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Über den Autor

Thomas Franke ist Sozialpädagoge und bei einem sozialen Träger für Menschen mit Behinderung tätig. Als leidenschaft­licher Geschichtenschreiber ist er nebenberuflich als Autor tätig.

Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

www.thomasfranke.net

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© 2015 by Gerth Medien GmbH,  Dillerberg 1, 35614 Asslar


1. Auflage 2015

ISBN 978-3-96122-055-7

Umschlaggestaltung und -fotos: Jeannette Woitzik

Lektorat: Nicole Schol

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

Printed in Germany

Inhalt

Hagelsturm und Sülze

Der Badesee

Flammen

Am Humboldtbunker

Einhundert Tage

Hans

Die Brille

Lager Ketschendorf

Beweist uns, dass ihr Menschen seid

Der Verschlinger

Die Kellertreppe

Das Orakel

Zwischenlager

Das Verhör

Im Loch

Molluskenweisheit

Das Grab

Der Plan

Nicht die ganze Wahrheit

Zeichen oder Wunder

Dunja

Dr. Vitali Vitas Westentaschen­berater für alle Lebenslagen

Waldfrühstück

Der späte Gast

Der Trümmerbeseitiger

Die Seelenseherin

Weihnachtsplätzchen und Augenfalten

Der Bann

Ein Haus der Geschichten

Dank

Anmerkung

Hagelsturm und Sülze

Geduckt und die Muskeln unter dem struppigen Fell zum Sprung bereit, schlich die magere graue Katze auf das Mäuerchen zu. Die Ratten, die sich überall in der Stadt ausbreiteten, waren ihr zu wehrhaft, aber diese gefiederte Beute dort war verlockend. Der Boden unter ihren Pfoten zitterte unablässig, Steine kullerten Geröllhalden hinab, und verkohlte Balken knirschten. Pausenlos donnerten in der Ferne die Geschütze.

Die Rote Armee hatte Berlin erreicht. 2,5 Millionen Soldaten drangen in die Hauptstadt ein – mit einem Waffenarsenal, das groß genug war, um an der gesamten Front alle drei Meter ein Geschütz aufzustellen.

Die Katze hielt inne. Rechts von ihr kam Bewegung auf.

Durch eine schmale Schneise in den Schuttbergen radelten Hitlerjungen mit Panzerfäusten an den Fahrradlenkern Richtung Front. Der Weg war nicht weit. „Von der Westfront zur Ostfront kannste mit der Straßenbahn fahren“, kommentierten die Berliner mit Galgenhumor die Situation der belagerten Stadt.

Die Augen der Katze waren konzentriert auf ihre Beute gerichtet, ein kleines, gelb-blaues Knäuel, das ein paar Zentimeter voran hüpfte und an irgendetwas pickte, das auf der Mauer lag. Langsam schlich sie weiter. Mittlerweile gab es immer weniger Menschen in den stetig wachsenden Schuttbergen. Sie musste nur Geduld haben und warten, bis die seltsame Kolonne dort unten vorübergezogen war.

Die meisten Menschen, die noch in der Stadt ausharrten, waren Frauen, Kinder und alte Leute. Der Roten Armee standen 42.000 Wehrmachtssoldaten und noch einmal so viele alte Männer und kleine Jungen gegenüber, die von den Nazis beschönigend „Volkssturm“ genannt wurden. Die Verschwendung von Menschenleben an den Fronten des Krieges und die Bombenangriffe hatten die Bevölkerung ausgedünnt. Viele waren aufs Land geflohen. Die Reichshauptstadt war zum Reichstrümmerfeld geworden. Aber einige glaubten noch immer an den Sieg. Vor allem die Jungen.

Endlich war der Trupp vorbeigeradelt. Die Katze schlich weiter, duckte sich tiefer in den Staub, in dem ihr langhaariges, graues Fell kaum zu erkennen war.

Ein blecherner Lärm übertönte jetzt das Dröhnen der Geschütze. Ein Lautsprecherwagen rumpelte vorbei, verkündete Durchhalteparolen und beorderte die Bevölkerung zum Ausheben von Panzergräben. Der kleine Vogel flatterte erschrocken auf, ließ sich aber nur einen Meter entfernt erneut auf der Mauer nieder. Die Katze zuckte mit den Ohren, änderte die Richtung und schlich sich behutsam näher an ihre Beute heran.

