Der Untergrundmann

Für Matthew J. Bruccoli

Das Rauschen der Blätter weckte mich noch vor dem Morgengrauen. Ein heißer Wind blies in mein Schlafzimmer. Ich stand auf, um das Fenster zu schließen, dann lag ich im Bett und lauschte dem Wind.

Nach einer Weile legte er sich, und ich stand auf, um das Fenster wieder zu öffnen. Kühle Luft, die nach frischem Meer und leicht abgestandenem West Los Angeles roch, strömte in die Wohnung. Ich ging zurück ins Bett und schlief, bis ich am Morgen von meinen Buschhähern geweckt wurde.

Es waren immer fünf oder sechs da, die ich mittlerweile schon als »meine Buschhäher« bezeichnete. Abwechselnd setzen sie zum Sturzflug auf mein Fenstersims an, um sich dann auf den Magnolienbaum nebenan zurückzuziehen.

Ich ging in die Küche, öffnete eine Dose Erdnüsse und warf eine Handvoll davon aus dem Fenster. Die Häher schossen herab in den Innenhof des Apartmenthauses. Ich zog mir schnell etwas an und lief mit der angebrochenen Dose die Außentreppe hinunter.

Es war ein strahlender Septembermorgen. An den Rändern aber hatte der Himmel eine gelbliche Tönung, wie billiges Papier, das in der Sonne gelegen hat. Im Moment war es völlig windstill, aber ich konnte die landeinwärts liegende Wüste riechen und spürte ihre Hitze.

»Darf ich rauskommen?«

»Von mir aus gern.«

Er ließ die Tür weit offen stehen und kam mit übertriebener Vorsicht, um die Vögel ja nicht zu verscheuchen, auf mich zu. Die Häher schwirrten kreischend umher und jagten sich gegenseitig das Futter ab. Sie nahmen ihn gar nicht zur Kenntnis.

»Womit füttern Sie die? Mit Erdnüssen?«

»Ja. Möchtest du auch ein paar für dich?«

»Nein danke. Mein Daddy und ich wollen gleich meine Oma besuchen. Bei ihr kriege ich immer eine Menge zu essen. Sie füttert auch Vögel.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Aber den Hähern würde ich auch gern ein paar geben.«

Ich hielt ihm die offene Dose hin. Er klaubte eine Faustvoll Erdnüsse heraus und schleuderte sie auf den Rasen. Die Häher kamen herangerauscht. Zwei von ihnen begannen zu kämpfen, hackten wild aufeinander ein.

Der Junge wurde blass. »Machen sie sich gegenseitig tot?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Nein, sie streiten sich nur.«

»Manchmal schon.« Ich versuchte das Thema zu wechseln. »Wie heißt du denn?«

»Ronny Broadhurst. Was für Vögel machen sie tot?«

»Fremde Jungvögel.«

Der Knabe zog die Schultern hoch und hielt die verschränkten Arme dicht vor der Brust, wie kleine Flügelstümpfe. »Machen sie auch Kinder tot?«

»Nein, dafür sind sie nicht groß genug.«

Er wirkte erleichtert. »Ich probier dann doch mal eine Erdnuss. Okay?«

»Okay.«

Den Kopf zurückgelegt, baute er sich vor mir auf und blinzelte ins Morgenlicht. »Werfen Sie, ich fang sie mit dem Mund auf.«

Ich warf ihm eine Erdnuss zu, er erwischte sie, und danach folgten noch ein paar. Einige fing er, andere fielen ins Gras. Wie vom Himmelsgewölbe heruntergefallen, übersäten die Häher den Rasen.

Ein junger Mann in mintgrün gestreiftem Sporthemd betrat den Hof von der Straße her. Er sah wie eine erwachsene Ausgabe des Jungen aus und vermittelte den gleichen Eindruck von innerer Unruhe. Er saugte hektisch an einem dünnen braunen Zigarillo.

Als hätte sie nur auf den Mann gewartet, erschien jetzt eine junge Frau mit dunklem Pferdeschwanz in der offenen Tür der Wallerschen Wohnung. Hübsch, wie sie war, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht rasiert hatte.

Der Mann tat so, als würde er sie nicht bemerken. Er redete den Jungen förmlich an. »Guten Morgen, Ronald.«

Der Mann wandte sich in schroffem Ton an die Frau. »Er hat Angst vor mir. Was hast du ihm erzählt, um Gottes willen?«

»Wir haben gar nicht von dir gesprochen, Stan. Zu unserem eigenen Besten.«

Der Mann stieß den Kopf nach vorn. Er wirkte, als würde er schon von ferne zum Angriff übergehen. »Was soll das heißen, ›zu unserem eigenen Besten‹? Ist das ein Vorwurf?«

»Nein, aber ich kann mir gern ein paar einfallen lassen, wenn du Wert darauf legst.«

»Das könnte ich auch.« Sein Blick ging in meine Richtung. »Wer ist Ronnys Spielkamerad? Oder ist er dein Gespiele?« Er fuchtelte mit dem brennenden Zigarillo in der Hand.

»Ich kenne nicht einmal den Namen dieses Herrn.«

»Das wäre für dich kein Hindernis!« Er sah mich nicht an.

Das Gesicht der Frau verlor jegliche Farbe. »Das geht zu weit, Stan. Ich will keinen Ärger.«

»Wenn du keinen Ärger willst, warum bist du dann einfach ausgezogen?«

»Fang nicht schon wieder damit an.« Abrupt wandte er sich dem Jungen zu. »Komm, Ronny, wir gehen. Wir haben eine Verabredung mit Oma Nell in Santa Teresa.«

Der Junge stand mit geballten Fäusten zwischen den beiden. Er betrachtete seine Füße. »Ich möchte nicht nach Santa Teresa. Muss ich trotzdem?«

»Ja, du musst«, sagte die Frau.

Der Junge schob sich in meine Richtung. »Aber ich möchte lieber hierbleiben. Ich möchte bei dem Mann bleiben.« Er hielt sich mit gesenktem Kopf an meinem Gürtel fest, das Gesicht vor allen Erwachsenen verborgen.

Der Vater kam auf ihn zu. »Lass ihn los.«

»Ich will nicht.«

»Ist er der Freund deiner Mutter? Sag schon, ist er das?«

»Nein.«

»Du bist ein kleiner Lügner.«

Der Mann warf seinen Zigarillo zu Boden und holte aus, um seinen Sohn zu ohrfeigen. Ich fasste den Jungen unter die Achseln, hob ihn außer Reichweite und behielt ihn schützend im Arm. Er zitterte.

