{5}1

Wenn man sehr lange nicht in der Stadt gelebt hat, in der man aufgewachsen ist, dann denkt man an sie und spricht von ihr, als wäre die Luft dort frischer als anderswo. Und wenn man einem Menschen aus dieser Stadt begegnet, fühlt man sich ihm verbunden, bis der Gesprächsstoff ausgeht und einem keine Namen mehr einfallen.

Ich sah die ersten Häuser früher als erwartet. Innerhalb von zehn Jahren war die Stadt der Landstraße entlang gewuchert und hatte immer mehr Ackerland mit den Betonvierecken von Siedlungsprojekten überzogen. Beiderseits der Straße konnte ich die Reihen kleiner Holzhäuser sehen, die einander so sehr glichen, als ob es in der Stadt nur einen einzigen Architekten gäbe, der von einer gewaltigen Vision besessen war.

»Jetzt dauert es nicht mehr lange«, meinte der Fahrer des Lastwagens. Er gähnte am Steuer, hielt aber die Augen fest auf die Straße gerichtet. »Jedenfalls brauche ich heute abend keine Tabletten zum Einschlafen.«

»Leben Sie hier?«

»Ich habe hier ein Zimmer. Das kann man vermutlich leben nennen.«

»Gefällt Ihnen die Stadt nicht?«

»Ach Gott, die Stadt ist schon recht, wenn man nichts Besseres kennt.« Er spuckte durchs offene Fenster in den Fahrtwind, und feine Tröpfchen sprühten über meinen Nacken. »Eigentlich bin ich in Chicago zu Hause. Dort wohnt auch meine Frau.«

»Das ist natürlich ein Unterschied.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, erwiderte ich, »ich schlag mich alleine durch.«

{6}»Sie suchen wohl Arbeit?«

»Stimmt.«

»Das sollte hier kein Problem sein. Im Moment brauchen wir übrigens selbst Leute bei uns im Lagerhaus. Die halbe Zeit muß ich meinen Laster selber beladen. Sind Sie kräftig?«

»Das schon. Ich bin kräftig genug. Aber an solche Arbeit dachte ich nicht.«

»Sie wird aber ganz gut bezahlt. Siebzig Cent die Stunde. Mehr kann man hier in der Gegend nicht bekommen.«

»Ich vielleicht doch. Ich habe Beziehungen.«

»Ja?« Er warf mir einen raschen Blick zu. Ich sah nicht gerade elegant aus. Ich hatte mich weder gewaschen noch rasiert und in meinen Kleidern geschlafen.

Er stufte mich als Angeber ein. Jedenfalls meinte er mit offenkundiger Ironie: »Tja, wenn das so ist –« und hörte auf, mit mir zu reden.

Die Landstraße war inzwischen zum östlichen Ende der Hauptstraße geworden und führte durch ein gemischtes Wohn- und Geschäftsviertel. Kleine Kaufläden, Kohlenhalden, Tankstellen, billige Kneipen, große alte heruntergekommene Häuser, ein paar Kirchen, deren blanke Fassaden einen betretenen Eindruck machten. Ich wußte nicht im voraus, welche Gebäude folgen würden, erkannte aber die meisten wieder, sobald ich sie sah. Eine Duftwolke aus den Gummifabriken an der Südseite, die den Frühlingsabend verdarb wie übermäßiger Körpergeruch, stieg mir in die Nase. In der Hoffnung, vielleicht einen alten Bekannten wiederzusehen, betrachtete ich die Menschen, die sich nach Arbeitsschluß auf dem Bürgersteig drängten.

Der Fahrer trat auf die Bremse, und der Lastwagen kam am Bordstein zum Stehen.

»Hier müssen Sie aussteigen, Kumpel. Ich kann Sie nicht bis zum Lagerhaus mitnehmen.« Er wies mit dem Kopf auf das Schild »Keine Anhalter«, das an seiner Windschutzscheibe klebte. »Aber falls Ihre Beziehungen Ihnen nichts {7}nützen sollten, kommen Sie nur zu uns. Liegt an der Masters Street.«

»Danke. Auch fürs Mitnehmen.«

Ich zog meinen Segeltuchkoffer unter dem Sitz hervor und kletterte aus der Fahrerkabine. Der große Laster fuhr an und ließ mich auf dem Gehsteig zurück.

Ich ging noch ein paar Häuserblocks in dieselbe Richtung wie der Lastwagen weiter, jedoch ohne jede Eile. Die Erregung, die ich beim Wiedersehen meiner alten Heimat empfunden hatte, war bereits abgeebbt. Von vorn und hinten kommend gingen die Menschen an mir vorbei, aber unter ihnen war niemand, den ich kannte. Ein Polizist warf mir einen prüfenden Blick zu. Mir kam zu Bewußtsein, daß ich wie ein Landstreicher aussehen mußte, und dadurch fühlte ich mich auch wie einer. Zum erstenmal an diesem Tag begann ich mich zu fragen, ob meine Beziehungen etwas wert waren. Vielleicht existierten sie gar nicht mehr.

Ich ging an einem neuen Apartmenthaus vorüber, dessen Fenster wie Löcher in einer erhellten Schachtel wirkten. In einem der Fenster sah ich kurz ein Paar, das eng umschlungen zu Radiomusik tanzte. Das genügte schon, um in mir wieder das Gefühl von Einsamkeit zu erwecken, das mich seit Jahren regelmäßig überfiel. Am liebsten hätte ich jedes Zimmer in jedem Apartment dieses Hauses, das ich nie vorher gesehen hatte, gekannt und jeden Menschen, der dort wohnte, mit seinem Vornamen angesprochen. Aber gleichzeitig wünschte ich mir die Macht, das Gebäude mit allen seinen Bewohnern in die Luft zu sprengen.

Ich hatte schon lange bei keiner Schlägerei mehr mitgemacht, und es juckte mich gewaltig.

Auf der anderen Straßenseite verkündete eine Neonreklame: »Schlitz-Bier vom Faß«, und ich ging hinüber. Das Fenster der Kneipe hatte nur einen niedrigen Vorhang, über den ich hinwegsehen konnte. Ein großer, viereckiger Raum voll von Holztischen und -stühlen, mit einer Theke im {8}Hintergrund. Im kalten, gelben Licht der von Fliegendreck gesprenkelten Deckenlampen konnte ich erkennen, daß die Tische mit eingeschnitzten Buchstaben und Brandflecken von Zigaretten übersät waren. Das Lokal war fast leer, und die wenigen Leute, die sich darin aufhielten, sahen nicht so aus, als würde ich mich ihretwegen fehl am Platz fühlen müssen.