Jeder weitere Kriegstag war eine sinnlose Vernichtung von Leben, doch die Propagandamaschinerie der Nazis lief unvermindert weiter. Man sprach davon, dass die Heeresgruppe Wendt den Belagerungsring durchstoßen würde, man hoffte auf Wunderwaffen, und nicht zuletzt redete man sich ein, der plötz­liche Tod Roosevelts würde die Amerikaner dazu bringen, die Allianz gegen Deutschland zu verlassen.

Der Lautsprecherlärm war noch nicht verhallt, als plötzlich eine mensch­liche Gestalt auftauchte. Sie kam direkt auf die kleine Mauer zugestolpert. Der Vogel zuckte erschrocken zusammen und flatterte davon.

Rasmus glitt mit dem rechten Fuß in einen Spalt und stieß mit dem Knie gegen ein Mäuerchen. Hastig stützte er sich ab und zerrte seinen Fuß wieder heraus. Glück­licherweise hatten die harten Lederstiefel verhindert, dass er zu stark umgeknickt war. Eine kleine Blaumeise flatterte davon. Er blickte ihr hinterher – ein Farbklecks im Grau der zerstörten Stadt. Als er weiterging, bemerkte er eine magere Perserkatze mit schmutzigem Fell, die sich hinter ein zerbrochenes Regenrohr duckte und ihn aus gelben Augen böse anstarrte.

Achselzuckend stolperte Rasmus weiter, den Schutthügel hinauf und dann auf der anderen Seite wieder hinab, immer nach Norden. Er durfte nicht zu spät kommen!

Die Geschütze donnerten noch immer unablässig. Er konnte die Vibrationen spüren. In seinen Ohren war nur ein permanentes, dumpfes Rauschen. Es verfolgte ihn, seit die Flakstellung, an der er seinen Dienst versehen sollte, an diesem Morgen einen Volltreffer abbekommen hatte.

Berlin würde fallen. Nur die Verblendeten zweifelten noch daran. Die Russen drangen von allen Seiten in die Stadt. Die Barrikaden aus Schutt und umgestürzten Straßenbahnwaggons würden sie genauso wenig aufhalten wie der sogenannte Volkssturm aus alten Männern und Hitlerjungen.

Die Welt stand in Flammen, und er fragte sich, wie aus diesen gigantischen Bergen aus Schutt und Schuld jemals wieder etwas Gutes entstehen sollte.

Rasmus taumelte. Das Denken fiel ihm schwer. Er wusste nur, dass er weitermusste, so schnell es ging, Richtung Norden zum großen Flakbunker am Humboldthain. Er kletterte über einen Trümmerberg so groß wie ein zweistöckiges Haus. Weiße Asche rieselte in Flocken auf ihn herab. Eine Erinnerung überfiel ihn, so unvermittelt wie ein Sonnenstrahl, der durch dichte Wolken dringt:

Auch damals waren weiße Flocken auf ihn herabgerieselt, kühl und sauber.

Das fröh­liche Kreischen aus hundert Kinderkehlen durchschnitt die klare Winterluft. Eingemummelt in dicke Wollmäntel tobten kleine Gestalten auf dem Kreuzberg die Pisten auf und ab.

Beinahe wie in einem Ufa-Film schienen die Bilder einem anderen Leben zu entstammen. Dabei war es nur ein paar Jahre her …

„Was soll das denn sein?“ Emmi zog die Nase kraus und kniff die Augen zusammen. Damit kopierte sie perfekt die entrüstete Miene von Fräulein Bosenbach, ihrer Gouvernante. Allerdings milderten ihre nachlässig geflochtenen blonden Zöpfe und der Kakaobart unter ihrer sommersprossigen Nase das strenge Bild.

„Das ist mein Schlitten“, erklärte Rasmus würdevoll.

„Das ist kein Schlitten, das ist ein alter Sack“, erwiderte das Mädchen und setzte sich rittlings auf ihren original Ress-Gebirgsrodel.

