene und Larry gut kenne, sind es Menschen, die sehr zurückgezogen leben, und ich behaupte keineswegs, ihr Leben zu begreifen.«

»Haben die beiden Kinder?«

»Einen Sohn, Nicholas«, sagte er in neutralem Ton.

»Wie alt?«

»Drei- oder vierundzwanzig. Diesen Monat macht er an der Universität sein Abschlußexamen.«

»Im Januar?«

»Richtig. Im ersten Jahr ließ Nick ein Semester aus. Er verschwand, ohne irgend jemandem Bescheid zu sagen, und war mehrere Monate verschwunden.«

»Haben seine Eltern augenblicklich mit ihm Schwierigkeiten?«

»So kraß würde ich es nicht formulieren.«

»Könnte er irgend etwas mit dem Einbruch zu tun haben?«

Truttwell ließ sich mit der Antwort Zeit. Nach den Veränderungen in seinen Augen zu schließen, probierte er im Geiste verschiedene Antworten aus; sie reichten von einer Anklage bis zur Verteidigung.

»Nick könnte es gewesen sein«, sagte er schließlich. »Aber er hat keinen Grund, seiner Mutter eine goldene Dose zu stehlen.«

»Ich könnte mir verschiedene Gründe vorstellen. Interessiert er sich für Frauen?«

Ziemlich förmlich erwiderte Truttwell: »Ja, das tut er. Zufällig ist er mit meiner Tochter Betty verlobt.«

{11}»Verzeihung.«

»Aber ich bitte Sie. Das konnten Sie wirklich nicht wissen. Gegenüber den Chalmers würde ich an Ihrer Stelle jedoch vorsichtig mit dem sein, was ich sagte. Sie sind es gewohnt, ein sehr ruhiges Leben zu führen, und ich fürchte, daß diese Geschichte sie tatsächlich aufgebracht hat. Nach dem, was sie für ihr kostbares Haus empfinden, ist es, als wäre ein Tempel geschändet worden.«

Er zerknüllte den gelben Bogen mit beiden Händen und warf ihn in einen Papierkorb. Die ungeduldige Geste hinterließ den Eindruck, als wäre er froh, wenn er Mr. und Mrs. Chalmers und ihre Probleme einschließlich ihres Sohnes los wäre.

2

Wie ein Abhang im Fegefeuer stieg die Pacific Street aus der armen Unterstadt zu dem Viertel aus schönen alten Häusern hoch, das auf dem Hügel lag. Das im spanischen Stil erbaute Haus der Chalmers war sicherlich fünfzig oder sechzig Jahre alt; seine weißen Mauern wirkten jedoch in der späten Morgensonne makellos.

Ich durchquerte den ummauerten Hof und klopfte an die eisenbeschlagene Haustür. Ein dunkelgekleideter Diener mit einem Gesicht, das in ein spanisches {12}Kloster gehörte, öffnete, fragte nach meinem Namen und ließ mich in der großen Diele stehen. Diese Diele war ein riesiger zweigeschossiger Raum, in dem ich mir klein, aber dann – als Reaktion – groß und selbstbewußt vorkam.

Ich konnte in die große weiße Höhle des Wohnzimmers blicken. An seinen Wänden leuchteten moderne Gemälde. Der Zugang war mit Gittern aus schwarzem Schmiedeeisen bewehrt, schulterhoch, so daß man sich wie in einem Museum vorkam.

Dieser Eindruck wurde teilweise durch die dunkelhaarige Frau gestört, die vom Garten hereinkam, um mich zu begrüßen. In den Händen hielt sie eine Rosenschere und eine helle rote Olé-Rose. Die Schere legte sie auf einen Tisch in der Diele; die Rose, deren Farbe genau zu der ihrer Lippen paßte, behielt sie dagegen in der Hand.

Ihr Lächeln war strahlend und besorgt. »Irgendwie habe ich Sie mir älter vorgestellt.«

»Ich bin älter, als ich aussehe.«

»Ich hatte John Truttwell ausdrücklich gebeten, mir den Leiter der Agentur zu schicken.«

»Ich bin eine Ein-Mann-Agentur. Falls es nötig ist, arbeite ich mit anderen Privatdetektiven zusammen.«

Sie krauste die Stirn. »Das klingt meinem Gefühl nach nicht gerade überzeugend. Mit den Pinkertons scheint man Sie nicht vergleichen zu können.«

»Ich bin keine Großfirma – wenn Sie das meinten.«

»Das nicht. Ich brauche jedoch einen erfahrenen Mann, einen wirklich erfahrenen. Haben Sie Erfahrung im Umgang mit gut …« Ihre freie Hand deutete erst {13}auf sich selbst und dann auf ihre Umgebung. »… mit Menschen wie mir?«

»Um diese Frage beantworten zu können, kenne ich Sie noch nicht gut genug.«

»Sie sind es doch, über den wir jetzt sprechen.«

»Ich nehme an, daß Mr. Truttwell mich empfohlen hat und Ihnen mitteilte, daß ich Erfahrung besitze.«

»Ich habe doch das Recht, meine eigenen Fragen zu stellen, nicht wahr?«

Ihr Ton war einerseits herausfordernd; andererseits fehlte es ihm an Selbstsicherheit. Es war der Tonfall einer hübschen Frau, die Geld und gesellschaftliches Ansehen geheiratet hat und nie vergißt, daß sie diese Dinge genauso leicht wieder verlieren kann.

»Also stellen Sie Ihre Fragen, Mrs. Chalmers.«

Sie merkte, daß ich sie ansah, und hielt meinen Blick fest, als versuchte sie, meine Gedanken zu lesen. Ihre Augen waren schwarz, hellwach und undurchdringlich.