Ich ging hinein und setzte mich auf einen Hocker an der Bar. Der Barmann schenkte mir keine Beachtung. Er war damit beschäftigt, für eine Gruppe von Gästen am andern Ende der Theke eine Schau abzuziehen – zwei Frauen, die eine wasserstoffblond, die andere hennarot, zwischen denen ein großer junger Mann in einem Wintermantel aus imitierter Lamawolle saß.

»Sie wollen also noch einen?« fragte er mit einem breiten, grausamen Lächeln. »Sie bilden sich wohl ein, ich habe nichts Besseres zu tun, als Ihnen noch einen Drink zu geben? Wissen Sie denn nicht, daß ich gegen Dienstschluß an nichts anderes mehr denken kann als an meine Füße? Meine Füße werden mich noch umbringen!«

»Ist das ein Versprechen?« fragte die Wasserstoffblonde mit schriller, wasserstoffblonder Stimme. Die beiden Frauen kicherten, und der Mann zog sie an sich.

»Wenn man euch so zuhört, möchte man glauben, daß man mir Gott weiß was zahlt, um hier zu stehen und Typen wie euch Whisky einzugießen – dabei bringen mich meine Füße langsam aber sicher um«, meinte der Barmann.

Er war untersetzt und grauhaarig. Wenn er sich bewegte, wackelte sein Bauch über seinem Gürtel wie ein riesiger Frauenbusen.

»Sie sollten versuchen abzunehmen, Henry«, sagte die Blonde. »Dann haben Ihre Füße nicht mehr so viel zu tragen.«

»Gut, gut«, erwiderte er. »Sie haben Whisky verlangt, und Sie bekommen ihn auch. Aber ich warne Sie, der Whisky in dieser Bar schmeckt, als käme er aus der Kanalisation.« Er {9}goß aus einer Flasche ohne Etikett drei Gläser voll und schob sie ihnen hin.

»Sie müssen es ja wissen, Henry«, meinte die Blonde.

»Für mich ist das Muttermilch«, sagte Henry.

Ich klopfte mit einem Fünfundzwanzig-Cent-Stück auf die Theke.

»Da verliert jemand die Geduld«, erklärte Henry. »Aber wenn jemand die Geduld verliert, werde ich nervös. Und wenn ich nervös bin, bin ich zu rein gar nichts mehr zu gebrauchen.«

»Eine Flasche Bier«, sagte ich.

»Sehen Sie sich meine Hand an«, entgegnete Henry. »Sie zittert wie Espenlaub.« Er streckte eine große, schmutzige Hand aus und lächelte auf sie hinunter. »Bier haben Sie gesagt?«

»Ja, wenn hier noch geöffnet ist.«

Er holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete den Verschluß und schlurfte zu mir herüber.

Er sah mich mit potentieller Antipathie an. »Was ist denn? Haben Sie keinen Sinn für Humor?«

»Schon, aber ich mußte ihn in einer anderen Stadt auf der Pfandleihe lassen. Machen Sie Ihre Witzchen lieber mit Ihren Freunden.«

»Sie sind hier fremd, wie? Vielleicht wissen Sie einfach nicht, wie wir hier miteinander reden.«

»Ich lerne schnell.«

»Sie können es gar nicht zu schnell lernen.«

»Bekommt man hier zum Bier auch Gläser? Ich möchte eins.«

»Vielleicht auch noch eine Olive oder eine Maraschino-Kirsche?«

»Halten Sie beim Eingießen Ihren Daumen ins Glas, das genügt.«

»Gießen Sie selber ein.«

Ich nahm Flasche und Glas von der Theke und setzte mich {10}an einen Tisch an der Wand. Ein alter Mann, vor dem ein Glas Bier stand, blickte vom Nebentisch zu mir herüber. Seine Bartstoppeln waren schneeweiß an Wangen und Oberlippe, eisengrau am schlaffen Hals, mit allen Schattierungen dazwischen. Als ich mir das Bier eingeschenkt hatte und das Glas an die Lippen führte, hob auch er sein Glas und blinzelte mir zu.

Ich lächelte vor dem Trinken zurück, bedauerte es aber schon einen Augenblick später, da er aufstand und zu mir an den Tisch kam. Ein unförmiger brauner Mantel schlotterte um seinen Körper, und er glich einem wandelnden Sack voll Lumpen. Er ließ sich auf den zweiten Stuhl an meinem Tisch fallen, stützte die mottenzerfressenen Arme auf die Platte und beugte sich mit süßlich-schmutzigem Lächeln, das seinen zahnlosen Mund enthüllte, zu mir herüber. Er roch nach Bier und Alter.

»Ich war nicht immer so«, erklärte er. »Aber schließlich fängt das Leben ja erst mit fünfundsechzig an.«

»Sind Sie denn fünfundsechzig?«

»Sechsundsechzig. Ich weiß, ich sehe älter aus, aber Schlaganfälle, wie ich sie hatte, setzen einem zu. Der erste hat mich zwar ganz schön erschreckt, aber zurückgeblieben ist nichts, ich wurde nur ’n bißchen langsamer. Aber der zweite war gesalzen; ich kann meine linke Hand immer noch nicht wieder bewegen, werd’s vielleicht nie mehr können.«

»Sie haben aber komische Gründe zu sagen, das Leben fange erst mit fünfundsechzig an.«

»Heiliger Strohsack, doch nicht deshalb! Das hängt bei mir mit ganz was andrem zusammen: mit fünfundsechzig bin ich doch berechtigt geworden.«

»Berechtigt? Meinen Sie stimmberechtigt?«

»Pensionsberechtigt, mein Sohn. Seit meinem fünfundsechzigsten Geburtstag bin ich mein eigener Herr. Ich brauch mich nicht mehr herumschubsen zu lassen, brauch niemandem mehr in den Arsch zu kriechen. Nichts und niemand kann mir meine Rente nehmen.«

{11}»Das ist ne große Sache«, sagte ich.

»Es ist was Wunderbares. Das Wunderbarste, das mir in meinem ganzen Leben passiert ist.«

Er trank sein Bier aus. Ich bestellte ihm noch eins.