„Dieser nasse Sack ist ein Musterbeispiel deutscher Ingenieurskunst“, erwiderte Rasmus. Er breitete den gewachsten Segeltuchfetzen umständlich vor sich auf dem Boden aus. „Der in Leichtbauweise konstruierte, hundertprozentig bruchsichere Flachschlitten passt in jede Jackentasche und …“, er hob den Zeigefinger, „kann darüber hinaus auch noch als Schuhputzlappen verwendet werden.“ Er ließ sich umständlich auf dem Tuch nieder.

Emmi grinste auf ihn hinab. „Wetten, dass ich schneller bin? Wer zuerst den Spazierweg erreicht, hat gewonnen.“

„Wetten ist Glücksspiel!“, bemerkte Rasmus tadelnd. „Mein Vater walkt mir mit meinem hundertprozentig bruchsicheren Flachschlitten die Ohren, wenn er davon erfährt.“

„Unsinn, es geht nicht um Glück, sondern um Können!“, erwiderte Emmi.

„Meinst du?“ Rasmus warf einen Blick auf ihren nagelneuen Schlitten. Die glatt geschliffenen Kufen glänzten vom frischen Wachs.

„Oder traust du dich etwa nicht?“, bohrte Emmi nach.

„Natürlich trau ich mich!“

„Gut, wenn ich gewinne, schreibst du meine Deutsch-Hausaufgabe.“

„Und wenn ich gewinne?“

„Dann kriegst du einen Kuss.“ Ihre Augen blitzten.

„Ich glaube, du siehst zu viele Filme.“ Unwillkürlich wanderte Rasmus’ Blick zu ihren kakaoverschmierten Lippen. Er war dankbar, dass die Mütze seine sich rötenden Ohren verbarg. „Hältst du das für einen fairen Tausch?“

„Natürlich nicht“, entfuhr es Emmi. „Ich meine, was ist schon so eine lächer­liche Hausaufgabe …“ Sie wedelte graziös mit den Fingerspitzen.

„Schon gut.“ Rasmus lachte. „Abgemacht.“

Emmi grinste. „Bei drei geht es los: Eins, zwei … los.“ Sie stieß sich ab und sauste den Hügel hinunter.

Rasmus schüttelte schmunzelnd den Kopf und zog sich mit den Füßen voran, bis die Steigung stark genug war. Dann folgte er ihr in behäbigem Tempo. Die Kufen des Schlittens waren gut gewachst. Er nahm ein erschreckendes Tempo auf. Emmis scharlachroter Mantel flatterte im Wind. Dann kam eine Bodenwelle. Ihr Schlitten hob ab und krachte wieder auf den Schnee. Es gelang ihr, sich zu halten. Allerdings hatte ein Junge, der knapp vor ihr fuhr, weniger Glück. Er stürzte. Emmi versuchte auszuweichen. Ihr Schlitten kippte. Sie fiel herunter, überschlug sich ein paarmal und blieb schließlich im Schnee liegen.

„Emmi!“ Rasmus schlitterte hinterher. Er rutschte knapp an ihr vorbei und sprang auf. „Emmi?“

Sie lag im Schnee, die Arme ausgebreitet, den Blick an ihm vorbei in den Himmel gerichtet.

Rasmus kniete neben ihr nieder und rüttelte sie an der Schulter. „Emmi! Hast du dir wehgetan?“

Sie schielte zu ihm hinüber und ein breites Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. „Hast du das gesehen?! Ich bin geflogen!“

„Oh Emmi!“ Rasmus schnaubte. „Du bist unmöglich!“

„Ich weiß.“ Sie richtete sich auf und klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel. „Ich war schneller als du!“

„Kann schon sein“, erwiderte Rasmus. „Allerdings hast du es dir zwei Meter vor dem Ziel gemütlich gemacht.“

Emmi blickte überrascht auf.

„Der Spazierweg ist dort.“ Rasmus wies mit dem Daumen auf seinen achtlos liegen gelassenen Wachstuchschlitten.