Die Frau sagte: »Lass ihn doch einfach in Ruhe, Stan. Du siehst doch, was du anrichtest.«

»Was du anrichtest. Ich bin hergekommen, um einen schönen Ausflug mit ihm zu machen. Mutter freut sich so, ihn zu sehen. Und was passiert?« Er stimmte eine laute Klage an: »Ich finde mich mitten in einem Familiendrama wieder, und Ron hat schon einen Ersatzvater.«

»Dann lassen Sie ihn runter. Er ist mein Sohn.«

Ich stellte den Jungen wieder auf dem Rasen ab.

»Und lassen Sie Ihre dreckigen Pfoten von ihm.«

Am liebsten hätte ich dem Mann eine gelangt. Aber das hätte dem Jungen nichts genützt und der Frau auch nicht. So ruhig ich nur konnte, sagte ich: »Gehen Sie jetzt, Mister.«

»Ich habe das Recht, meinen Sohn mitzunehmen.«

Der Junge fragte mich: »Muss ich mit ihm gehen?«

»Er ist dein Vater, nicht wahr? Du kannst froh sein, einen Vater zu haben, der mit dir Ausflüge macht.«

»Das stimmt«, warf seine Mutter ein. »Geh mit ihm, Ronny. Du kommst immer viel besser mit deinem Vater aus, wenn ich nicht da bin. Und Oma Nell wäre sicher traurig, wenn du nicht dabei bist.«

Der Junge schlich mit gesenktem Kopf auf seinen Vater zu und griff nach dessen ausgestreckter Hand. Sie liefen in Richtung Straße.

Die Frau sagte: »Ich möchte mich für meinen Mann entschuldigen.«

»Nicht nötig. Es lässt mich völlig kalt.«

»Mich aber nicht, das ist ja das Problem. Er ist so furchtbar aggressiv. Er war nicht immer so.«

»Glaube ich gern. Das hätte er auch nicht überlebt.«

Mein Versuch, sie aufzuheitern, ging daneben. Das Gespräch kam zum Erliegen. Ich versuchte es wieder in Gang zu bringen.

»Ja. Professor Waller war mein Studienberater am College.« Sie klang wehmütig. »Genau genommen, berät er mich immer noch. Er und Laura, alle beide. Ich habe sie gestern Abend in Lake Tahoe angerufen, als ich –« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Sind sie auch Freunde von Ihnen?«

»Gute Nachbarn. Übrigens, mein Name ist Archer. Ich wohne im ersten Stock.«

Sie nickte. »Laura Waller sprach von Ihnen, als sie mir gestern Abend ihre Wohnung anbot. Falls ich irgendwie Hilfe bräuchte, sagte sie, könne ich mich an Sie wenden.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »In gewisser Weise habe ich das ja schon, nicht wahr? Danke, dass Sie so nett zu meinem Kleinen waren.«

»War mir eine Freude.«

Trotz aller netten Worte fühlten wir uns unbehaglich. Der Zorn ihres Ehemanns drückte uns nieder, die Szene, die er ihr gemacht hatte, hallte noch nach. Wie um sich davon freizumachen, sagte die Frau: »Ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Laura Wallers Spezialmischung, es wäre schade, wenn die nicht getrunken würde. Möchten Sie eine Tasse?«

»Danke, lieber nicht. Ihr Mann könnte noch mal wiederkommen.« Ich hatte eine Autotür auf der Straße aufgehen und wieder zuschlagen gehört, aber kein Motorengeräusch. »Er ist in einer gewalttätigen Stimmung, Mrs. Broadhurst.«

»Doch nicht im Ernst.« Aber ihr Ton war fragend.

»Laura sagte, Sie seien Detektiv. Ist das richtig?« Die Frau warf mir einen Blick zu, der etwas Herausforderndes hatte.

»Ja, aber heute habe ich meinen freien Tag. Hoffe ich doch.«

Trotz des Lächelns, das ich hinterherschickte, kam meine Bemerkung nicht gut an. Verletztheit sprach aus ihrem Blick, und sie verzog den Mund. Ohne zu überlegen, setzte ich hinzu: »Vielleicht können wir uns vertagen, Mrs. Broadhurst?«

Sie schüttelte den Kopf, doch es galt weniger mir als ihr selbst. »Ich weiß nicht – ich weiß nicht, ob ich hierbleiben werde.«

Auf der Straße hatte die Autotür sich wieder geöffnet. Stanley Broadhurst kehrte allein in den Innenhof zurück.

»Lasst euch nicht stören.«

»Es gibt nichts zu stören«, sagte die Frau. »Wo ist Ronny?«

»Im Auto. Es wird ihm guttun, ein bisschen Zeit mit seinem Vater zu verbringen.« Er sprach, als wäre dieser Vater ein Fremder. »Du hast vergessen, mir seine Spielsachen, Plüschtiere und so weiter mitzugeben. Er sagt, du hättest sie eingepackt.«

»Ja, natürlich.« Sichtlich über sich selbst verärgert, eilte die Frau in die Wohnung und kehrte gleich darauf mit einer blauen Nylonreisetasche zurück. »Richte deiner Mutter meine besten Grüße aus.«

Sie wirkten wie ein Paar, das nicht damit rechnet, sich je wiederzusehen. Ein ungutes Gefühl überkam mich, doch ich war gewöhnt, meine Ängste zu unterdrücken. Ich glaube, ich fürchtete vor allem um den Jungen. Ich hatte das dringende Bedürfnis, Broadhurst aufzuhalten und den Jungen zurückzuholen. Doch ich tat es nicht.

Broadhurst ging hinaus auf die Straße. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stieg ich die Außentreppe hinauf und lief eilig um das Haus herum zur Vorderseite. Ein recht neues schwarzes Ford-Cabrio stand am Straßenrand. Eine Blondine – Mädchen oder Frau – in einem ärmellosen gelben Kleid saß auf dem Beifahrersitz. Mit dem linken Arm umklammerte sie Ronny.

Stanley Broadhurst setzte sich hinters Steuer. Er ließ den Motor an und gab Gas. Das Gesicht der Frau bekam ich nicht zu sehen. Aus meinem erhöhten Blickwinkel bestand sie lediglich aus nackten Schultern, schwellenden Brüsten und wallendem blondem Haar.