»Können Sie sich vorstellen, was die vorher mit mir getrieben haben?« fragte der alte Mann. »Als ich nach meinem zweiten Schlaganfall nicht mehr laufen konnte? Die haben mich einfach ins Armenhaus geschafft, wo sich nur meine Stubennachbarn um mich gekümmert haben. Die haben behauptet, die Krankenhäuser seien alle voll. Ich bin immer noch an ein paar Stellen wund deswegen. Und dann wollten sie mir auch noch meine Rente nicht auszahlen, als ich fünfundsechzig geworden bin.«

»Wieso das denn?«

»Ja sehen Sie, mein Sohn, ich konnte mein Alter nicht beweisen. Man sollte meinen, man braucht mich nur anzusehen, um zu wissen, wie alt ich bin; aber das hat denen nicht genügt. Ich bin auf dem Land zur Welt gekommen, und mein Vater hat meine Geburt nie beim Standesamt angemeldet, so daß ich keine Geburtsurkunde bekommen konnte. Da wär ich schön in der Tinte gesessen, wenn mir Mr. Allister nicht geholfen hätte. Aber er hat dafür gesorgt, daß mein Fall nachgeprüft wurde, und verschiedene Leute mein Alter beschwört haben, und dann ist alles glatt gegangen. Jetzt hab ich mein eigenes Zimmer unter der Treppe beim Lagerhaus, und keiner kann mir was anhaben.«

Zwei Männer kamen herein und setzten sich in unserer Nähe an den Tisch. Der eine von ihnen war klein und stämmig; er trug eine lappige Stoffmütze und einen abgewetzten Lederlumber. Der andere war groß und hager; sein Gesicht glich einem nach unten gekehrten Dreieck. Er zog eine Mundharmonika aus der Tasche seines speckigen blauen Jacketts und blies ein paar traurige Töne. Sein Begleiter schlug dazu mit schmutzigen, aufgesprungenen Knöcheln den Takt auf dem Tisch und blickte starr gradeaus.

{12}»Wer ist dieser Allister?« fragte ich den alten Mann.

»Das wissen Sie nicht? Sie sind wohl noch nicht lange hier, wie? Mr. Allister ist der Bürgermeister dieser Stadt.«

»Er hat Ihnen mit Ihrer Altersrente geholfen? Scheint wirklich ganz in Ordnung zu sein.«

»Mr. Allister ist der beste Mensch in der ganzen Stadt.« »Hier hat sich manches geändert«, bemerkte ich. »Früher war J.D. Weather derjenige, zu dem man gegangen ist, wenn man Hilfe gebraucht hat. Jeden Morgen sind die Leute vor seinem Büro Schlange gestanden.«

»J.D. Weather ist ums Leben gekommen, bevor ich meinen zweiten Schlaganfall gehabt hab. Lassen Sie mich überlegen, das war im nächsten Juni vor zwei Jahren. Sie haben wohl früher in dieser Stadt gelebt, wie?«

»J.D. Weather ist ums Leben gekommen?«

»Ja, vor etwa zwei Jahren. Entschuldigen Sie mich.«

»Einen Augenblick. Wie ist er ums Leben gekommen?« Ich legte meine Hand auf seinen Arm, der sich wie ein in Lumpen gewickelter Knochen anfühlte.

»Er ist eben umgekommen«, erklärte der alte Mann ungeduldig. »Jemand hat ihn erschossen.«

»Um Gottes willen! Wer hat ihn erschossen?«

»Lassen Sie mich los, Junge. Ich hab Bier getrunken.«

Ich ließ seinen Arm los, und er schlurfte zur Toilette. Die Blondine, der Rotschopf und ihr Gemeinschaftseigentum in imitierter Lamawolle waren weitergezogen. Der kleine Dicke und der große Hagere tranken ihr Bier aus und gingen ebenfalls auf die Toilette. Jetzt war niemand mehr im Raum, abgesehen vom Barmann, der Gläser spülte und mich nicht beachtete. Der häßliche, leere Raum war nur einer in einer langen Reihe von einsamen Bars in Städten, die ich nicht kannte. Wenn J.D. Weather tot war, würde diese Stadt genauso einsam werden wie der Rest.

Aus der Toilette hörte man zorniges Geraune von Männerstimmen. Ich konnte nichts verstehen, aber die Stimmen {13}klangen drohend, was eine Minute später noch durch das Geräusch eines dumpfen Falls verstärkt wurde. Ich warf einen Blick auf den Barmann, doch der widmete sich intensiv seinen Gläsern.

Dann schluchzte jemand in der Toilette. Ich stand auf und ging durch die Tür. Dort saß der alte Mann, den Rücken an die Wand gelehnt, auf dem schmutzigen Fußboden. Aus einem Nasenloch war Blut auf seinen weißen Schnurrbart getropft. Der hagere Mundharmonikaspieler und sein Kumpan standen in der Mitte des kleinen Raums und beobachteten mich. Der Hut des alten Mannes lag vor ihren Füßen auf dem Boden.

Der alte Mann weinte. »Sie haben mir mein Geld weggenommen«, schluchzte er. »Sagen Sie ihnen, daß sie mir mein Geld zurückgeben sollen.«

»Wir haben sein Geld nicht«, behauptete der Kleine. »Er hat mich beschimpft, also hab ich ihm eine gelangt.«

»Diese gemeinen, feigen Hunde!« sagte der alte Mann. »Sie haben mir meine sechzehn Dollar gestohlen.«

»Halt’s Maul«, herrschte ihn der Hagere an und trat einen Schritt auf ihn zu.

»Lassen Sie ihn in Ruhe und geben Sie ihm sein Geld zurück«, sagte ich.

Der Hagere blieb, wo er war.

»Ach ja?« sagte der Kleine. Seine hellblauen Augen waren so hart und glitzernd wie Glasaugen. »Du und wer sonst noch will mich dazu zwingen?«

»Ich warte nicht gern lange«, sagte ich. »Geben Sie ihm sein Geld zurück.«

»Er hatte gar kein Geld«, entgegnete der Kleine. »Los, Swainie, machen wir, daß wir hier rauskommen.«

Ich stemmte mich mit dem Absatz gegen den Türrahmen und holte aus, während ich auf ihn losging. Er duckte sein Kinn rasch weg, aber meine Faust erwischte sein Nasenbein. Sofort stürzte er sich auf mich und packte mich um den Leib, {14}wobei er seinen runden Kopf unter meinen rechten Arm steckte. »Schnapp ihn von hinten, Swainie«, sagte er.

Doch ehe Swainie um mich herumkam, hatte ich mich gegen die verschlossene Tür gelehnt. Ich bearbeitete die Arme des kleinen Dicken, ohne jedoch seinen Griff lockern zu können. Als Swainie in Reichweite kam, versetzte ich ihm mit der Linken einen Rückhandschlag aufs Ohr. Der alte Mann rappelte sich hoch und hielt Swainie von hinten mit seinem gesunden Arm fest. Swainie knallte ihn an die Wand zurück, und der alte Mann sank wieder zu Boden.