„Mist!“

„Sieht so aus, als müsstest du deine Hausaufgaben alleine erledigen.“

Emmis Augen blitzten. Dann sah sie an Rasmus vorbei. „He, die drei Jungs da drüben … Sind die nicht in deiner Klasse?“

Rasmus wandte sich um. „Ja“, sagte er. Die drei trugen HJ-Uniformen und stolzierten umher, als würden sie ein ganzes Panzergeschwader kommandieren. Einer von ihnen war Klassensprecher. Er hatte Rasmus einigen Ärger eingebracht, als dieser mehrmals hintereinander die Fahnenappelle geschwänzt hatte.

„Ich glaube, die gucken gerade alle her“, bemerkte Emmi.

„Sieht so aus“, brummte Rasmus. Als er sich Emmi wieder zuwandte, stand das Mädchen ganz dicht vor ihm. Ehe er reagieren konnte, hatte sie die Arme um seinen Nacken geschlungen und gab ihm einen Kuss direkt auf den Mund – wie im Film.

Für einen kurzen Moment glaubte Rasmus erneut, ihre warmen Lippen auf den seinen zu spüren und einen Hauch von Kakao zu schmecken. Emmis unverfrorenes Verhalten hatte ihm glühend rote Ohren und ein Schuljahr lang Spott eingetragen. Es war eine seiner schönsten Erinnerungen. Ein halbes Jahr später kam es zu den ersten Luftangriffen auf Berlin. Und der Krieg, mit dem von Berlin aus halb Europa in Brand gesetzt worden war, kehrte in diese Stadt zurück.

Rasmus hatte die Kuppe des Schutthügels erreicht und senkte den Blick. Die Straße war kaum noch zu erkennen – eine ­schmale Schneise zwischen Schuttbergen und brennenden Ruinen. Halb rutschend, halb laufend hielt er darauf zu.

Eine Gruppe Fliehender kam ihm entgegen, dunkle Gestalten, bedeckt von Staub und Asche. Es waren überwiegend Frauen, ein Mann, der zu alt für den Volkssturm war, und eine Gruppe von Kindern, deren Hände zu klein für die Panzerfäuste waren. Ihre Blicke wirkten gehetzt. Als Rasmus an ihnen vorbeiwollte, hielt eine der älteren Frauen ihn auf. „Nicht da lang! Dort sind die Russen!“

Rasmus nickte. Dann drängte er sich an ihr vorbei. Kopfschüttelnd ließ sie ihn ziehen.

Er lief weiter durch den zerstörten Bezirk Wedding, immer nach Norden. Das Vorwärtskommen war mühsam. Ganze Häuserblocks standen in Flammen und ein dichter Rauchschleier lag über der Stadt. Allmählich ließ das Rauschen in seinen Ohren nach. Nun konnte er die Detonationen des Artilleriefeuers nicht nur spüren, sondern auch hören. Russische Tiefflieger donnerten vorbei. Sie flogen genau dorthin, wo er auch hinwollte, zum Humboldtbunker. Rasmus schluckte. Plötzlich sah er eine Gruppe Bewaffneter aus einer Seitenstraße rennen. Einige trugen die Uniformen der Wehrmacht. Die meisten hatten lediglich die weiße Armbinde mit der Aufschrift Deutscher Volkssturm – Wehrmacht als Erkennungszeichen. Sie verteilten sich in den Ruinen und warfen sich zu Boden. Eine Kampfeinheit der Roten Armee war ihnen auf den Fersen.

Rasmus duckte sich. Gleich darauf hörte er dumpf das Knattern von Maschinengewehren. Kugeln schlugen Löcher in die bröckelnde Fassade direkt hinter ihm. Er versuchte, im Schutz der Ruinen vorbeizurobben. Plötzlich schoss ein Arm aus einem dunklen Kellerloch. Eine raue Hand packte ihn und zog ihn nach unten. Rasmus versuchte, sich zu wehren – vergeblich. Er plumpste hinab in das schwarze Loch des Kellers. Eine Hand legte sich auf seinen Mund und ein bärtiges Gesicht erschien dicht vor seinem. Rasmus schrie auf und schlug nach dem Mann.

„Ganz ruhig, mein Junge“, sagte eine Stimme. „Ich tu dir doch nix.“

Rasmus starrte den Mann an. Im schwachen Licht, das durch das Kellerfenster fiel, konnte er einen Stahlhelm erkennen. Eine wulstige Narbe zog sich quer über die bärtige Wange des Mannes.