Aus der dumpfen Angst um den Jungen war quälende Unruhe geworden. Ich ging ins Bad und betrachtete mein Gesicht im Spiegel, als könnte ich irgendwie die Zukunft darin lesen. Doch weder aus den Ringen um die Augen noch den weißgrauen Stoppeln in meinem Vierundzwanzigstundenbart las ich irgendetwas anderes heraus als meine eigene Vergangenheit.

Ich rasierte mich, zog ein sauberes Hemd an und machte mich wieder auf den Weg nach draußen. Auf der Treppe blieb ich stehen, lehnte mich ans Geländer und

2

Ich ging an der geschlossenen Wohnungstür der Wallers vorbei und die Straße hinunter zum nächsten Zeitungskiosk, wo ich mir die Wochenendausgabe der Los Angeles Times kaufte. Ich trug sie nach Hause und verbrachte den Großteil des Vormittags damit, sie durchzulesen. Von vorn bis hinten, einschließlich der Kleinanzeigen, die einem manchmal mehr über das Leben in Los Angeles verraten als der Nachrichtenteil.

Ich duschte kalt. Anschließend setzte ich mich an meinen Schreibtisch, kontrollierte meinen Kontostand und bezahlte die Rechnungen für Telefon und Strom. Keine von beiden war überfällig, und mein Gefühl sagte mir, dass ich alles im Griff hätte.

Während ich die Schecks postfertig machte, hörte ich trippelnde Frauenschritte vor der Tür.

»Mr. Archer?«

Ich öffnete. Ihre Haare waren hochgesteckt. Sie trug ein modisches, farbenfrohes Minikleid über einer weißen Strumpfhose in durchbrochener Optik. Sie hatte blauen Lidschatten und karminroten Lippenstift aufgelegt. Unter der gepflegten Fassade wirkte sie angespannt und verletzlich.

»Ich bin nicht beschäftigt. Kommen Sie rein.«

Während sie ihren Röntgenblick durch mein Zimmer schweifen ließ, erschienen mir die Möbelstücke plötzlich alt und abgenutzt. Ich schloss die Tür hinter ihr und zog den Schreibtischstuhl heran.

»Setzen Sie sich doch.«

»Danke.« Sie blieb aber stehen. »In Santa Teresa brennt es. Ein Waldbrand. Wussten Sie das?«

»Nein, aber es ist das Wetter dafür.«

»Laut Radiobericht ist er ganz in der Nähe von Oma Nell ausgebrochen – also von dem Grundstück meiner Schwiegermutter. Ich versuche die ganze Zeit, dort anzurufen. Es geht niemand ans Telefon. Ronny war doch dahin unterwegs, ich mache mir schreckliche Sorgen.«

»Warum?«

Sie biss sich auf die Unterlippe, bis sie Lippenstiftspuren an den Zähnen hatte. »Ich traue Stanley nicht wirklich zu, dass er gut für ihn sorgt. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er Ronny mitnimmt.«

»Warum haben Sie’s getan?«

»Ich habe nicht das Recht, ihm seinen Sohn vorzuenthalten. Jungen brauchen eine kameradschaftliche Beziehung zu ihrem Vater.«

»In seiner momentanen Verfassung gibt Stanley keinen guten Kameraden ab.«

Sie sah mich ernüchtert an und beugte sich, eine Hand zaghaft vorgestreckt, zu mir. »Helfen Sie mir, ihn zurückzuholen, Mr. Archer.«

»Ronny«, sagte ich, »oder Stanley?«

Sie fasste sich an die Stirn und bedeckte mit der Hand ihre Augen. Ich geleitete sie zum Sofa und überredete sie, sich hinzusetzen. Dann ging ich in die Küche, spülte ein Glas aus und füllte es mit Wasser. Ihre Kehle bebte beim Trinken. Ihre langen weißbestrumpften Tänzerinnenbeine ragten wie von einer bedeutenderen Bühne in das schäbige Zimmer herein.

Ich setzte mich an den Schreibtisch. »Wie ist die Nummer Ihrer Schwiegermutter?«

Sie nannte sie mir, mitsamt der Vorwahl, und ich wählte direkt. Das Telefon am anderen Ende der Leitung klingelte dringlich, bestimmt neun- oder zehnmal.

Ich war ganz überrascht, als es dann doch noch knackte und der Hörer abgenommen wurde. Eine Frauenstimme sagte: »Ja?«

»Spreche ich mit Mrs. Broadhurst?«

»Ganz recht.« Ihre Stimme war energisch, aber höflich.

»Stanleys Frau möchte mit Ihnen sprechen. Einen Moment, bitte.«

Ich hielt der jungen Frau den Hörer hin, worauf sie meinen Platz am Schreibtisch einnahm. Ich ging ins Schlafzimmer, schloss die Tür hinter mir und griff zum Hörer des Nebenanschlusses an meinem Bett.

Die ältere Frau sagte gerade: »Ich habe Stanley nicht gesehen. Samstags ist mein ›Pink-Lady‹-Tag, das

»Erwartest du ihn denn nicht zu Besuch?«

»Vielleicht später noch, Jean.«

»Aber er sagte, er sei vormittags mit dir verabredet und er habe dir versprochen, dass er Ronny mitbringt.«

»Dann wird er das wohl auch tun.« Die Stimme der Älteren war zurückhaltend geworden, aber auch bestimmter. »Ich verstehe nicht ganz, warum das so wichtig –«

»Sie sind schon vor Stunden hier weggefahren«, sagte Jean. »Und wie ich höre, gibt es ein Feuer in eurer Gegend.«

»Das stimmt. Deswegen bin ich ja auch so eilig vom Krankenhaus hierher zurückgefahren. Du entschuldigst mich jetzt, Jean.«

Am anderen Ende wurde aufgelegt, und ich tat das Gleiche. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, starrte Jean stirnrunzelnd den Hörer in ihrer Hand an wie ein Lebewesen, das vor ihren Augen verendet war.

»Stan hat mich angelogen«, sagte sie. »Seine Mutter war den ganzen Vormittag im Krankenhaus. Er hat dieses Mädchen in ein leeres Haus gebracht.«

»Sind Sie und Stan dabei, sich zu trennen?«

»Ja, vielleicht ist das so. Obwohl ich es nicht möchte.«

»Wer ist die Blonde?«

Noch einmal betrachtete sie den Telefonhörer in ihrer Hand, bevor sie ihn auf die Gabel krachen ließ. Es kam mir vor, als gelte die Heftigkeit mir.