»Ich möchte lediglich folgendes wissen: Wenn Sie die Florentiner Dose finden – John Truttwell hat Ihnen wahrscheinlich von der goldenen Dose erzählt?«

»Er sagte, daß sie verschwunden sei.«

Sie nickte. »Angenommen, Sie finden sie und bekommen heraus, wer sie mitgenommen hat – ist die Angelegenheit dann damit erledigt? Ich meine: Sie werden dann doch nicht zu den Behörden laufen und sie über alles informieren?«

»Nein. Es sei denn, die Behörden wurden bereits eingeschaltet.«

»Das sind sie nicht, und das werden sie auch nicht«, sagte sie. »Ich möchte, daß diese ganze Angelegenheit {14}unter uns bleibt. Eigentlich hatte ich sogar nicht einmal die Absicht, John Truttwell von der Dose zu erzählen, aber er hat es mir entlockt. Allerdings vertraue ich ihm. Wenigstens glaube ich es.«

»Und mir glauben Sie nicht vertrauen zu können?«

Ich lächelte, und sie entschloß sich, mein Lächeln zu erwidern. Mit ihrer roten Rose berührte sie meine Wange; dann ließ sie sie auf den Fliesenboden fallen, als hätte die Blume ihren Zweck erfüllt. »Kommen Sie in das Arbeitszimmer. Dort sind wir unter uns.«

Über eine kurze Treppe führte sie mich zu einer reichgeschnitzten Eichentür. Bevor sie sie hinter uns schloß, sah ich noch, daß der Diener in der Empfangshalle erst die Schere und dann die Rose an sich nahm.

Das Arbeitszimmer war ein spärlich möblierter Raum mit dunklen Balken, die die abgeschrägte weiße Decke stützten. Das einzige kleine Fenster, vor dem sich ein Gitter befand, trug dazu bei, daß es wie eine Gefängniszelle wirkte. Als hätte der Gefangene nach einem Ausweg gesucht, standen an einer Wand Regale mit alten juristischen Büchern.

An der gegenüberliegenden Wand hing ein großes Gemälde, anscheinend ein Ölbild von Pacific Point in alten Zeiten, dessen Perspektive primitiv war. Ein Segelschiff aus dem 17. Jahrhundert lag im Hafen innerhalb der Landzunge; daneben lungerten nackte braune Indianer am Strand. Über ihren Köpfen marschierten spanische Soldaten wie eine Armee am Himmel.

Mrs. Chalmers bot mir einen alten, mit Kalbsleder bezogenen Drehstuhl vor einem geschlossenen Rollpult an.

»Diese Stücke passen nicht zu den übrigen Möbeln«, {15}sagte sie, als wäre es wichtig. »Aber das hier war der Schreibtisch meines Schwiegervaters, und in dem Sessel, in dem Sie jetzt sitzen, saß er immer bei Gericht. Er war Richter.«

»Das erzählte mir Mr. Truttwell bereits.«

»Ja, John Truttwell kannte ihn. Ich selbst habe ihn nie kennengelernt. Er starb vor langer Zeit, als Lawrence noch ein kleiner Junge war. Aber mein Mann verehrt immer noch alles, was mit seinem Vater zusammenhängt.«

»Ich würde mich freuen, Ihren Mann ebenfalls kennenzulernen. Ist er zu Hause?«

»Leider nicht. Er ist zum Arzt gegangen. Diese Einbruchsgeschichte hat ihn sehr aufgeregt.« Und sie fügte hinzu: »Außerdem möchte ich auch nicht, daß Sie mit ihm sprechen.«

»Weiß er, daß ich hier bin?«

Sie entfernte sich von mir und beugte sich über einen schwarzen eichenen Refektoriumstisch. Aus einem silbernen Kästchen nahm sie eine Zigarette und zündete sie mit einem dazu passenden Tischfeuerzeug an. Die Zigarette, an der sie heftig zog, legte einen blauen Rauchschleier zwischen uns.

»Lawrence hielt es für eine schlechte Idee, einen Privatdetektiv einzuschalten. Trotzdem beschloß ich, Sie zu engagieren.«

»Was hatte er dagegen einzuwenden?«

»Mein Mann liebt sein Privatleben. Und die Dose, die gestohlen wurde – mein Gott, sie war ein Geschenk, das seine Mutter von einem ihrer Verehrer bekommen hatte. Eigentlich soll ich es gar nicht wissen, {16}aber ich weiß es doch.« Ihr Lächeln war verzerrt. »Außerdem bewahrte seine Mutter in dieser Dose die Briefe auf.«

»Die Briefe des Verehrers?«

»Die Briefe meines Mannes. Während des Krieges hatte Larry ihr eine Menge Briefe geschrieben, und diese Briefe bewahrte sie in der Dose auf. Die Briefe sind übrigens auch verschwunden – nicht, daß sie von großem Wert sind, ausgenommen vielleicht für Larry.«

»Ist die Dose wertvoll?«

»Ich glaube schon. Sie ist vergoldet und sehr sorgfältig gearbeitet. Es handelt sich um eine Florentiner Arbeit aus der Renaissance.« Sie stolperte über das Wort, bekam es dann jedoch heraus. »Auf dem Deckel befindet sich ein Bild – zwei Liebende.«

»Ist sie versichert?«

Sie schüttelte den Kopf und kreuzte die Beine. »Das schien nicht nötig. Wir haben sie nie aus dem Safe genommen. Nie sind wir auf den Gedanken gekommen, der Safe könnte aufgebrochen werden.«

Ich bat darum, den Safe sehen zu dürfen. Mrs. Chalmers nahm das primitive Gemälde mit den Indianern und den spanischen Soldaten ab. Wo es gehangen hatte, war ein großer zylindrischer Safe in die Mauer eingelassen. Sie drehte mehrmals an der Scheibe und öffnete den Safe. Über ihre Schulter hinweg konnte ich erkennen, daß der Safe denselben Durchmesser wie ein Geschützrohr vom Kaliber 40 Zentimeter hatte und genauso leer war.