„Lassen Sie mich los, ich muss weiter.“

„Red keinen Unsinn!“ Der Mann zog langsam seine Hände zurück. „Wie heißt du, Junge?“

„Rasmus …“, erwiderte er widerstrebend.

„Ich bin Erwin.“ Er streckte dem Jungen die Hand entgegen und dieser ergriff sie zögernd.

Allmählich gewöhnten sich Rasmus’ Augen an das dämmrige Licht. Der Mann war Soldat der Wehrmacht. Er sah alt und müde aus. Aber das bedeutete heutzutage wenig.

„Hast du Hunger?“, fragte der Mann.

„Ich kann jetzt nichts essen. Ich muss weiter.“

„Hast du mal rausgeguckt?“, erwiderte der Soldat. „Es hagelt gerade.“ Sein Kichern wurde untermalt vom Knattern der Maschinengewehre und dem dumpfen Dröhnen der Geschütze. Dann zog er eine Büchse aus seinem Mantel und rammte sein Bajonett in den Deckel. „Es gibt Dinge, die sind es wert, dass man für sie stirbt. Allerdings sind es weit weniger, als man heutzutage annimmt.“ Sein Blick glitt ins Leere. „Und noch weniger gute Gründe gibt es zu töten …“ Er schauderte. Dann blickte er Rasmus ins Gesicht. „Also, vergiss mal für einen Augenblick alle Befehle, die man dir gegeben hat. Ich erteile dir hiermit einen neuen: Iss was Anständiges!“

Er bog den Deckel zur Seite und spießte ein Stück röt­liches Fleisch auf. „Sülze, aus meiner Heimat. Etwas Besseres gibt es nicht!“

Rasmus schluckte. „Sie verstehen mich nicht –“

„Du“, unterbrach ihn der Mann. „Lass das alberne ‚Sie‘.“

„Du verstehst mich nicht. Ich habe keine Befehle. Meine Stellung bekam einen Volltreffer ab, gerade als ich mich zum Dienst melden wollte. Es … war niemand mehr da, der mir Befehle geben konnte. Ich muss zum Bunker am Humboldthain …“

„Keine gute Idee“, erwiderte der Mann. „Hier bist du sicherer. Die Flakbunker sind die einzig nennenswerten Bastionen in der Verteidigungsfront. Die Russen werden ihre Angriffe darauf konzentrieren.“

„Das ist mir egal!“, erwiderte Rasmus trotzig. Doch das Herz wurde ihm schwer.

Der Mann betrachtete ihn von der Seite. „Flakhelfer, hm?“

Rasmus nickte. Erstaunlich, dass der Mann die Uniform unter all dem Dreck noch erkennen konnte.

„Du hast keine Waffe bei dir.“

Rasmus schnaubte und senkte den Blick.

„Ist deine Familie dort?“

Rasmus schüttelte den Kopf.

Der Mann blickte ihn an, sagte aber nichts. Stattdessen reichte er Rasmus die Konservenbüchse. „Iss!“

Rasmus griff nach kurzem Zögern zu und nahm ein paar Happen. Das Fleisch war zart und köstlich.

„Der Bunker ist bereits unter Beschuss“, sagte Erwin. „Soweit ich weiß, befinden sich dort fast nur noch Soldaten und Parteibonzen. Bist du dir sicher, dass du dort hinwillst?“

„Ja.“

Erwin nickte bedächtig. „Wenn du jetzt versuchst, bis dorthin durchzubrechen, ist das glatter Selbstmord. Warte, bis es dunkel wird.“

Rasmus gab ihm die Konservendose zurück. Er stand auf und starrte aus dem Kellerloch. Das Krachen und Knattern der Schüsse hielt mit unverminderter Heftigkeit an. „Warum hilfst du mir?“

„Warum sollte ich dich tot sehen wollen?“, erwiderte der Mann.

Rasmus warf ihm einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts.

„Heute ist doch der 30. April, oder?“, fragte Erwin nach einem Moment des Schweigens.