»Das brauchen wir jetzt nicht zu erörtern.«

»Erst seit gestern. Wir sind nicht wirklich getrennt. Ich dachte, wenn Stanley mit seiner Mutter redet –« Sie stockte.

»Dass sie dann für Sie Partei ergreift? Darauf würde ich nicht bauen.«

Sie sah mich überrascht an. »Kennen Sie Mrs. Broadhurst denn?«

»Nein. Aber ich würde trotzdem nicht drauf bauen. Hat Mrs. Broadhurst sehr viel Geld?«

»Sehe ich – ist das so offensichtlich?«

»Nein. Aber es gibt für alles einen Grund. Ihr Mann hat seine Mutter ins Feld geführt, damit Sie ihm Ronny überlassen.«

Schuldbewusst senkte sie den Kopf. »Jemand hat Ihnen von uns erzählt.«

»Sie selbst waren das.«

»Aber ich habe nichts über Mrs. Broadhurst gesagt. Oder über die Blonde.«

»Ich meine schon.«

Sie versank in tiefes Nachdenken. Es stand ihr ausgesprochen gut, die verkrampfte Haltung, mit der sie dagesessen hatte, löste sich ein wenig. »Jetzt weiß ich. Gestern Abend, nachdem ich mit ihnen gesprochen hatte, haben die Wallers Sie angerufen und über mich ins Bild gesetzt. Was hat Laura denn gesagt, oder war es Bob?«

»Nichts. Sie haben mich nicht angerufen.«

»Woher wussten Sie dann von der Blondine?«

»Ist nicht immer irgendeine Blondine im Spiel?«

»Okay, ich habe sie gesehen.« Mitten im Satz wurde mir klar, dass ich mich als Gewährsmann – ihren Gewährsmann – anbot und damit auch die letzte Möglichkeit, mich aus ihrem Leben herauszuhalten, dahin war. »Sie saß mit im Auto, als Ihr Mann hier weggefahren ist.«

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte sie aufgehalten.«

»Wie denn?«

»Ich weiß nicht, wie.« Sie betrachtete ihre Hände. Unversehens ging ihr der Kiefer herunter, und sie flüchtete sich in verzweifelten Humor: »Vielleicht ein Schild hochhalten mit der Aufschrift ›Ehefrau‹ oder mich einfach vor das Auto setzen. Oder einen Brief an einen Astronauten schicken.«

Ich unterbrach sie, bevor sie mir hysterisch wurde. »Immerhin betreibt Stanley die Sache ganz offen. Und solange der Junge dabei ist, wird doch wahrscheinlich nicht groß was passieren.« Ich beließ es bei der vagen Formulierung.

Sie schüttelte ihren reizenden Kopf. »Ich weiß nicht, was passieren könnte. Gerade die Tatsache, dass sie so offen vorgehen, wie Sie sagen, macht mir Sorgen. Ich glaube, sie sind beide nicht bei Sinnen, ganz im Ernst. Er brachte sie gestern Abend mit, als er aus dem Büro kam, und bat sie, zum Essen zu bleiben, ohne sich mit mir abzusprechen. Sie hatte offensichtlich irgendetwas genommen, jedenfalls redete sie ziemlich wirres Zeug.«

»Er ist Angestellter bei einer Versicherung in Northridge – dort wohnen wir. Aber sie arbeitet nicht in diesem Büro, falls das eben so klang. Sie könnte sich keinen Tag lang dort halten. Möglich, dass sie aufs College geht oder sogar noch auf die Highschool. Jung genug dafür ist sie.«

»Wie jung?«

»Sie kann nicht älter als neunzehn sein. Das war ja auch eine Sache, die mich sofort misstrauisch gemacht hat. Stanley behauptete, sie sei eine alte Schulfreundin, die ihn im Büro kontaktiert habe. Aber er ist mindestens sieben oder acht Jahre älter als sie.«

»Was, glauben Sie, hatte sie genommen?«

»Keine Ahnung. Aber mir hat nicht gefallen, wie sie mit Ronny geredet hat. Ganz und gar nicht. Ich habe Stanley gebeten, sie aus dem Haus zu schaffen. Aber er wollte nicht. Also habe ich Laura Waller angerufen – und bin hierhergekommen.«

»Hätten Sie vielleicht nicht tun sollen.«

»Das ist mir inzwischen auch klar. Ich hätte in meinem eigenen Haus bleiben und die Sache ausfechten sollen. Das Problem ist, zwischen Stanley und mir stimmt es schon seit längerer Zeit nicht mehr. Er ist immer völlig beschäftigt mit seinen eigenen Sorgen und hat überhaupt kein Interesse an mir. Ich meine, da wird einem als Frau doch irgendwie der Boden unter den Füßen weggerissen.«

»Haben Sie eine Scheidung in Erwägung gezogen?«

Sie bedachte die Frage nüchtern. »Bis jetzt nicht. Aber

»Ich bin Privatdetektiv. Mit solchen Diensten verdiene ich meinen Lebensunterhalt.«

»Das weiß ich von Laura Waller. Deshalb frage ich Sie ja. Und natürlich habe ich die Absicht, Sie zu bezahlen.«

Ich öffnete die Tür und stellte die Selbstverriegelung ein. »Was hat Mrs. Waller Ihnen sonst noch über mich erzählt?«

Mit ihrem strahlenden, etwas hilflosen Lächeln sagte sie: »Dass Sie ein einsamer Mensch seien.«

3

Ich wartete im Wohnzimmer der Wallers auf sie. Die Wände waren voller Bücher, viele davon in fremden Sprachen, wie ein Schutzschild gegen das Hier und Jetzt. Bald erschien sie mit einer großen Handtasche und Jacken für sich und den abwesenden Jungen.

Ich holte mein Auto aus der Garage auf der Rückseite des Gebäudes, und dann fuhren wir landeinwärts in Richtung Ventura Freeway. Es war früher Nachmittag, die grelle Sonne blitzte auf Windschutzscheiben und Chromteilen. Ich schaltete die Klimaanlage ein.

»Wie angenehm«, sagte sie. Ihre Anwesenheit auf dem

Nachdem ich auf den Sepulveda Boulevard eingebogen war, legte ich mir eine ganze Weile lang eine Bemerkung zurecht.