»Wo haben Sie Ihren Schmuck, Mrs. Chalmers?«

»Ich besitze nicht viel; Schmuck hat mich nie {17}interessiert. Was ich habe, bewahre ich in meinem Zimmer in einer Kassette auf. Die Kassette hatte ich nach Palm Springs mitgenommen. Wir waren dort, als die goldene Dose gestohlen wurde.«

»Wie lange vermissen Sie sie jetzt?«

»Warten Sie – heute ist Dienstag. Am Donnerstag abend habe ich sie in den Safe getan. Am nächsten Morgen fuhren wir ab. Gestohlen worden muß sie sein, nachdem wir weggefahren waren, also vor vier Tagen oder weniger. Gestern abend, als wir nach Hause kamen, sah ich im Safe nach, und da war sie verschwunden.«

»Warum haben Sie gestern abend im Safe nachgesehen?«

»Das weiß ich nicht. Das weiß ich wirklich nicht«, fügte sie hinzu, und es klang wie eine Lüge.

»Hatten Sie irgendwie eine Ahnung, daß sie gestohlen sein könnte?«

»Nein. Bestimmt nicht.«

»Was ist mit Ihrem Diener?«

»Emilio hat sie nicht gestohlen. Für ihn kann ich bürgen – absolut.«

»Wurde außer der Dose noch etwas mitgenommen?«

Sie überlegte. »Das glaube ich nicht. Mit Ausnahme natürlich der Briefe, der berühmten Briefe.«

»Waren die Briefe wichtig?«

»Wichtig waren sie, wie ich schon sagte, für meinen Mann. Und natürlich für seine Mutter. Aber sie ist schon lange tot, seit Kriegsende. Ich bin ihr nie begegnet.« Es klang ein wenig betrübt, als hätte man ihr den mütterlichen Segen vorenthalten, was sie immer noch als Betrug empfand.

{18}»Warum hätte ein Einbrecher sie wohl mitgenommen?«

»Danach dürfen Sie mich nicht fragen. Wahrscheinlich, weil sie in der Dose lagen.« Sie schnitt eine Grimasse. »Sollten Sie die Briefe finden, brauchen Sie sich nicht die Mühe zu machen, sie zurückzubringen. Ich habe sie bereits gehört, zumindest den größten Teil.«

»Gehört?«

»Mein Mann las sie mir laut vor.«

»Wo ist Ihr Sohn jetzt?«

»Warum?«

»Ich hätte ihn gern gesprochen.«

»Das geht nicht.« Wieder krauste sie die Stirn. Hinter ihrer schönen Maske verbarg sich ein verwöhntes Mädchen, so überlegte ich, wie ein Betrüger, der im Standbild eines Gottes steckt. »Wenn John Truttwell mir doch nur jemand anders geschickt hätte. Irgend jemanden.«

»Was habe ich denn falsch gemacht?«

»Sie stellen zu viele Fragen. Sie mischen sich in unsere Familienangelegenheiten, und dabei habe ich Ihnen schon mehr erzählt, als ich eigentlich sollte.«

»Sie können mir vertrauen.« Im gleichen Augenblick bedauerte ich, es gesagt zu haben.

»Kann ich das wirklich?«

»Andere haben mir auch vertraut.« In meiner Stimme entdeckte ich den öligen Tonfall eines Verkäufers. Ich wollte die Frau und ihre sonderbare kleine Dose nicht aufgeben; sie besaß jene Art von Schönheit, deren Vergangenheit man ergründen möchte. »Und ich bin überzeugt, daß Mr. Truttwell Ihnen den Rat geben {19}würde, mir nichts zu verschweigen. Wenn ein Rechtsanwalt mir einen Auftrag erteilt, habe ich dasselbe Recht auf Verschwiegenheit wie er.«

»Was bedeutet das genau?«

»Es bedeutet, daß man mich nicht zwingen kann, über das zu sprechen, was ich herausgefunden habe. Nicht einmal ein Schwurgericht kann mich dazu zwingen.«

»Ich verstehe.« Sie hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen, so daß ich versuchte, mich anzupreisen, und in gewissem Sinne konnte sie mich jetzt kaufen – wenn auch nicht unbedingt mit Geld. »Wenn Sie versprechen, selbst gegenüber John Truttwell unbedingt zu schweigen, will ich Ihnen etwas erzählen. Möglicherweise handelt es sich gar nicht um einen gewöhnlichen Einbruch.«

»Glauben Sie, daß der Einbrecher zum Hause gehört? Nichts deutet darauf hin, daß der Safe gewaltsam geöffnet wurde.«

»Das hat Lawrence auch schon festgestellt. Und das ist auch der Grund, warum er Sie nicht in die Angelegenheit hineinziehen will. Er wollte nicht einmal, daß ich mit John Truttwell darüber sprach.«

»Wer hat nach Ansicht Ihres Mannes die Dose gestohlen?«

»Das hat er nicht gesagt. Dennoch fürchte ich, daß er Nick verdächtigt.«

»Hatten Sie mit Nick früher schon Schwierigkeiten?«

»Nicht dieser Art.« Die Stimme der Frau war so leise geworden, daß sie fast nicht mehr zu verstehen war. Ihr ganzer Körper war zusammengesunken, als {20}bedrückte der Gedanke an ihren Sohn sie wie eine spürbare Last.