Inzwischen hatte ich den Gürtel des kleinen Dicken zu fassen gekriegt. Er hatte Form und Gewicht eines vollen Kohlensacks, aber ich bekam ihn hoch, bevor Swainie wieder auf mich losging. Als seine Beine höher waren als sein Kopf, ließ er mich los. Dann warf ich ihn nach Swainie.

Einer seiner schweren Schuhe traf Swainie so ins Gesicht, daß er rückwärts hinfiel. Der Dicke landete platt auf dem Fußboden, überrollte sich einmal bis zur gegenüberliegenden Wand und wirbelte wie ein Terrier auf allen vieren herum. Ehe er die Hände heben konnte, versetzte ich ihm einen Uppercut, der einen Meter weit Schwung geholt hatte. Sein Kopf schlug hinten gegen die Wand, und er sank zu Boden. Jetzt sahen seine Augen mehr denn je aus wie Glasaugen. Ich fing an, schwer zu atmen.

»Sie sind ziemlich gut«, sagte der alte Mann. Ich sah zu ihm hinüber und bemerkte, daß er nicht mehr schluchzte.

»Sie sind auch nicht schlecht. Ich hab gesehen, wie Sie den Großen angreifen wollten. Welcher von beiden hat Ihr Geld?«

»Der Kleine. Ich glaub, er hat’s in die Brusttasche seiner Jacke gesteckt.«

Ich fand das Geld und gab es ihm. »Gibt es in der Bar ein Telefon?«

»Ja.«

»Dann rufen Sie die Polizei. Ich werde so lange hierbleiben und die Kerle festhalten.«

{15}Er sah mich überrascht an und kaute auf seinem blutigen Schnurrbart herum. »Die Polizei anrufen?«

»Die haben Sie doch bestohlen, oder etwa nicht? Also gehören sie hinter Gitter.«

»Das schon«, meinte der alte Mann. »Aber die Polizei macht doch gemeinsame Sache mit diesen Kerlen.«

»Kennen Sie sie denn?«

»Nur vom Sehen. Ich glaub, die Polizei hat sie vor zwei Jahren als Streikbrecher in die Stadt gebracht. Nachher sind sie dann hiergeblieben.«

»Was ist denn das für eine Sorte Polizei in dieser Stadt?«

»Diese Sorte.«

»Hören Sie«, ich fand ein Fünfcentstück in meiner Tasche und gab es ihm. »Rufen Sie sich ein Taxi und machen Sie, daß Sie hier rauskommen.« Der alte Mann ging hinaus.

Der kleine Dicke kam wieder zu sich. Sein Kopf bewegte sich, seine Augen verloren ihre Starre. Er sah mich und setzte sich auf.

»Vorwärts«, sagte ich. »Schütt deinem Freund Wasser ins Gesicht. Ich konnte mich leider nicht um ihn kümmern.«

»Das wirst du bereuen, mein Junge. Du weißt gar nicht, in was du dich da eingelassen hast.«

»Halt’s Maul, oder du fängst noch eine. Aber diesmal mit beiden Händen.«

»Harter Bursche, was?«

Meine Linke spaltete ihm die Oberlippe, und meine Rechte schloß ihm das linke Auge. »Verstehst du mich jetzt?«

Er lehnte sich an die Mauer und legte die schmutzigen Hände über sein entstelltes Gesicht. Ich ging in die Bar zurück, wo der alte Mann auf einem Hocker saß.

»Die Art von Kundschaft, die Sie hier haben, gefällt mir«, sagte ich zum Barmann.

»Schon zurück? Ich kann mich gar nicht erinnern, daß wir Ihnen eine goldgeränderte Einladungskarte geschickt haben.«

»Wenn der Komiker in der Toilette in den nächsten fünf {16}Minuten nicht zu sich kommt, sollten Sie einen Krankenwagen kommen lassen.«

»Haben Sie sich etwa geprügelt?« Er sah mich mit geheuchelter Mißbilligung an. »So was dulden wir hier nicht.«

»Ich habe Sie aber nicht Zetermordio schreien hören, als sie den alten Mann zusammengeschlagen haben. Wie hoch sind denn Ihre Prozente bei diesem Spielchen?«

»Noch eine freche Bemerkung von Ihnen!« schrie der Barmann.

Vor der Kneipe ertönte eine Autohupe, und der alte Mann rutschte von seinem Hocker.

»Halt die Luft an«, sagte ich zum Barkeeper.

Der alte Mann stand schon an der Tür, als ich ihn wieder zu mir zurückrief. »Wohnen Sie weit von hier?«

»Nur ein paar Straßen.«

»Dann sollten fünfzig Cent reichen.« Ich gab ihm einen halben Dollar.

»Sie sind ein guter Kerl, mein Sohn.«

»Ich prügle mich einfach gern, das ist alles. Wie heißen Sie?«

»McGinis.«

»Wenn Ihnen diese Typen noch mal Ärger machen, lassen Sie’s mich wissen. Ich wohne wahrscheinlich im Weather House. Mein Name ist John Weather. Aber halten Sie sich von dieser Kneipe hier fern.«

»Meinen Sie das Palace Hotel? Das ist das ehemalige Weather House.«

»Ja, man hat den Namen wohl inzwischen geändert.«

Wieder hupte das Taxi, und der alte Mann wandte sich zur Tür. »Einen Augenblick«, sagte er plötzlich. »Wie war doch Ihr Name?«

»John Weather.«

»Sind Sie mit dem J.D. Weather verwandt, von dem ich Ihnen erzählt habe?«

»Richtig.«

{17}»Wirklich wahr?« sagte der alte Mann, stieg ins Taxi und fuhr weg.

2

Am Weather House war mehr verändert worden als nur der Name. Das Palace Hotel betrat man durch Drehtüren, nicht mehr durch die schweren Eichentüren mit Messingknäufen, an die ich mich erinnerte. Die schwach erleuchtete alte Hotelhalle mit ihren tabakfarbenen, nach Tabak riechenden Ledersesseln war ausgeräumt und renoviert worden. Es war jetzt ein heller, weiblicher Raum mit indirekter Beleuchtung und modernen bunten Sofas; hier traf man keine alten Männer mehr an. Das Billardzimmer im Erdgeschoß, in dem J.D. immer gespielt hatte, war in eine Cocktail-Bar verwandelt worden, deren Wände dunkelblaue Frauenbilder schmückten. Ich sah über die nackten Schultern einiger Flittchen an der Tür in die Bar hinein und stellte fest, daß sie gute Geschäfte machte, auch mit Minderjährigen. Ich fragte mich, wer diesen Gewinn einstrich.