»Ich habe das Gefühl, dass ich schon nicht mehr ganz so einsam bin, Mrs. Broadhurst.«

»Sagen Sie doch Jean. Mrs. Broadhurst, das klingt so nach meiner Schwiegermutter.«

»Ist das schlimm?«

»Nicht unbedingt. Sie ist eine durchaus respekteinflößende Frau – eine Dame, immer zuvorkommend. Aber innerlich ist sie furchtbar traurig. Das ist vermutlich der Sinn von Umgangsformen – alles zuzudecken.«

»Was macht sie denn so traurig?«

»Vieles.« Sie sah mir von der Seite ins Gesicht, in das eine sichtbare Auge. »Sie sind ziemlich neugierig, nicht wahr, Mr. Archer?«

»Das ist Teil meiner Arbeit.«

»Arbeiten Sie gerade?«

»Sie haben mich darum gebeten. Hat die Tatsache, dass ich im selben Haus wohne, irgendetwas damit zu tun, dass Sie in die Wohnung unten gegangen sind?«

»Die Tatsache, dass Sie Detektiv sind?«

»So ungefähr.«

»Möglich. Vielleicht waren Sie ja Teil des Gesamtphänomens. Ist das wichtig?«

»Wenn Sie das wissen, sind Sie ein Glückspilz.«

»Ist das eine Drohung?«, sagte ich.

»Eher ein Geständnis. Ich dachte an mich selbst – und wo ich stehe.«

»Wo wir schon mal bei Geständnissen sind – haben Sie Ronny heute Morgen nach draußen geschickt, damit er mir beim Vogelfüttern hilft?«

»Nein.« Ihr Ton war entschieden. »Das war seine eigene Idee.« Sie fügte hinzu: »Wenn Sie nicht an Zufälle glauben, dann bleibt auch kein Platz für Spontaneität. In Ihrer Welt.«

»Es ist nicht meine Welt. Ich interessiere mich für das Gesamtphänomen, das Sie eben erwähnten. Erzählen Sie mir davon.«

Sie antwortete zögernd. »Ich weiß nicht, was Sie hören möchten.«

»Alles, was zu der jetzigen Situation geführt hat.«

»Sie meinen es ernst, nicht wahr?« Ich hörte leises Erstaunen in ihrer Stimme.

»Ja.«

»Ich meine es auch ernst. Immerhin ist es mein Leben, und es zerbricht mir unter den Händen. Aber wenn ich es erklären sollte, wüsste ich nicht, wo beginnen.«

»Zeigen Sie mir einfach die Bruchstücke. Sie haben ja schon angefangen, mit Mrs. Broadhurst. Warum ist sie so traurig?«

»Sie wird alt.«

»Ich auch, aber ich bin trotzdem nicht traurig.«

»Wird Mr. Broadhurst nicht alt?«

»Es gibt keinen Mr. Broadhurst mehr. Er ist vor Jahren mit einer anderen Frau durchgebrannt. Stanley scheint dieses Muster nun zu wiederholen.«

»Wie alt war er, als sein Vater abgehauen ist?«

»Elf oder zwölf. Stanley spricht nie darüber, aber es war das prägende Erlebnis in seiner Kindheit. Ich muss es mir immer in Erinnerung rufen, wenn ich über ihn urteile. Als sein Vater verschwand, hat er das, glaube ich, noch schwerer genommen als seine Mutter.«

»Woher wissen Sie das, wenn er nie darüber spricht?«

»Sie stellen gute Fragen«, sagte sie.

»Geben Sie mir eine gute Antwort, Jean.«

Sie ließ sich Zeit. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ein Blick aus dem Augenwinkel verriet mir, dass sie reglos dasaß, die Hände im Schoß. Der Kopf war über die leeren Hände gebeugt, als wollte sie einen Knoten entwirren oder eine Rolle Bindfaden abwickeln.

»Mein Mann ist schon seit einiger Zeit auf der Suche nach seinem Vater«, sagte sie, »und zerbricht allmählich daran. Oder vielleicht muss ich es umgekehrt sehen. Er sucht nach seinem Vater in der Hoffnung, dass er dadurch wieder ganz wird.«

»Hatte Stanley einen Zusammenbruch?«

»So konkret kann man das nicht sagen. Aber sein ganzes Leben ist eine Art Zusammenbruch gewesen. Er ist einer dieser Typen, die sich übertrieben selbstsicher geben, aber in Wirklichkeit überhaupt kein Selbstvertrauen haben. Und das macht beschränkt. Er hat nur mit knapper

»Das kann hart sein für einen Mann, mit einer Frau verheiratet zu sein, die klüger ist als er.«

»Für die Frau kann es auch hart sein. Aber eigentlich wollte ich gar nicht darauf hinaus, dass ich klüger bin als er. Er ist nur halt ein Mann, der noch nicht zu sich selbst gefunden hat.«

»Ist er denn auf der Suche?«

»Er ist verzweifelt auf der Suche, schon seit langem.«

»Nach seinem Vater.«

»So legt er es sich selbst zurecht. Er hat offenbar das Gefühl, dass ihm, als sein Vater ihn verlassen hat, der Sinn des Lebens abhandengekommen ist. Das klingt zunächst unsinnig, aber es ist doch etwas dran. Er ist wütend auf seinen Vater, weil der ihn im Stich gelassen hat, gleichzeitig aber vermisst und liebt er ihn. Beides zusammen kann eine lähmende Wirkung haben.«

Das starke Gefühl in ihrer Stimme überraschte mich. Sie hing mehr an ihrem Mann, als sie zugeben mochte.

Wir überquerten den niedrigen Pass und fuhren ins San Fernando Valley. Brauner Staub lag über dem Talgrund und verdeckte die Berge am anderen Ende. Als wäre er einem alten Film entsprungen, quälte sich ein Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg vom Flughafen Van Nuys in die Lüfte und schwenkte nordwärts. Wahrscheinlich nahm er Kurs auf den Brand in Santa Teresa.

Wir fuhren an einem Wegweiser »Northridge« vorbei. Ich schielte zu der Frau hinüber. Sie saß vornübergebeugt, immer noch mit ihrer Bindfadenrolle beschäftigt.

»Wie weit ist Ihr Haus vom Freeway entfernt?«

»Ungefähr fünf Minuten. Warum?«

»Wir sollten dort mal vorbeischauen. Wir können nicht sicher sein, dass Stanley den Jungen nach Santa Teresa gebracht hat.«

»Sie meinen, sie könnten im Haus sein?«

»Es ist nicht wahrscheinlich, aber möglich. Lassen Sie uns jedenfalls nachsehen.«

Sie wohnte in einer Straße namens College Circle, in einem der nagelneuen Häuser mit zweistöckigen, von massiven Holzsäulen gestützten Vorbauten. Die Häuser unterschieden sich untereinander allein durch die Farben. Das der Broadhursts war dunkelblau mit hellblauen Säulen.