»Um welche Art von Schwierigkeit handelte es sich damals?«

»Um sogenannte emotionale Probleme. Ohne jeden Grund wandte er sich damals gegen Lawrence und mich. Mit neunzehn Jahren lief er einfach davon. Pinkertons brauchten Monate, um ihn zu finden. Uns kostete es mehrere tausend Dollar.«

»Und wo steckte er?«

»Er trieb sich im Lande herum. Genaugenommen hat ihm das jedoch, wie sein Psychiater erklärt, gutgetan. Seitdem beschäftigt er sich wieder mit seinem Studium. Und heute hat er sogar ein Mädchen.« Sie sprach mit gewissem Stolz – oder mit gewisser Hoffnung, während ihre Augen allerdings schwermütig wirkten.

»Und Sie glauben nicht, daß er die Dose gestohlen hat?«

»Nein, ich nicht.« Sie reckte ihr Kinn in die Höhe. »Wenn ich es glaubte, wären Sie jetzt nicht hier.«

»Kann er den Safe öffnen?«

»Das bezweifle ich. Wir haben ihm die Kombination nie verraten.«

»Mir ist aufgefallen, daß Sie sie auswendig wußten. Haben Sie sie auch irgendwo aufgeschrieben?«

»Ja.«

Sie zog die rechte unterste Schublade des Schreibtisches auf, nahm sie ganz heraus und kippte sie um, so daß die gelben Bankauszüge, die in der Schublade lagen, herausfielen. Mit einem Klebestreifen war auf dem Boden der Schublade ein Stück Papier befestigt, {21}das eine Reihe mit Schreibmaschine geschriebener Zahlen enthielt. Der Klebestreifen war gelb und knisterte vor Alter, und das Papier war so verblichen, daß die daraufstehenden Zahlen kaum mehr zu entziffern waren.

»Diesen Zettel zu finden dürfte nicht schwer gewesen sein«, sagte ich. »Ist Ihr Sohn in Geldnöten?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Von uns erhält er monatlich sechs- oder siebenhundert Dollar und mehr, wenn er mehr braucht.«

»Sie sprachen vorhin von einem Mädchen.«

»Er ist mit Betty Truttwell verlobt, und sie ist alles andere als eine Mitgiftjägerin.«

»Andere Mädchen oder Frauen gibt es in seinem Leben nicht?«

»Nein.« Ihre Antwort kam jedoch langsam und zweifelnd.

»Was empfindet er für die Dose?«

»Nick?« Ihre klare Stirn krauste sich, als hätte meine Frage sie überrascht. »Wenn ich es genau überlege, interessierte er sich für sie, als er noch klein war. Damals ließ ich ihn und Betty damit spielen. Wir – wir taten immer so, als wäre es die Büchse der Pandora. Magie – verstehen Sie?«

Sie lachte leise. Ihr ganzer Körper träumte von der Vergangenheit. Dann aber änderte sich der Ausdruck ihrer Augen. Ihr Verstand gewann wieder die Oberhand, streng und erschreckt. Mit gedämpfter Stimme sagte sie: »Vielleicht hätte ich alles nicht so aufbauschen sollen. Aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß er sie an sich genommen hat. Gewöhnlich ist Nick uns gegenüber immer ehrlich gewesen.«

{22}»Haben Sie ihn gefragt, ob er sie genommen hat?«

»Nein. Seit unserer Rückkehr haben wir ihn nicht gesehen. Er hat eine eigene Wohnung in der Nähe der Universität und macht gerade seine Schlußexamen.«

»Ich hätte gern mit ihm gesprochen und von ihm zumindest ein Ja oder Nein gehört. Da er verdächtigt wird …«

»Verraten Sie ihm bitte nicht, daß sein Vater ihn verdächtigt. In den letzten Jahren sind die beiden nämlich sehr gut miteinander ausgekommen, und ich möchte nicht, daß sich daran etwas ändert.«

Ich versprach ihr, taktvoll zu sein. Ohne weitere Überredung meinerseits gab sie mir die Telefonnummer von Nick Chalmers und seine Adresse auf dem Areal der Universität. Beides schrieb sie mit einer kindlich unfertigen Handschrift auf einen Zettel. Dann blickte sie auf ihre Uhr.

»Es hat länger gedauert, als ich dachte. Mein Mann kommt zum Mittagessen nach Hause.«

Ihr Gesicht war gerötet und ihre Augen leuchteten, als hätte sie ein Stelldichein vereinbart. Eilig brachte sie mich dann in die Empfangshalle, wo der dunkelgekleidete Diener mit ausdruckslosem, ehrerbietigem Gesicht stand. Er öffnete die Haustür, und Mrs. Chalmers drängte mich praktisch hinaus.

Vor dem Haus stieg gerade ein Mann mittleren Alters, in elegantem Tweedanzug, aus einem schwarzen Rolls-Royce. Er überquerte den Hof mit einer Art militärischer Genauigkeit, als würde jeder Schritt von ihm, jede Bewegung seiner Arme einzeln durch Befehle kontrolliert, die von oben kamen. Die Augen in seinem {23}hageren braunen Gesicht verrieten eine Art strahlend blauer Unschuld. Der untere Teil seines Gesichts wurde durch einen viereckig gestutzten braunen Schnurrbart verharmlost.

Sein ausdrucksloser Blick wanderte an mir vorbei. »Was geht hier vor, Irene?«

»Nichts. Ich meine …« Sie atmete tief. »Der Herr ist von der Versicherung. Er kam wegen des Einbruchs.«

»Hast du ihn kommen lassen?«

»Ja.« Sie warf mir einen verschämten Blick zu. Sie log offen und bat mich, sie nicht zu verraten.