„Ich glaube schon, warum?“

„Dann ist heute mein Geburtstag …“

Eine Granate explodierte ganz in der Nähe. Steinsplitter schossen an der Kellerluke vorbei und Staub drang herein. Rasmus hustete. Er setzte sich, mit dem Rücken an die Kellerwand gelehnt, nieder und warf Erwin ein schiefes Grinsen zu. „Herz­lichen Glückwunsch.“

„Danke. Ich hätte einen Wunsch zum Geburtstag.“

„Ja?“, fragte Rasmus verwundert.

„Tu mir den Gefallen und leiste einem alten Mann Gesellschaft. Nur für ein paar Stunden, bis es dunkel wird.“

Rasmus drehte sich um. „Alt? Ich wette, du bist keine fünfzig.“

„Sechsundvierzig Jahre“, erwiderte Erwin. „Aber bisweilen fühle ich mich wie sechsundneunzig.“

Rasmus warf einen kurzen Blick aus dem Kellerloch. Ein Panzer rollte heran und die Volkssturmleute zogen sich einen Häuserblock weit zurück. „In Ordnung, ich bleibe, bis es dunkel wird.“

„Danke.“

Rasmus runzelte die Stirn. Was hatte der Mann davon, dass Rasmus hierblieb?

Erwin lächelte. „Wie heißt sie?“

„Wer?“

„Deine Liebste, die im Humboldt-Bunker auf dich wartet und für die du Kopf und Kragen riskierst.“

„Sie … ist nicht meine Liebste“, murmelte Rasmus. Er ärgerte sich, dass er selbst in dieser Situation noch rot wurde.

„Erzählst du mir von ihr?“

Rasmus betrachtete den bärtigen Soldaten im Halbdunkel des Kellerlochs. Der Mann kaute sein Dosenfleisch und wartete geduldig. Er war nicht sehr ansehnlich. Die wulstige Narbe verzog sein bärtiges Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Seine fleischige Nase war rotblau verfärbt und voller Aknenarben. Wenn Rasmus ehrlich war – dieser Mann war außergewöhnlich hässlich und er wirkte müde und ausgelaugt. Ein Mann, der zu viel Grausamkeit gesehen hatte. Und dennoch, etwas an ihm passte nicht ins Bild: Seine Augen hatten weder den wilden Glanz des Fanatikers noch die fatalistische Leere jener, die am Krieg zerbrochen waren. Er hatte seine Seele nicht verloren oder er hatte sie wiedergefunden.

Wie auch immer, etwas an diesem fremden Mann berührte Rasmus. „Da gibt es nichts zu erzählen“, sagte er nach einer Weile.

Der Badesee

Ungewollt kamen Bilder in Rasmus hoch. Bilder, die er vergessen wollte, obwohl sie angesichts des Krieges so harmlos schienen.

An jenem Nachmittag hatten die Sirenen ausnahmsweise geschwiegen.

„Kommst du mit an den Strand? Bitte!“

Emmis Gesicht vor dem strahlend blauen Himmel ließ Rasmus für einen Moment vergessen, dass Krieg war.

Die Sonne brannte vom Himmel herab und er musste die Augen zusammenkneifen. Emmi zog einen Schmollmund und klimperte mit den Wimpern. Aber es war nicht mehr das Gesicht eines kleinen Mädchens mit Kakaobart und kindlich vollen Wangen, das zu ihm aufschaute, es war das Gesicht einer jungen Frau.

Vieles hatte sich geändert in den letzten Jahren. Emmis Familie war nach Wilmersdorf gezogen und sie sahen sich nur selten. Als Mädelgruppenführerin war sie beim Bund Deutscher Mädel sehr aktiv. Allerdings vermutete Rasmus, dass dies eher der wichtigen Funktion ihres Vaters als eigenem politischem Interesse geschuldet war. An diesem Tag hatte sie den dunkelblauen Rock und die weiße Bluse des BDM gegen ein dünnes Sommerkleid eingetauscht. Es war ein recht kurzes und eng sitzendes Kleid. Rasmus kam nicht umhin zu bemerken, dass auch ihre Figur alles Kind­liche verloren hatte.

„Komm, sei kein Spielverderber. Lass uns für einen Tag mit ein paar Freunden den Strand genießen.“

„Freunde?“, fragte Rasmus. Die gemeinsamen Freunde aus Kindertagen hatten sie längst aus den Augen verloren.