Jean betrat es durch den Vordereingang. Als ich der Auffahrt zur Rückseite folgte, stellte ich fest, dass sich hinter den beeindruckenden Säulen nur ein einfaches Reihenhaus verbarg, als hätte der Architekt versucht, Herrenhaus und Sklavenunterkunft in einem hinzustellen. Ein Rebenzaun trennte den Hinterhof von dem der Nachbarn.

Jean kam durch die Hintertür des Hauses heraus. Sie warf mir einen entsetzten Blick zu, dann lief sie über den Rasen zum Garagenfenster.

»Sie sind doch wohl nicht da drin, oder?«

»Nein.«

»Dem Himmel sei Dank. Ich dachte schon, sie hätten vielleicht Selbstmord begangen oder so etwas.« Sie warf einen Blick durchs Fenster. »Das ist nicht unser Auto.«

»Wessen denn?«

»Es muss ihr gehören. Jetzt fällt’s mir wieder ein – sie und Stanley sind gestern Abend in verschiedenen Autos gekommen. Die hat vielleicht Nerven – ihr Auto einfach in meiner Garage abzustellen.« Jean sah mich an, ihr Gesicht verhärtete sich. »Übrigens hat sie letzte Nacht in Ronnys Bett gelegen. Die Sache gefällt mir nicht.«

»Zeigen Sie mal.«

Ich folgte ihr durch die Hintertür ins Haus. Man sah ihm an, dass seine Bewohner es im Stich gelassen hatten. In der Küchenspüle und auf den Arbeitsflächen stapelte sich schmutziges Geschirr. Auf dem freistehenden Herd standen eine Bratpfanne voller erstarrtem Fett und ein Kochtopf, dessen Inhalt nach Erbsensuppe roch, aber wie rissiger grüner Lehm aussah. Und die Fliegen waren auch schon da.

Das Zimmer des Jungen im ersten Stock war mit

Ich schlug es auf und fand ein Exlibris, den Stich eines Engels oder einer Muse, die mit einer Pfauenfeder eine Pergamentrolle beschreibt. Der Name auf dem Exlibris lautete Ellen Strome. Darunter war mit Bleistift ein anderer Name gesetzt: Jerry Kilpatrick.

Ich klappte das Buch zu und steckte es in meine Sakkotasche.

4

Jean Broadhurst kam hinter mir ins Zimmer. »Wenigstens hat er nicht mit ihr geschlafen.«

»Wo hat Ihr Mann übernachtet?«

»In seinem Arbeitszimmer.«

Sie zeigte mir das kleine Zimmer im Erdgeschoss. Ein paar Bücherbretter gab es dort, einen verschlossenen Rollschreibtisch, ein ungemachtes Liegesofa und einen grauen Stahlaktenschrank, der wie ein Denkmal am Kopfende des Bettes emporragte.

»Ist es normal, dass Stanley hier schläft?«, wollte ich wissen.

»Sie stellen ziemlich persönliche Fragen.«

»Sie werden sich daran gewöhnen. Ich schließe daraus, dass er normalerweise hier schläft.«

Ich zog probehalber an der obersten Schrankschublade. Sie war verschlossen.

»Was für Akten bewahrt er hier auf?«

»Das ist seine Herkunftsakte«, sagte sie.

»Seine Herkunftsakte?«

»Stanley führt eine Akte über seinen Vater – alle Informationen über ihn, die er zutage fördern konnte, was nicht sehr viele sind. Und alle falschen Fährten, denen er gefolgt ist – Dutzende von Personen, mit denen er gesprochen oder korrespondiert hat, um etwas über den Verbleib seines Vaters zu erfahren. Das war seine Hauptbeschäftigung in den letzten Jahren.« Mit säuerlichem Grinsen fügte sie hinzu: »Wenigstens wusste ich immer, wo er sich nachts aufhielt.«

»Was für ein Mann war sein Vater?«

»Das kann ich im Grunde nicht sagen. Das mag komisch erscheinen, angesichts all dieser Informationen« – sie klopfte gegen das Metall des Aktenschranks –, »aber Stanley spricht so gut wie nie über ihn. Er schweigt sich gründlich aus zu diesem Thema. Und seine Mutter noch gründlicher. Ich weiß immerhin, dass er Hauptmann der Infanterie im Pazifik war. Stanley hat ein Bild von ihm in Uniform. Er war ein gutausehender Mann mit einem sympathischen Lächeln.«

Ich musterte die mit Sperrholz getäfelten Zimmerwände. Abgesehen von einem Monatskalender, der behauptete, es sei noch immer Juni, waren sie leer.

»Wo bewahrt er das Bild seines Vaters auf?«

»Wodurch sollte es sich abnutzen?«

»Durch häufiges Herumzeigen. Er hat noch andere Bilder von ihm, beim Tennis, auf dem Rücken eines Polopferds und am Steuer seiner Yacht.«

»Sein Vater hatte also eine Menge Geld?«

»Eine beträchtliche Menge. Oder jedenfalls seine Frau.«

»Und doch hat er all dem und ihr den Rücken gekehrt wegen einer anderen Frau?«

»So hat man es mir berichtet.«

»Wer war die Frau?«

»Ich habe keine Ahnung. Stanley und seine Mutter reden nicht darüber. Ich weiß nur, dass Mr. Broadhurst und die Frau nach San Francisco durchgebrannt sind. Letzten Juni haben Stanley und ich zwei Wochen in San Francisco verbracht. Stanley ist mit seinen Bildern durch die Stadt gelaufen. Als die Zeit um war, hatte er fast die gesamte Innenstadt abgegrast. Es hat mich einige Anstrengung gekostet, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Er wollte seinen Job aufgeben, um die ganze Bay Area absuchen zu können.«

»Angenommen, er findet seinen Vater, was dann?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, Stanley weiß es selbst nicht.«

»Sie sagten, er sei elf oder zwölf gewesen, als sein Vater verschwand. Wie lange ist das her?«

»Stanley ist jetzt siebenundzwanzig. Fünfzehn Jahre.«

»Kann er es sich leisten, den Job aufzugeben?«

»Keineswegs. Wir haben schon eine Menge Schulden, bei seiner Mutter und anderswo. Er ist so gleichgültig geworden, ich muss ihn ständig antreiben, damit er zur