»Das war aber ziemlich töricht«, sagte ihr Mann. »Die Florentiner Dose war nämlich gar nicht versichert – zumindest meines Wissens nicht.« Höflich und fragend sah er mich an.

»Das stimmt«, sagte ich mit hölzerner Stimme.

Ich ärgerte mich über die Frau. Sie hatte meine Verbindung zu ihr und jede mögliche Verbindung zu ihrem Mann zerstört.

»Dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten«, sagte er zu mir. »Bitte, entschuldigen Sie den Irrtum von Mrs. Chalmers. Es tut mir leid, daß wir Ihre Zeit verschwendet haben.«

Geduldig unter seinem Schnurrbart lächelnd, kam Chalmers auf mich zu. Ich trat zur Seite. Er ging an mir vorbei durch die Haustür, wobei er sorgfältig darauf achtete, mich nicht zu berühren. Ich war nur ein gewöhnlicher Bürger, und möglicherweise war dies ansteckend.

{24}3

Auf dem Weg zur Universität hielt ich bei einer Tankstelle und rief von einer Telefonzelle aus in Nicks Wohnung an. Es meldete sich die Stimme eines Mädchens: »Hier bei Nicholas Chalmers.«

»Ist Mr. Chalmers da?«

»Nein.« Die Stimme hatte einen professionellen Klang. »Hier ist der Auftragsdienst von Mr. Chalmers.«

»Wo kann ich ihn erreichen? Es ist wichtig.«

»Wo er sich aufhält, weiß ich nicht.« In ihre Stimme war ein unprofessioneller Ton der Besorgnis gekommen. »Hat es damit zu tun, daß er die Prüfung nicht bestanden hat?«

»Möglicherweise«, sagte ich vieldeutig. »Sind Sie eine Freundin von Nick?«

»Ja, das bin ich. In Wirklichkeit bin ich gar nicht der Auftragsdienst. Ich bin seine Braut.«

»Miss Truttwell?«

»Kenne ich Sie?«

»Noch nicht. Sind Sie in Nicks Wohnung?«

»Ja. Sind Sie Anwalt?«

»Grob gesehen, ja. Mein Name ist Archer. Wollen Sie in der Wohnung auf mich warten, Miss Truttwell? Und wollen Sie Nick, falls er auftaucht, bitten, ebenfalls auf mich zu warten?«

Sie sagte, sie würde es tun. »Ich tue alles, was Nick hilft.«

{25}Die Universität lag einige Kilometer außerhalb der Stadt, jenseits des Flughafens, auf einem Hochplateau. Aus der Ferne wirkte das unvollständige Oval der neuen Gebäude genauso altertümlich und geheimnisvoll wie Stonehenge. Es war die dritte Januarwoche, und daraus schloß ich, daß gerade die Zwischenprüfungen im Gange waren. Die Studenten, die ich auf dem Gelände sah, wirkten alle irgendwie getrieben und in Gedanken verloren.

Ich war früher schon einmal da gewesen, aber das lag mehrere Jahre zurück. Die Anzahl der Studenten hatte sich in der Zwischenzeit vervielfacht, und die zur Universität gehörende Gemeinde war zu einer Stadt von Apartmenthäusern geworden. Wenn man aus Los Angeles kam, war es merkwürdig, durch eine Stadt zu fahren, wo nur junge Menschen lebten.

Nick wohnte in einem fünfstöckigen Gebäude, das sich Cambridge Arms nannte. Mit dem Lift fuhr ich zum fünften Stock und fand die Tür seines Apartments, das die Nummer 51 trug.

Das Mädchen öffnete die Tür, bevor ich noch geklopft hatte. Ihre Augen flackerten, als sie nur mich sah. Sie hatte glattes blondes Haar, das bis zu den Schultern ihres dunklen Hosenanzuges reichte. Aussehen tat sie wie zwanzig.

»Von Nick nichts?« sagte ich.

»Leider nein. Sind Sie Mr. Archer?«

»Ja.«

Sie warf mir einen schnellen, prüfenden Blick zu, und ich merkte, daß sie älter war, als ich annahm. »Sind Sie wirklich Anwalt, Mr. Archer?«

{26}»Ich sagte vorhin: grob gesehen. Ich habe schon sehr viele Menschen beraten, wenn auch mehr als eine Art Amateur.«

»Und was machen Sie beruflich?«

Ihre Stimme klang nicht unfreundlich. Aber ihre Augen waren aufrichtig und empfindsam, sehr leicht zu verletzen. Und gerade das wollte ich nicht. Sie war das netteste Wesen, das mir in der letzten Zeit über den Weg gelaufen war.

»Wenn ich es Ihnen sage, Miss Truttwell, werden Sie wahrscheinlich nicht mit mir reden wollen.«

»Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«

»Das war ich früher. Jetzt arbeite ich privat.«

»Dann haben Sie vollkommen recht. Ich möchte mit Ihnen nicht reden.«

Sie zeigte Anzeichen von Aufregung. Ihre Pupillen vergrößerten sich, ihre Nasenflügel bebten. Auf ihrem Gesicht lag eine Art Schimmer oder Glanz. Und dann sagte sie: »Haben Nicks Eltern Sie hergeschickt, um mit mir zu reden?«

»Wie konnten sie das? Kein Mensch weiß, daß Sie hier sind. Da wir jedoch nun schon miteinander sprechen, könnten wir es genausogut drinnen tun.«

Nach einigem Zögern trat sie zurück und ließ mich ein. Das Wohnzimmer war kostbar, aber langweilig eingerichtet. Die Möbel sahen aus, als hätten die Chalmers sie für ihren Sohn gekauft, ohne ihn dabei zu fragen.