Dann ging ich quer durch die Halle zum Empfang. Dort stand ein kleines, hölzernes Schildchen mit der Aufschrift: Mr. Dundee. Mr. Dundee besah sich meinen fleckigen Filzhut, mein schwarz-stoppliges Kinn, mein schmutziges Hemd, meinen Segeltuch-Koffer und meine alten Militärstiefel. Ich besah mir Mr. Dundees perückenbraunes Haar, das genau in der Mitte seines eiförmigen Schädels sorgfältig gescheitelt war. Ich betrachtete sein fettes, sauber geschrubbtes kleines Gesicht mit den trüben kleinen Augen, seinen blütenweißen Stehkragen und seine blaßblaue Krawatte, die von einer vergoldeten Nadel mit seinen Initialen am Platz gehalten wurde.

Ich begann damit, mir jeden einzelnen der acht manikürten Finger anzusehen, die er geziert auf dem Tischrand abstützte.

{18}»Was können wir für Sie tun?« sagte er, wobei er das »Sir« taktvoll wegließ.

»Ein Einzelzimmer ohne Bad. Ich bade nämlich nie?«

Er zog seine dünnen Brauen hoch und blinzelte. »Das macht zweieinhalb Dollar.«

»Für gewöhnlich bezahle ich, wenn ich ein Hotel verlasse. Wer ist hier der Boß?«

»Der Besitzer ist Mr. Sanford«, erwiderte Mr. Dundee. »Zwei Dollar fünfzig, bitte.«

Ich zog ein Bündel Scheine aus der Tasche, das nach mehr aussah, als es wert war, und gab ihm drei Eindollarscheine. »Behalten Sie den Rest.«

»Die höheren Angestellten dieses Hauses nehmen keine Trinkgelder.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Sie erinnern mich an einen Butler, den ich mal hatte. Er starb vor Kummer an seinem fünfzigsten Geburtstag.«

Mr. Dundee legte den Schlüssel und das Wechselgeld auf den Tisch und sagte distanziert: »Zimmer 617

Bevor der Hotelpage die Tür von Nr. 617 schloß, sah er mich mit einem Fünfzig-Cent-Lächeln von der Seite an. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir? Es gibt hier in der Stadt allerhand nette Sachen.«

»Alkohol oder Frauen?«

»Beides. Was Sie wollen.«

»Besorg mir ein Stück Privatsphäre. Aber nicht selber.«

»Gewiß, Sir, entschuldigen Sie, Sir.« Die Tür schloß sich hinter ihm.

Ich zog mich bis zum Gürtel aus, wusch und rasierte mich und zog ein sauberes Hemd an. Dann zählte ich mein Geld. Es blieben mir noch dreiundsechzig Dollar und etwas Kleingeld von dem Geld, das ich bei der Ausmusterung erhalten hatte. Ich wog achtzig Kilo ohne Kleider und war fast so schnell wie ein Weltergewichtler. Es war zwanzig Minuten nach sieben.

{19}Ich ging über die Feuertreppe zum Rundfunk-Studio im dritten Stock hinunter. Es befand sich noch in derselben Suite wie vor zehn Jahren, aber die Trennwand zwischen Vorraum und Senderaum war entfernt und durch ein Glasfenster ersetzt worden. Hinter diesem Fenster sprach ein vertrockneter kleiner Mann im Frack ins Mikrofon. Ich brauchte eine ganze Weile, ehe mir klarwurde, daß die mächtige, tiefe Stimme, die aus dem Lautsprecher im Vorraum dröhnte, zu dem kleinen Mann vor dem Mikrofon gehörte.

»Furchtsame«, sagte die tiefe Stimme, und die Lippen des kleinen Mannes folgten den Silben wie die der Puppe eines Bauchredners. »Furchtsame, du stehst jetzt an einem Scheideweg in deinem Schicksal, und ich glaube, du besitzt die geistige Kraft, diese beunruhigende Tatsache zu erkennen. Aber ängstige dich nicht vor den Schlingen und Fußangeln eines lauernden Mißgeschicks; denn ich kann dir durch die Kraft meiner Erkenntnis und durch die Erkenntnis meiner Kraft helfen …«

Ein großer junger Mann im grauen Anzug saß an einem Tisch in der Ecke. Ich fragte ihn: »Gibt es hier eine Sendeleitung, oder macht der alte Herr dort drin alles allein?«

»Zufällig bin ich der Programmdirektor.« Er stand auf und schüttelte die Falten aus seinen sorgfältig gebügelten Hosen. Er sah aus, als sei er gerade einem Modejournal für den gepflegten Herrn entsprungen.

»Dann können Sie mir vielleicht sagen, wer diesen Sender leitet«, sagte ich.

»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß ich der Programmdirektor bin.« Seine Stimme klang so kultiviert, wie eine unkultivierte Stimme überhaupt klingen kann. Ungeduld und verletzte Eitelkeit ließen bereits ein leises Quengeln in sie hineinfließen.

»Aber jemand muß Ihnen doch Ihr – hoffentlich erhebliches – Gehalt zahlen?«

»Wer sind Sie denn überhaupt? Ihr Ton gefällt mir nicht.«

{20}»Entschuldigen Sie, aber ich bin von der Musikhochschule geflogen; ich wollte Sie nur auf meine eigene, ungeschliffene Art um eine kleine Information bitten.«

»Der Sender gehört natürlich Mrs. Weather.«

Die resonante Stimme, die aus dem Lautsprecher dröhnte, fuhr fort: »Hier ist der Rat, den ich dir zu geben habe, Furchtsame: zieh dein Kind selbst auf und führ es auf den Pfad der Rechtschaffenheit. Bemühe dich mit all deiner Kraft, der edlen Aufgabe der Mutterschaft würdig zu bleiben. Wenn du weiteren Rat und Trost vom siebenten Sohn eines siebenten Sohnes wünschst, so besuche mich diese Woche in meinem Büro. Dort triffst du mich von zehn Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags.«

Ich sagte laut: »Mrs. Weather ist vor fünf Jahren gestorben.«

»Bitte schreien Sie nicht so«, erwiderte der Programmdirektor. »Unsere Schalldichtung ist nicht sehr gut. Ich habe Mrs. Weather erst heut nachmittag noch gesehen, und da erfreute sie sich bester Gesundheit.«

»Hat J.D. Weather denn wieder geheiratet?«

»Stimmt, man sagte mir ja, Mr. Weather sei schon einmal verheiratet gewesen. Ein paar Monate vor seinem Tod hat er zum zweitenmal geheiratet.«

»Gehört ihr auch das Hotel?«

»Nein. Das Hotel wurde an Mr. Sanford verkauft.«

»Den Gummi-Sanford?«

»Richtig.«

»Wohnt er immer noch in dem großen Haus auf der Nordseite?«

»Genau. Aber jetzt müssen Sie mich wirklich entschuldigen.« Er trottete schweigend über den Teppich zur Tür des Senderaums.