Ich sagte: »Haben Sie einen Schlüssel für den Aktenschrank?«

»Nein. Es gibt nur einen, und den verwahrt Stanley. Er schließt auch den Rollschreibtisch immer ab. Ich soll seinen Schriftverkehr nicht einsehen können.«

»Glauben Sie, dass er sich mit dem jungen Mädchen geschrieben hat?«

»Das kann ich nicht sagen. Er bekommt Briefe von überall her. Ich öffne sie nicht.«

»Wissen Sie, wie das Mädchen heißt?«

»Angeblich heißt sie Sue, das hat sie jedenfalls zu Ronny gesagt.«

»Ich würde mir gern die Zulassung für diesen Mercedes ansehen. Wie steht’s mit dem Garagenschlüssel?«

»Damit kann ich dienen. Der hängt in der Küche.«

Ich folgte ihr in die Küche, wo sie eine Schranktür öffnete und den Schlüssel von einem Nagel nahm. Ich schloss die Garage auf. Der Autoschlüssel steckte im Zündschloss. Die Zulassung fand ich nicht, dafür aber ganz hinten im Handschuhfach eine zerknitterte Kfz-Versicherungsrechnung, ausgestellt auf einen Mr. Roger Armistead, wohnhaft im Crescent Drive Nr. 10 in Santa Teresa. Ich notierte mir Namen und Adresse in meinem schwarzen Büchlein und stieg wieder aus dem Auto.

»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte Jean.

Ich zeigte ihr das aufgeschlagene Notizbuch. »Kennen Sie Roger Armistead?«

»Und der Mercedes kostet auch eine Stange Geld. Stanleys alte Schulfreundin scheint gut betucht zu sein. Oder sie hat den Wagen gestohlen.«

Jean hob hastig die Hand, um mir Einhalt zu gebieten. »Sprechen Sie bitte nicht so laut.« Mit gedämpfter Stimme, um die Nachbarn auf der anderen Seite des Zauns nicht mithören zu lassen, fuhr sie fort: »Es ist absolut lächerlich, was er mir da aufgetischt hat. Sie kann keine alte Schulfreundin sein. Wie gesagt, sie ist mindestens sechs oder sieben Jahre jünger. Außerdem hat er eine private Jungenschule in Santa Teresa besucht.«

Ich schlug noch einmal mein Notizbuch auf. »Geben Sie mir doch eine Beschreibung von ihr.«

»Sie ist eine gutaussehende junge Blondine, etwa meine Größe, einsachtundsechzig. Gute Figur. Wiegt gut fünfzig Kilo. Ihre Augen sind bläulich. Im Grunde sind sie das Beste an ihr – und auch das Seltsamste.«

»Inwiefern seltsam?«

»Ich bin nicht aus ihnen schlau geworden«, sagte sie. »Ich konnte nicht erkennen, ob das Mädchen vollkommen unschuldig oder aber vollkommen kalt und durchtrieben ist. Und das sage ich nicht erst im Nachhinein. Es war gleich mein erster Eindruck, als sie mit Stanley ins Haus kam.«

»Hat er irgendeinen Grund genannt, warum er sie mitgebracht hat?«

»Er sagte, sie brauche Ruhe und etwas zu essen und ich solle den Abendbrottisch mit für sie decken. Hab ich

»Hat sie viel geredet?«

»Nicht mit mir. Sie hat mit Ronny gesprochen.«

»Worüber?«

»Eigentlich nur lauter Unsinn. Sie hat ihm eine wüste Geschichte erzählt von einem Mädchen, das die ganze Nacht allein ist in einem Haus in den Bergen. Ungeheuer haben seine Eltern getötet, und das kleine Mädchen wird auf dem Rücken eines großen Vogel davongetragen, einem Kondor oder ähnlichem. Sie sagte, das Gleiche sei ihr passiert, als sie in seinem Alter war. Sie hat meinen Sohn gefragt, ob er so etwas auch mal erleben möchte. Es war natürlich reine Phantasie, aber es hatte einen üblen Beigeschmack, so als wollte sie Ronny mit ihrer Hysterie anstecken.«

»Wie hat er reagiert? Hat es ihm Angst gemacht?«

»Eigentlich nicht. Er schien eher fasziniert von ihr. Im Gegensatz zu mir. Ich bin dazwischengegangen und hab ihn in sein Zimmer geschickt.«

»Hat sie irgendwas davon gesagt, dass sie ihn mitnehmen wollte?«

»Nicht direkt. Aber genau das war die Botschaft, nicht wahr? Es hat mir richtig Angst gemacht. Ich hätte die Konsequenz daraus ziehen und sie rausschmeißen sollen.«

»Was hat Ihnen Angst gemacht?«

Sie blickte zum Himmel, der voller aufgewirbeltem Staub war. »Ich glaube, sie hat sich vor irgendwas gefürchtet, und das hat sich auf mich übertragen. Natürlich war ich sowieso schon erregt. Es war so unüblich, was Stanley

»Aber Ihr Leben hatte sich schon seit einer Weile verändert, nicht wahr? Seit Juni.«

Sie sah mich an, ihre Augen nicht minder düster als der Himmel. »Im Juni waren wir in San Francisco. Wie kommen Sie jetzt auf den Juni?«

»Das war der letzte Monat, in dem Ihr Mann das Kalenderblatt in seinem Arbeitszimmer abgerissen hat.«

Ein Auto mit geräuschvollem Motor fuhr auf der Straße vor, und gleich darauf erschien ein Mann an der Hausecke. Sein Körper schien sich in dem dunklen, zerknitterten Anzug nicht wohl zu fühlen. Er hatte ein schmales blasses Gesicht und Narbenwülste über den Augen.

Er kam über die Auffahrt auf uns zu. »Ist Stanley Broadhurst da?«

»Leider nicht«, sagte Jean mit sichtlichem Unbehagen.

»Sie sind nicht zufällig Mrs. Broadhurst?« Der Mann sprach mit ausgesuchter Höflichkeit, doch mit einem aggressiven Unterton.

»Ja, ich bin Mrs. Broadhurst.«

»Wann erwarten Sie Ihren Mann zurück?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Sie müssen doch eine ungefähre Vorstellung haben.«

»Nein, tut mir leid.«

»Wenn nicht Sie, wer dann?«

Er schien ein Mann zu sein, von dem nichts als Ärger zu erwarten war. Ich schob mich zwischen ihn und Jean.