Das ganze Zimmer machte den Eindruck, als hätte Nick versucht, möglichst unauffällig zu bleiben. An den Wänden hingen keine Bilder. Die einzigen persönlichen Dinge waren die Bücher auf dem verstellbaren {27}Wandregal, aber zum größten Teil waren es Lehrbücher für Politik, Jura, Psychologie und Psychiatrie.

Ich wandte mich an das Mädchen. »Nick scheint persönliche Dinge nicht herumliegen zu lassen.«

»Das stimmt. Er ist ein sehr geheimnisvoller Junge – Mann.«

»Junge oder Mann?«

»Vielleicht versucht er gerade, sich darüber klarzuwerden.«

»Wie alt ist er eigentlich, Miss Truttwell?«

»Letzten Monat ist er dreiundzwanzig geworden – am 14. Dezember. Sein Examen macht er ein halbes Jahr zu spät, weil er vor einigen Jahren ein Semester ausgelassen hat. Das heißt, daß er das Examen schaffen wird, wenn man ihm die Möglichkeit zum Ausgleich gibt. In drei von vier Prüfungen ist er bis jetzt nämlich durchgefallen.«

»Warum?«

»Das hat mit Lernen nichts zu tun. Nick ist ein gescheiter Kopf«, sagte sie, als hätte ich es bestritten. »In politischer Wissenschaft, seinem Hauptfach, kann er sehr viel, und im nächsten Jahr will er Jura studieren.« Ihre Stimme klang ein wenig unwirklich, wie die eines Mädchens, das einen Traum erzählt oder versucht, sich einer Hoffnung zu erinnern.

»Um welche Art von Problem handelt es sich, Miss Truttwell?«

»Um ein Lebensproblem, wie man es so nennt.« Sie kam einen Schritt näher und stand mit herunterhängenden Armen da, die Handflächen mir zugewandt. »Ganz plötzlich war ihm alles egal.«

{28}»Sie auch?«

»Wenn das alles gewesen wäre, hätte ich es ertragen können. Aber er löste sich von allem. In den letzten Tagen hat sein ganzes Leben sich verändert.«

»Drogen?«

»Nein. Das glaube ich nicht. Nick weiß, wie gefährlich sie sind.«

»Manchmal ist gerade das ein Anreiz.«

»Ich weiß – ich weiß, was Sie meinen.«

»Hat er sich mit Ihnen darüber unterhalten?«

Eine Sekunde lang schien sie verwirrt zu sein. »Worüber unterhalten?«

»Über die Veränderungen in seinem Leben während der letzten Tage.«

»Eigentlich nicht. Wissen Sie, es hat mit einer anderen Frau zu tun. Mit einer älteren Frau.« Vor Eifersucht war das Mädchen ganz blaß.

»Er muß verrückt geworden sein«, sagte ich, um ihr ein Kompliment zu machen.

Sie nahm es wörtlich. »Ich weiß. Er hat Dinge getan, die er nie getan hätte, wenn er völlig normal wäre.«

»Erzählen Sie, was er getan hat.«

Sie warf mir einen Blick zu, den bisher längsten. »Das kann ich unmöglich. Ich kenne Sie nicht einmal.«

»Aber Ihr Vater kennt mich.«

»Wirklich?«

»Rufen Sie ihn doch an, wenn Sie mir nicht glauben.«

Ihr Blick wanderte zum Telefon, das auf einem Tischchen neben dem Sofa stand, und dann wieder zu {29}meinem Gesicht zurück. »Das bedeutet, daß Sie für die Chalmers arbeiten. Chalmers sind Klienten von Dad.«

Darauf antwortete ich nicht.

»Welchen Auftrag haben Sie von Nicks Eltern bekommen?«

»Kein Kommentar. Wir verschwenden nur Zeit. Sie und ich – wir beide möchten doch, daß Nick wieder vernünftig wird. Jeder von uns beiden braucht die Hilfe des anderen.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

Ich spürte, daß ich langsam Kontakt zu ihr bekam. »Offensichtlich möchten Sie mit irgend jemandem sprechen. Erzählen Sie mir, was Nick vorhat.«

Immer noch stand ich wie ein unerwünschter Gast da. Ich setzte mich auf das Sofa. Vorsichtig kam das Mädchen näher und hockte sich, außerhalb meiner Reichweite, auf die Lehne.

»Wenn ich es täte – würden Sie seinen Eltern auch nichts davon verraten?«

»Nein. Was haben Sie eigentlich gegen seine Eltern?«

»Eigentlich nichts. Es sind nette Menschen, die ich mein ganzes Leben lang als Freunde und Nachbarn kannte. Aber Mr. Chalmers ist Nick gegenüber ziemlich streng; sie sind so verschieden, verstehen Sie? Nick betrachtet den Krieg beispielsweise äußerst skeptisch, während Mr. Chalmers das für unpatriotisch hält. Er war im letzten Krieg dabei und ist ausgezeichnet worden, und dadurch ist sein Denken starr geworden.«

»Was hat er im Krieg gemacht?«

»Er war Marinepilot und damals jünger, als Nick heute ist. Er hält Nick für einen schrecklichen {30}Rebellen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Dabei stimmt es gar nicht. Ich gebe zu, daß er früher ziemlich rebellisch war. Aber das liegt Jahre zurück, bevor Nick mit dem Studium begann. Bis zur letzten Woche ging auch alles gut. Dann plötzlich war alles vorbei.«