Der Lautsprecher verkündete: »… ein echtes Kräutermittel, hergestellt nach dem exotischen Geheimrezept eines alten orientalischen Weisen. Diese unschätzbare Medizin heilt {21}oder mildert alle Krankheiten des Herzens, des Blutes, des Magens, der Leber und der Nieren. Sie unterstützt die Behandlung von Männer- und Frauenleiden und wirkt als unfehlbares Kräftigungsmittel bei allen Fällen von schwindender Energie und Depression. Sie brauchen nur einen Dollar plus eine nominelle Gebühr von zehn Cent für Verpackung an diese Rundfunkstation zu senden und erhalten dafür eine große Probierflasche Novena.«

Der kleine Mann im Frack trat vom Mikrofon zurück und ging zur Tür; seine Stelle nahm jetzt der Programmdirektor ein. »Sie hörten Professor Salamander, den siebenten Sohn eines siebenten Sohnes, den Verkünder uralter Weisheiten.« Während der Ansage spielte ein Grammophon einige Takte der Barcarole. Dann kündigte der Programmdirektor eine halbe Stunde »Jazztime« an und begann, mit seiner Stimme »Atmosphäre« zu erzeugen. Mir gefiel die Atmosphäre nicht, die seine Stimme erzeugte, und ich ging. Professor Salamander fuhr mit mir im Fahrstuhl nach unten. Seine Augen waren gelb. Er roch stark nach Whisky. Er murmelte vor sich hin.

Ich war ein- oder zweimal mit meinem Vater bei Sanford gewesen, aber ich konnte mich nur noch schwach an die Lage seines Hauses erinnern, weshalb ich mir ein Taxi nahm.

»Soll ich Sie am Dienstboteneingang absetzen?« fragte der Fahrer, als wir ankamen.

»Nein, an der Vordertür. Ich habe nichts zu verkaufen. Und warten Sie auf mich. Es wird nicht lange dauern.«

Das von Mr. Sanfords Vater erbaute Haus war ein weitläufiges weißes Backsteingebäude mit achtzehn oder zwanzig Zimmern. Je ein pompöser, aber völlig nutzloser Turm zu beiden Seiten der Fassade verliehen ihm einen feudalen Zug. Zu dem riesigen Grundstück gehörten ein tieferliegender Garten, ein Tennisplatz und ein Swimming-pool, was Alonzo Sanford und seine Freunde von der Straße fernhielt. Nur bei sehr starkem Südwind drangen die Gerüche aus der Gummifabrik bis in Mr. Sanfords Vorgarten.

{22}Ein schwarzes Dienstmädchen mit weißem Kragen und Häubchen öffnete mir die Tür.

»Ist Mr. Sanford zu Hause?«

»Ich bin nicht sicher. Wen darf ich melden, bitte?«

»John Weather. J.D. Weathers Sohn.«

Sie ließ mich herein; ich setzte mich auf einen Stuhl in der Halle, den Hut auf den Knien. Einen Augenblick später kam sie zurück und nahm mir den Hut ab. »Mr. Sanford wird Sie in der Bibliothek empfangen.«

Als ich ins Zimmer trat, legte Sanford ein offenes Buch auf die breite Lehne seines Sessels, wobei er seine Brille als Lesezeichen benutzte. Er sah keine zehn Jahre älter aus, aber als er aufstand, fiel mir auf, daß er sich dabei nach vorn über seine Knie lehnte und sich mit den Armen hochstemmte. Er trug einen seidenen Hausrock mit rotem Samtkragen. Mit ausgestreckter Hand kam er auf mich zu.

Sein Gesicht war eingefallen und vertrocknet, so daß sich seine Haut beim Lächeln wie Papier faltete. »Johnny Weather – so eine Überraschung! Das muß wirklich begossen werden. Sie sehen groß genug aus, um zu trinken.« Er gluckste väterlich.

»Vielleicht doch lieber eine kleine Limonade; ich bin sehr groß für mein Alter.«

Er lächelte wieder und zeigte dabei seine peinlich genau gerichteten Zähne. »Lassen Sie mich nachdenken: Wie alt sind Sie jetzt? Ich sollte es natürlich wissen, aber in meinem Alter zählt man die Jahre nicht mehr so genau. Zwanzig oder einundzwanzig?«

»Zweiundzwanzig«, sagte ich. »Alt genug, um erben zu können.«

Er erwiderte: »Entschuldigen Sie einen Augenblick«, und läutete wegen der Drinks nach dem Mädchen.

»Wollen Sie sich nicht setzen? So ist es schon besser. Glauben Sie mir, ich kann Ihre Bitterkeit verstehen, Johnny. Von Ihrem Standpunkt aus ist es wirklich Pech, daß Ihr Vater {23}wenige Monate vor seinem unglücklichen – Hinscheiden wieder geheiratet hat.«

»Wen hat er geheiratet? Wer hat ihn getötet?«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihre Stiefmutter noch nicht kennengelernt haben?«

»Ich wußte bis gestern nicht einmal von Ihrer Existenz. Sie ist mir völlig fremd. In dieser Stadt scheint sich alles gründlich geändert zu haben.«

»Ich bin überzeugt, Sie werden sie eine reizende junge Frau finden. Ich habe mehrfach mit ihr zu tun gehabt, geschäftlich und privat. Sie war immer sehr charmant.«

»Wie schön für Sie beide. Wie ich hörte, hat sie Ihnen das Hotel verkauft.«

»So ist es. Mrs. Weather und ihr Geschäftsführer, Mr. Kerch, entschlossen sich, ihren Anteil an Grundbesitz etwas zu verkleinern. Und ich hatte bisher keinen Anlaß, meine Investition zu bereuen.«

»Es klingt für mich ziemlich eigenartig, daß Sie diese Frau Mrs. Weather nennen. Meine Mutter starb vor fünf Jahren.«

»Gewiß, gewiß«, sagte Mr. Sanford, »sehr tragisch.«

Das Mädchen brachte uns Whisky-Sodas, und Mr. Sanford zündete sich eine Zigarre an. »Ihr Vater hat versucht, Sie zu finden, wissen Sie«, fuhr er fort. »Wo in aller Welt haben Sie denn gesteckt, Johnny?«