Der Mann antwortete erst einmal nichts. Ohnmächtig vor Wut holte er aus und schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Ein vierfingriger roter Abdruck blieb auf seiner Wange zurück. »Wer ich bin, ist meine Sache«, sagte er. »Ich will mein Geld. Sehen Sie zu, dass Sie ihm das klarmachen. Heute Abend verschwinde ich aus der Stadt, und das Geld nehme ich mit.«

»Von was für Geld ist hier die Rede?«

»Das geht nur ihn und mich was an. Sagen Sie ihm einfach Bescheid. Ich bin bereit, mich mit einem glatten Tausender zu begnügen, vorausgesetzt, ich bekomme ihn bis heute Abend. Wenn nicht, sind nach oben keine Grenzen gesetzt.«

Seine kalten Augen bezeugten nicht, was der Mund behauptete. Ich hielt ihn für einen Ex-Sträfling. Er trug die Gefängnisblässe im Gesicht und schien sich im hellen Tageslicht eher unwohl zu fühlen. Er blieb immer dicht an der Wand, als würde er sich notfalls daran festhalten wollen.

»So viel Geld besitzt mein Mann gar nicht.«

»Seine Mutter aber.«

»Was wissen Sie von seiner Mutter?«, fragte Jean mit brüchiger Stimme.

»Ich weiß zufällig, dass sie stinkreich ist. Er sagte, er werde es heute von ihr bekommen und könne es mir abends geben.«

»Dann sind Sie ein bisschen früh dran, nicht wahr?«, schaltete ich mich ein.

»Was will er Ihnen abkaufen?«

»Wenn ich das verrate, kann ich’s nicht mehr verkaufen, stimmt’s?« Er warf mir den verschlagenen Blick eines Schlaubergers zu, der die Grenzen seiner Intelligenz nie richtig einzuschätzen gelernt hat. »Sagen Sie ihm, dass ich heute Abend wiederkomme. Wenn er dann das Geld nicht hat, kann er richtig blechen.«

»Womöglich ist er bis heute Abend noch nicht zurück«, sagte ich. »Wie wär’s, wenn Sie mir Ihren Namen und die Adresse geben, und wir melden uns dann bei Ihnen?«

Er dachte über meinen Vorschlag nach und sagte schließlich: »Sie erreichen mich im Star Motel. Das ist unterhalb vom Topanga Canyon am Coast Highway. Fragen Sie nach Al.«

Ich notierte mir die Adresse. »Kein Telefon?«

»Geld kann man nicht übers Telefon abliefern.«

Er drehte sich um und verzog sich mit einem frostigen Lächeln. Ich folgte ihm bis zur Hausecke und beobachtete, wie er in einem alten schwarzen vw davonfuhr. Dem Wagen fehlte vorne ein Kotflügel, und das Nummernschild war so verdreckt, dass ich es nicht lesen konnte.

»Glauben Sie, dass er die Wahrheit sagt?«, fragte Jean.

»Das weiß er bestimmt selber nicht. Dazu müsste er sich einem Lügendetektortest unterziehen. Und würde ihn wahrscheinlich nicht bestehen.«

»Was hat Stanley mit so einem Typen zu tun?«

»Sie kennen Stanley besser als ich.«

»Langsam frage ich mich, ob das stimmt.«

Eine Frauenstimme meldete sich ungehalten: »Ja?«

»Könnte ich bitte Mr. Armistead sprechen?«

»Der ist nicht da.«

»Wie kann ich ihn erreichen?«

»Das hängt davon ab, was Sie von ihm wollen.«

»Sind Sie Mrs. Armistead?«

»Ja.« Es klang, als würde sie jeden Moment auflegen.

»Ich versuche eine junge Frau ausfindig zu machen. Eine künstliche Blondine –«

Sie unterbrach mich mit hörbar gewecktem Interesse: »Hat sie am Donnerstag die Nacht auf einem Boot im Yachthafen von Santa Teresa verbracht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was wissen Sie denn von ihr?«

»Sie fuhr einen grünen Mercedes. Der offenbar Ihrem Mann gehört.«

»Es ist mein Auto. Und übrigens auch meine Yacht. Hat sie den Mercedes zu Schrott gefahren?«

»Nein.«

»Ich will ihn zurückhaben. Wo ist er?«

»Das erzähle ich Ihnen, wenn ich kommen und mich mit Ihnen unterhalten darf.«

»Geht es um Erpressung oder dergleichen? Hat Roger Sie dazu angestiftet?« Ihre Stimme bebte vor Wut und Verletztheit.

»Da können Sie von Glück reden. Wie ist Ihr Name?«

»Archer.«

»Was machen Sie von Beruf, Mr. Archer?«

»Ich bin Privatdetektiv.«

»Verstehe. Und worüber wollen Sie mit mir sprechen?«

»Die Blonde. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie vielleicht?«

»Nein. Steckt sie in Schwierigkeiten?«

»Anscheinend.«

»Wie alt ist sie?«

»Achtzehn, neunzehn.«

»So, so«, sagte sie mit leiserer, kleinlauter Stimme. »Hat Roger ihr den Wagen überlassen, oder wurde er gestohlen?«

»Das werden Sie Roger fragen müssen. Soll ich Ihnen den Wagen bringen?«

»Von wo aus rufen Sie an?«

»Northridge, aber ich bin auf dem Weg nach Santa Teresa. Ich könnte auf einen Sprung bei Ihnen vorbeischauen.«

Es wurde still am anderen Ende der Leitung. Ich fragte Mrs. Armistead, ob sie noch da sei.

»Ich bin noch da. Aber ich weiß nicht recht, ob ich mit Ihnen reden möchte. Andererseits«, fuhr sie mit kräftigerer Stimme fort, »gehört der Wagen mir und ich will ihn zurückhaben. Ich bin auch bereit, Sie zu bezahlen – in angemessenem Umfang.«

»Darüber können wir uns unterhalten, wenn ich bei Ihnen bin.«

Ich fuhr den Mercedes rückwärts aus der Garage und

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, teilte sie mir mit, dass Stanley, Ronny und das junge Mädchen die Ranch vormittags in Mrs. Broadhursts Abwesenheit besucht hätten. »Der Gärtner hat ihnen den Schlüssel für die Hütte gegeben.«

»Was für eine Hütte?«

»Die Gästeunterkunft in den Bergen hinter der Ranch. Wo es jetzt gerade brennt.«