Ich wartete. Versuchsweise, wie ein Vogel, rutschte sie von der Lehne des Sofas herunter und ließ sich neben mir auf den Sitz fallen. Ihr Gesicht war verbittert, und die Augen hatte sie fest zusammengekniffen, um die Tränen zurückzuhalten. Nach einer Minute fuhr sie dann fort: »Ich glaube, daß hinter allem diese Frau steckt. Ich weiß, was Sie jetzt von mir denken. Aber kann ich etwas dafür, daß ich eifersüchtig bin? Wie ein glühendes Eisen hat er mich einfach fallenlassen und hat mit einer Frau angebändelt, die ihrem Alter nach seine Mutter sein könnte. Sogar verheiratet ist sie.«

»Woher wissen Sie das?«

»Er hat sie mir als Mrs. Trask vorgestellt. Ich bin ziemlich überzeugt, daß sie nicht von hier ist – im Telefonbuch gibt es nämlich keine Trask.«

»Er hat sie Ihnen vorgestellt?«

»Ich habe ihn dazu gezwungen. Ich sah sie zusammen im Restaurant Lido. Ich ging an ihren Tisch und blieb stehen, bis Nick mich mit ihr und dem anderen Mann bekannt machte. Er hieß Sidney Harrow. Er ist Inkassovertreter in San Diego.«

»Hat er Ihnen das erzählt?«

»Eigentlich nicht. Ich habe es herausbekommen.«

»Sie scheinen ziemlich viel herauszubekommen.«

»Ja«, sagte sie, «das tue ich. Gewöhnlich halte ich {31}zwar nichts davon, bei anderen herumzuschnüffeln.« Mit einem leichten Lächeln sah sie mich an. »Aber es gibt Zeiten, wo man herumschnüffeln muß. Als Mr. Harrow einmal nicht hinsah, habe ich ihm den Parkschein weggenommen, der neben seinem Teller auf dem Tisch lag. Ich ging damit zum Parkplatz des Lido und ließ mir von dem Parkwächter zeigen, welcher Wagen ihm gehörte. Es war ein uraltes Kabriolett, bei dem das Rückfenster herausgerissen war. Der Rest war ganz einfach. Von der Zulassung schrieb ich mir seinen Namen und seine Anschrift ab und rief dann bei seiner Adresse in San Diego an, wobei ich feststellte, daß es ein Inkassobüro war. Dort hieß es, er sei auf Urlaub. Netter Urlaub!«

»Woher wissen Sie, daß es nicht stimmt?«

»Ich bin noch nicht fertig.« Zum ersten Mal war sie ungeduldig, mitgerissen von ihrem Bericht »Kennengelernt habe ich sie am Donnerstag mittag im Restaurant. Das alte Kabriolett sah ich am Freitag abend wieder. Da stand es vor dem Haus der Chalmers. Wir wohnen schräg gegenüber in derselben Straße, und vom Fenster meines Arbeitszimmers aus kann ich das Haus sehen. Um ganz sicherzugehen, daß es auch der Wagen von Mr. Harrow war, ging ich hinüber, um mir die Zulassung anzusehen. Das war Freitag abend gegen neun Uhr.

Und es stimmte, es war sein Wagen. Er muß gehört haben, wie ich die Wagentür schloß. Denn er kam aus dem Haus der Chalmers gerannt und fragte mich, was ich dort machte. Ich fragte ihn, was er dort machte. Dann schlug er mich ins Gesicht und drehte mir den {32}Arm herum. Wahrscheinlich habe ich dabei geschrien, denn Nick kam aus dem Haus und schlug Mr. Harrow nieder. Mr. Harrow holte einen Revolver aus seinem Wagen, und einen Augenblick lang dachte ich schon, er wollte Nick erschießen. Beide hatten einen ganz komischen Gesichtsausdruck, als wollten sie schnell sterben. Als hätten sie tatsächlich die Absicht, sich gegenseitig umzubringen und umgebracht zu werden.«

Diesen seltsamen Ausdruck kenne ich. Ich habe ihn im Krieg und allzu viele Male auch nach dem Krieg gesehen.

»Aber dann«, sagte das Mädchen, »kam die Frau aus dem Haus und trat dazwischen. Zu Mr. Harrow sagte sie, er solle in seinen Wagen steigen. Dann stieg sie ebenfalls ein, und sie fuhren weg. Nick sagte, es tue ihm leid, aber er könne es mir im Augenblick noch nicht erklären. Er verschwand wieder im Haus, machte die Tür hinter sich zu und schloß ab.«

»Woher wissen Sie, daß er die Tür abschloß?«

»Ich versuchte, ins Haus zu kommen. Seine Eltern waren nicht da, sondern in Palm Springs, und er war schrecklich aufgeregt. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich verstehe überhaupt nichts – ausgenommen, daß die Frau hinter ihm her ist.«

»Wissen Sie das genau?«

»Sie ist dieser Typ. Sie gehört zu diesen falschen Blondinen mit dem großen verschmierten roten Mund und den giftigen Augen. Ich verstehe einfach nicht, wieso er auf sie hereingefallen ist.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Nach der Art und Weise, wie sie mit ihm redet – {33}so, als gehörte er ihr.« Während sie sprach, hatte sie Gesicht und Körper von mir abgewandt.