»Mal da, mal dort; damals stand ich mit meinem Vater nicht gut und hatte meiner Mutter versprochen, nicht zu ihm zurückzukehren. Ein paar Jahre lang bin ich im Land herumgezogen, dann wurde ich zum Militär eingezogen. Während der letzten ein, zwei Jahre hat sich meine Einstellung zu meinem Vater geändert.«

»Selbstverständlich. Es fällt einem schwer, einem Toten etwas übelzunehmen.«

»Damit hat das gar nichts zu tun. Ich habe erst heute erfahren, daß er tot ist.«

»Wollen Sie damit sagen, daß sie nichts gewußt haben?«

{24}»Wann wurde er getötet?«

»Vor fast zwei Jahren. Ich glaube, im April 1944

»Da war ich in England. Niemand hat sich die Mühe genommen, mich zu benachrichtigen.«

»Das ist wirklich eine Schande.«

»Wer hat ihn umgebracht?«

»Das Verbrechen wurde nie aufgeklärt, obwohl wir alles getan haben, was wir konnten. Ihr Vater stand mir einmal sehr nahe. Sein Tod war für mich ein schwerer Schlag.«

»Er hat Ihnen aber das Weather House eingebracht. Es gibt jetzt wohl nicht mehr viel in der Stadt, was Ihnen nicht gehört.«

Er schlürfte seinen Whisky-Soda und sah mich über den Rand seines Glases hinweg kalt an. »Wie ich schon sagte, kann ich verstehen, daß Sie ein bißchen verbittert sind, Johnny. Schließlich hat Ihnen Ihr Vater keinen Cent hinterlassen. Trotzdem halte ich es für unklug von Ihnen, Ihre potentiellen Freunde zu brüskieren. Ich war bereit, mich Ihnen gegenüber durchaus wohlwollend zu zeigen.«

»Von Ihrem Wohlwollen kann ich mir nichts kaufen. Meinem Vater hat es nicht viel genützt. Und Ihre kleine Drohung erschreckt mich nicht besonders. Sie können mich mit Ihrem Geld nicht einschüchtern, ehe ich nicht zu Ihnen komme, um Sie um etwas zu bitten.«

Er beugte sich vor, und seine blassen alten Augen starrten mich mit einem ausdruckslosen Blick an, der versuchte, aufrichtig zu wirken. »Sie scheinen sich ein paar merkwürdige Ideen in den Kopf gesetzt zu haben. Ich hatte bisher angenommen, Sie hätten mich als alten Freund Ihres Vaters aufgesucht.« Er hielt inne und musterte meine ungeputzten Militärstiefel und meinen ungebügelten Anzug. »Vielleicht auch mit dem Hintergedanken, mich um Hilfe zu bitten.«

»Ich habe seit Jahren niemanden mehr um etwas gebeten.«

»Schon gut. Aber Ihre Haltung scheint mir ganz unnötig aggressiv –«

{25}»Diese Stadt ist ein rauhes Pflaster, Mr. Sanford, das wissen Sie – es ist ja Ihre Stadt. Vor zwei Jahren wurde mein Vater in ihr umgebracht. Was wurde aus der Untersuchung seines Todes?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß das Verbrechen nie aufgeklärt wurde. Er wurde auf der Straße niedergeschossen; sein Mörder konnte nicht gefaßt werden.«

»Wird der Fall noch bearbeitet, oder hat man ihn abgeschlossen?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wie kommen Sie überhaupt zu der Annahme, daß ich mit den Nachforschungen auch nur das Geringste zu tun haben könnte –«

»Die Untersuchungen zu einem wichtigen Fall würden wohl kaum ohne Ihr stillschweigendes Einverständnis eingestellt.«

Wir hatten unsere Whisky-Sodas ausgetrunken. Der Knall, mit dem er sein Glas auf den Tisch stellte, hatte etwas Endgültiges an sich. »Sie haben eine merkwürdige Vorstellung von der Rolle, die ein reicher Mann in einer modernen, demokratischen Stadtverwaltung spielt. Wir unterstehen alle dem Gesetz, Mr. Weather. Wir müssen uns alle bemühen, mit unseren Nachbarn auszukommen.«

»Darum hat sich J.D. auch bemüht, aber einer seiner Nachbarn hat ihn mitten auf der Straße niedergeschossen. Wer hat den Fall bearbeitet?«

»Inspektor Hanson, glaube ich. Ralph Hanson.« Er stand auf, nahm sein Buch zur Hand und setzte die Brille auf. Er glich jetzt mehr denn je einem vornehmen alten Gelehrten, der den Freuden der Welt entsagt hat.

»Die Theorie der feinen Leute sieht in Ihren Händen irgendwie komisch aus.«

Wieder lächelte er sein bedächtiges, zerknittertes Lächeln. »Glauben Sie? Veblen analysiert einige der Illusionen meiner Klasse sehr kompetent, finde ich. Er hilft mir dabei, ohne Illusionen auszukommen.«

{26}»Eine werden Sie nie verlieren: die Illusion, die jeder reich Geborene aus der Wiege mitnimmt und an der er sein ganzes Leben hindurch festhält – nämlich die seiner eigenen Überlegenheit.«

»Sie waren doch als Junge auch ziemlich reich, nicht?« sagte er. »Und mir ist nicht aufgefallen, daß Sie unter Minderwertigkeitskomplexen leiden.«

Er läutete, und das Mädchen kam herein, um mich hinauszubegleiten.

»Noch etwas –« sagte ich. »Diese Mrs. Weather hat das gesamte Vermögen meines Vaters geerbt. Wer ist ihr Nacherbe?«

»Sie, nehme ich an. Aber Mrs. Weather ist jung, und, soweit ich gehört habe, bei bester Gesundheit.«

Diesmal streckte er seine Hand nicht mehr aus. Ich ließ ihn stehen, den Finger in seinem Veblen, demonstrativ geistesabwesend.

3

Inspektor Ralph Hanson wohnte in einem der Massenprodukte am Ostausgang der Stadt, die ich bei meiner Ankunft im Vorbeifahren gesehen hatte. Die Taschenlampe meines Fahrers fand die Hausnummer, die ich mir aus dem Telefonbuch notiert hatte. Wieder bat ich ihn, auf mich zu warten. Das Haus war nicht groß, aber gut in Schuß gehalten, umgeben von einer sauber geschnittenen Hecke und einer Rasenfläche, die so glatt war wie das Grün auf einem Golfplatz. Ich stieg die Verandastufen hinauf und klopfte mit dem eisernen Türklopfer an.