Emmi winkte ab. „Einfach ein paar junge Leute, die den Tag genießen wollen.“

Rasmus runzelte die Stirn. Er glaubte, ein Geräusch hinter sich gehört zu haben, und warf einen Blick über die Schulter. Der Flur war leer.

„Sag deinem Vater einfach, du triffst dich mit einigen HJ-Kameradschaftsführern zu einer Besprechung.“

Rasmus grinste schief. „Das ist eine … recht unglaubwürdige Ausrede.“

„Ach, egal. Dir fällt schon etwas ein.“ Sie lächelte strahlend. „Also, was ist?“

Unwillkürlich erwiderte Rasmus das Lächeln. „Also gut …“

„Du bist ein Schatz!“ Emmi küsste ihn auf die Wange. Im nächsten Moment hatte sie sich abgewandt und schwang sich lachend auf ihr Rad.

Rasmus blickte ihr hinterher, bis sie um die Ecke verschwunden war.

Die Freunde erwiesen sich als hochrangige HJ-Führer und junge SS-Leute, auch ein paar junge Wehrmachtssoldaten waren darunter. Jemand hatte ein tragbares Grammophon mitgebracht. Und das Meistersextett schmetterte blechern: „Oh, ich glaub’, ich hab’ mich verliebt!“ Rasmus hatte die Musik besser gefallen, als die Gruppe noch Comedian Harmonists hieß und sogenannte nichtarische Künstler in ihren Reihen hatte. In Emmis Kinderzimmer hatten sie so oft „Mein kleiner grüner Kaktus gehört“, bis die Schallplatte mehr Knack- und Knirschgeräusche von sich gab als Töne.

Die frühe Abendsonne senkte sich langsam dem Horizont zu. Aber es war noch immer sehr warm. Zwei Dutzend lärmender Nazis und eine Handvoll junger Frauen belagerten den kleinen Naturstrand am Grunewaldsee.

Rasmus hatte sich selten so fehl am Platz gefühlt wie hier. Emmis Lächeln war der einzige Grund, warum er nicht sofort kehrtmachte. Sie winkte ihm zu, als er von seinem Fahrrad stieg. Die meisten der jungen Männer ignorierten ihn. Nur Franz Haberland, den er noch von der Grundschule her kannte, warf ihm einen abschätzigen Blick zu.

Emmi griff seine Hand. „Wie schön, dass du gekommen bist. Willst du ein Stück Kuchen? Wir haben auch Sekt da.“

Rasmus machte große Augen. „Wo habt ihr das denn her?“

„Es bleibt nicht ohne Lohn, wenn man blutet für Volk und Vaterland“, meldete sich ein breitschultriger junger Mann in Wehrmachtsuniform zu Wort. Er schien dem Sekt schon reichlich zugesprochen zu haben. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er griff über Emmis Schulter und fischte ein Stück Kuchen von ihrem Teller. Seine Hand streifte dabei ihre Brust. „Komm, lass uns tanzen“, flüsterte er, während er einen Arm um sie legte und sich mit der freien Hand Kuchen in den Mund stopfte. Emmi kicherte und entwand sich geschickt seinem Griff. „Später vielleicht!“

Sie hielt Rasmus den Teller hin. „Den Kirschkuchen habe ich selbst gebacken.“

Rasmus nahm ein Stück. „Danke“, murmelte er. Aber eigentlich wollte er sagen: „Emmi, was machst du hier?!“

Während er in den süßen Kuchen biss, fragte sich Rasmus, ob er die junge Frau überhaupt noch kannte. Emmi war schon immer übermütig gewesen, hatte gern gelacht und schnell Freundschaften geschlossen. Aber er hatte sie nie für einen oberfläch­lichen Menschen gehalten. Fühlte sie sich hier wirklich wohl? Er suchte in ihrem lachenden Gesicht nach einer Antwort.

„Und, schmeckt’s? Deinem Gesicht nach zu urteilen, hast du gerade auf einen Kirschkern gebissen.“

Ehe Rasmus antworten konnte, war ein schlanker SS-Mann herbeigetreten. „Bei Ihnen schmecken selbst die harten Kerne süß, Fräulein von Dahlen.“ Er legte seine Hand um Emmis Hüfte und drückte sie kurz an sich. Dann trat er vor. „Heil Hitler!“ Er streckte Rasmus die Hand hin. „Hauptscharführer Klaus-Herrmann Kramm.“

Nach kurzem Zögern ergriff Rasmus die Hand. „Rasmus …“, er stockte kurz und verschwieg seinen zweiten Vornamen, „Rasmus Eichdorff.“

Der SS-Mann runzelte die Stirn.