»Haben Sie schon mit Ihrem Vater über diese Frau gesprochen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er weiß, daß ich Schwierigkeiten mit Nick habe. Um was es dabei geht, kann ich ihm jedoch nicht sagen. Nick würde dabei eine schlechte Figur machen.«

»Und Sie wollen Nick heiraten?«

»Ich habe lange darauf gewartet.« Sie drehte sich um und sah mich an. Ich spürte den Druck ihrer kühlen Beharrlichkeit, wie Wasser gegen einen Damm. »Ich beabsichtigte, ihn zu heiraten, ob es meinem Vater gefällt oder nicht. Natürlich wäre es mir lieber, wenn er seine Einwilligung dazu gäbe.«

»Aber er hat etwas gegen Nick?«

Ihr Gesicht wurde ganz schmal. »Gegen jeden Mann, den ich heiraten möchte, würde er etwas haben. Meine Mutter kam 1945 ums Leben. Damals war sie jünger, als ich heute bin«, fügte sie leicht überrascht hinzu. »Meinetwegen hat Vater nicht wieder geheiratet. Meinetwegen wünschte ich, er hätte es getan.«

Sie sprach mit gemessener Betonung, so daß ich merkte, daß sie älter war, als ich geglaubt hatte.

»Wie alt sind Sie, Betty?«

»Fünfundzwanzig. Wenn Sie mich für unreif halten …«

»Wann haben Sie Nick zum letzten Mal gesehen?«

»Freitag abend, vor seinem Haus.«

»Und seitdem haben Sie hier auf ihn gewartet?«

»Zeitweise. Dad würde vor Sorgen krank, wenn ich {34}nachts nicht nach Hause käme. Übrigens hat Nick, seit ich hier auf ihn warte, nicht ein einziges Mal in seinem Bett geschlafen.«

»Und seit wann warten Sie auf ihn?«

»Seit Samstag nachmittag.« Mit bekümmertem Blick fügte sie hinzu: »Wenn er mit ihr schlafen will, soll er.«

In diesem Augenblick läutete das Telefon. Sie erhob sich sofort und nahm den Hörer ab. Nachdem sie einen Moment zugehört hatte, sagte sie ziemlich grimmig in den Hörer: »Hier ist der Auftragsdienst von Mr. Chalmers … Nein, ich weiß nicht, wo er ist … Das hat Mr. Chalmers mir nicht gesagt.«

Wieder hörte sie zu. Von meinem Platz aus konnte ich zwar die aufgeregte Stimme einer Frau hören, ihre Worte jedoch nicht verstehen. Betty wiederholte sie: »Mr. Chalmers soll nicht zum Montevista Inn kommen? Ich verstehe. Ihr Mann ist Ihnen dorthin gefolgt. Soll ich ihm das sagen? … Gut.«

Sie legte den Hörer auf, sehr vorsichtig, als wäre er mit Sprengstoff vollgestopft. Das Blut stieg ihr am Hals hoch und überflutete dann vor Erregung das ganze Gesicht.

»Das war Mrs. Trask.«

»Fast habe ich es mir gedacht. Demnach ist sie also im Montevista Inn?«

»Ja. Und ihr Mann ebenfalls.«

»Vielleicht sollte ich die beiden dort besuchen.«

Unvermittelt erhob sie sich. »Ich fahre nach Hause. Ich warte hier nicht länger. Es ist so demütigend.«

Gemeinsam fuhren wir mit dem Lift nach unten. In seiner automatischen Abgeschlossenheit sagte sie: {35}»Jetzt habe ich meine ganzen Geheimnisse verraten Wie bringen Sie die Menschen dazu?«

»Das tue ich nicht. Die Menschen sprechen gern über das, was sie schmerzt. Manchmal nimmt es dem Schmerz etwas von seiner Schärfe.«

»Ja, vielleicht tut es das wirklich.«

»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen, die schmerzt?«

»Heute scheint dazu der richtige Tag zu sein.«

»Wie kam Ihre Mutter ums Leben?«

»Durch ein Auto, unmittelbar vor unserem Haus in der Pacific Street.«

»Wer war der Fahrer?«

»Das weiß niemand, am wenigsten ich. Ich war damals noch ein kleines Kind.«

»Fahrerflucht?«

Sie nickte. Im Erdgeschoß glitten die Türen auseinander und beendeten unsere Vertrautheit. Gemeinsam gingen wir zum Parkplatz. Ich beobachtete, wie sie in einem roten Zweisitzer davonfuhr, und die Reifen qualmten, als sie in die Straße einbog.

4

Montevista lag am Meer, unmittelbar südlich von Pacific Point. Es war eine ländliche Wohngegend für Leute, die sich leisten können zu wohnen, wo sie wollen.

{36}Ich bog von der Hauptstraße ab und fuhr einen mit Eichen bestandenen Hügel zum Montevista Inn hoch. Vom Parkplatz aus schienen die tiefer gelegenen Dächer auf einer Woge von grünem Laub zu treiben. Bei dem jungen Mann im Büro erkundigte ich mich nach Mrs. Trask. Er verwies mich zum Cottage Seven, auf der anderen Seite des Teiches.

An einem Ende des großen altmodischen Teiches spie ein bronzener Delphin Wasser. Dahinter schlängelte sich ein Plattenweg zwischen grünen Eichen hindurch zu einem weiß verputzten Häuschen. Ein rotgefleckter Buntspecht flog von einem der Bäume auf und überquerte einen Teil des Himmels mit weitausgespannten Flügeln, ähnlich einem Fächer mit grellroten Tupfen.

Es war eine hübsche Gegend, abgesehen von den Stimmen, die aus dem Häuschen drangen. Die Stimme der Frau klang spöttisch, die des Mannes betrübt und monoton. Er sagte gerade: »Es ist gar nicht so lustig, Jean. Du kannst dein Leben noch so oft zerstören. Aber mein Leben, mein eigenes Leben zerstörst du auch. Einmal kommt dann der Punkt, wo alles unwiederbringlich dahin ist. Aus dem, was mit deinem Vater passiert ist, solltest du eine Lehre ziehen.«

»Laß meinen Vater aus dem Spiel.«