Eine Frau mittleren Alters, deren Figur sich vom Kinderkriegen nie wieder erholt hatte, machte die Tür auf und lächelte mich unsicher an. Ich bemerkte ein Dreirad neben dem Eingang und einen Puppenwagen im Korridor. Ich fragte sie, ob Inspektor Hanson zu Hause sei.

{27}»Ralph ist im Keller in seiner Werkstatt. Gehen Sie doch einfach zu ihm hinunter.«

»Ich bin geschäftlich hier«, sagte ich. »Vielleicht sollten Sie ihn besser heraufrufen.«

Das Hobelgeräusch, das ich gehört hatte, brach ab, als sie die Treppe hinunterrief: »Ralph, hier ist ein junger Mann, der dich sprechen möchte!«

Hanson rollte beim Heraufkommen seine Hemdsärmel nach vorn. An seinen behaarten Handrücken hafteten noch kleine Sägespäne. Er war ein großer Mann mit langem, mürrischem Gesicht und wachen grünen Augen. Auf der Türschwelle blieb er einen Augenblick stehen und wischte sich die Hände ab.

»Ach, Ralph«, sagte seine Frau in weinerlich-nachsichtigem Tonfall. »Ich habe dich doch gebeten, darauf zu achten, daß du keinen Schmutz mit heraufbringst.«

»Das ist kein Schmutz«, wies er sie scharf zurecht. »Das ist gutes, sauberes Holz.«

»Es macht mir aber genauso viel Arbeit wie Schmutz«, antwortete sie und verschwand hinten im Haus.

Nachdem er mich von oben bis unten gemustert hatte, stufte er mich in Gedanken in eine Klasse ein, die sich aus seinem schroffen »Was kann ich für Sie tun?« leicht erraten ließ.

Ich begann: »Vor zwei Jahren haben Sie den Mord an J.D. Weather untersucht. Stimmt das?«

»Das stimmt. Ich habe die Ermittlungen geleitet.«

»Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat?«

»Nein. Ich bin in einer Sackgasse gelandet. Wir haben den Mörder nie gefaßt.«

»Heißt das, daß Sie ihn nicht faßten oder nicht fassen durften?«

Er sah mich feindselig an. Seine dünnen Lippen entblößten durch eine unwillkürliche Grimasse seine Zähne, die gelb und lang waren wie Hundezähne. »Diese Bemerkung gefällt mir nicht. Wieso sind Sie an diesem Fall überhaupt interessiert?«

{28}»Ich bin sein Sohn.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Kommen Sie herein und setzen Sie sich.«

Er winkte mich voran ins Wohnzimmer und knipste die Deckenlampe an. Der Raum war klein und überladen mit zu hart gepolsterten Möbeln; an zwei Seiten befanden sich hohe Flügelfenster, an der dritten ein Kamin, in dem ein Gasofen stand. Er setzte mich auf ein Plüschsofa und nahm mir gegenüber in einem dazu passenden Sessel Platz. Das Zimmer war etwa so anheimelnd wie das Schaufenster eines Möbelgeschäftes, doch mein Gastgeber bemühte sich, freundlicher auszusehen. Sein langes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das man genausogut für eine schmerzverzerrte Grimasse hätte halten können.

»Sie sind also John, wie? Ich kann mich noch erinnern, wie Sie als kleiner Junge hinter J.D. herliefen. Damals machte ich noch mit dem Motorrad Streifendienst.«

»Sie sind ganz schön vorwärtsgekommen«, meinte ich.

Er sah sich mit grimmiger Selbstzufriedenheit im Zimmer um. »Ja, voriges Jahr bin ich zum Inspektor befördert worden.«

»Wer hat Sie befördert?«

»Der Polizeiausschuß, wer sonst?«

»Wohl kaum für Ihre Leistung im Mordfall meines Vaters, nehme ich an.«

Er beugte sich vor und erwiderte sehr rasch, mit fast krankhafter Erregung: »Sie erreichen nichts damit, wenn Sie mir so kommen. Ich hatte J.D. gern. Ich hab hart an seinem Fall gearbeitet.«

»Alle hatten J.D. gern, möglicherweise mit Ausnahme meiner Mutter. Und demjenigen, der ihn mitten auf der Straße niedergeschossen hat. Und vielleicht noch der paar Leute, die den Mörder gedeckt haben.«

»Ich weiß nicht, was für Märchen man Ihnen erzählt hat«, meinte Ralph Hanson.

{29}»Gar nichts hat man mir erzählt. Das ist ja grade das Problem, verdammt. Ich weiß nicht mal, was ihm passiert ist.«

»Das haben Sie mir doch grade gesagt.«

»Ich hab nur wiederholt, was ich von einem alten Mann in einer Kneipe erfahren habe. Wie wurde er ermordet?«

»Wollen Sie Einzelheiten?«

»Ja, so viele Sie mir geben können.«

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Finger zu einem Bogen aneinander. Seine Geschichte spulte er so flüssig und glatt ab wie eine sorgfältig eingeübte Zeugenaussage.

»Er wurde gegen sechs Uhr fünfunddreißig am Abend des 3. April 1944 erschossen, als er auf dem Weg vom Hotel nach Hause war. Der Mord ereignete sich eine Straße nördlich der Hauptstraße, ganz in der Nähe von Ecke Cleery und Mack Street. Laut den Zeugen fielen zwei Schüsse, beinahe gleichzeitig. Beide Schüsse trafen ihn am Kopf und drangen in sein Gehirn ein. Er war sofort tot.«

»Hat niemand den Mörder gesehen?«

»Das ist einer der Gründe, warum ich nicht weitergekommen bin. Niemand. Es war ein Hinterhalt, von langer Hand geplant; auch die Flucht war gut vorbereitet. Können Sie sich an das alte Mack-Gebäude erinnern?«

»Nein. Beschreiben Sie es mir.«

»Es steht an der Ecke von Cleery und Mack und hat von beiden Straßen her Eingänge. J.D. ging jeden Tag fast um genau die gleiche Zeit auf seinem Heimweg dort vorbei. Der Mann, der ihn erschoß, muß das gewußt haben, denn er lauerte ihm von einem Fenster im zweiten Stock des Mack-Gebäudes aus auf. Das Fenster liegt etwa viereinhalb Meter über der Straße. Als J.D. vorüberkam, beugte sich der Mörder hinaus und erschoß ihn von oben. So wenigstens habe ich das Verbrechen rekonstruiert. Die Flugbahn der Kugeln bestätigt diese Theorie.«

»Was war hinter diesem Fenster?«

{30}