„Ein alter Freund“, warf Emmi rasch ein. „Darf ich Ihnen meinen Kuchen anvertrauen?“ Sie drückte Klaus-Herrmann Kramm mit einem strahlenden Lächeln den Kuchenteller in die Hand und hakte sich bei Rasmus unter. „Komm, wir spazieren ein wenig zum Wasser.“

Rasmus aß seinen Kuchen und spürte eine seltsame Mischung aus Freude und Beklommenheit, ihren Körper so dicht neben seinem zu spüren. Er hatte das Gefühl, als würde eine ungeheure Hitze von ihr ausgehen. Er schwitzte. Verstohlen betrachtete er ihr Gesicht von der Seite. Sie hatte die langen Wimpern gesenkt. Unzählige Sommersprossen zeigten sich auf ihrer kleinen, geschwungenen Nase, die sie selbst bisweilen kritisch als Stupsnase bezeichnete. Sie nagte an ihrer Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie nachdenklich war. „Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist.“

Rasmus spürte, wie seine Wangen sich röteten. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er nur stumm.

Sie blickte zu ihm auf. „Du solltest hier den deutschen Gruß nicht verweigern. Das ist nicht klug, weißt du?“

„Wo so viele Millionen ihm Heil wünschen, wird der Führer schon nicht an seiner Erbsensuppe ersticken, wenn ich mich ihnen nicht anschließe.“

Emmi warf ihm einen strengen Blick zu. Doch dann kicherte sie und drückte seinen Arm. „Ich habe dich vermisst. Schule und BDM-Heimatabende und diese ständigen Schulungen – das kann bisweilen recht dröge sein.“

„Ach, dann bin ich heute also dein Unterhaltungsprogramm?“

Sie schlug ihm mit der Hand spielerisch auf den Arm. „Sei nicht albern!“

Sie waren am See angelangt und ließen den Blick über die glitzernde Wasseroberfläche gleiten. „Ist das nicht herrlich?“, fragte Emmi. „Hier kann ich glatt vergessen, dass Krieg ist.“

Rasmus schwieg eine Weile, dann sagte er: „Morgen beginnt unsere Flakhelferausbildung.“

„Spielverderber!“, murrte Emmi. Aber sie nahm ihre Hand nicht von seinem Arm. Es fühlte sich gut an.

Eine ganze Weile schwiegen sie. Dann sagte Emmi leise: „Manchmal habe ich Angst, dass alles viel zu schnell vorbei ist. Ich will nicht von irgendeiner Bombe zerfetzt werden, bei lebendigem Leib verbrennen oder langsam in einem verschütteten Luftschutzkeller ersticken. Ich will leben. Verstehst du? Richtig leben.“

„Das will ich auch“, erwiderte Rasmus.

Emmi warf ihm einen scharfen Blick zu und wandte sich dann ab. „Du bist nicht einverstanden damit, wie ich mein Leben führe“, sagte sie leise.

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber gedacht!“

„Gehört Gedankenlesen inzwischen auch zur Grundausbildung der Mädelgruppenführerinnen?“ Rasmus grinste.

Emmi kniff die Augen zusammen und warf ihm einen bösen Blick zu. Dann entspannte sie sich und ein Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. „Du bist unmöglich.“

Ein lautes, fröh­liches Kreischen unterbrach sie. Zwei junge Mädchen in knappen Badeanzügen und ein halbes Dutzend junger Männer stürmten an ihnen vorbei und warfen sich in das kühle Wasser des Sees.

Emmis Augen blitzten. „Au ja, lass uns baden gehen!“

„Äh …“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Emmi ihr dünnes Kleid über den Kopf und hängte es über eine Astgabel. Ihr Badeanzug war noch knapper als die der anderen Mädchen. Rasmus starrte sie an.

Emmi lachte und lief rückwärts in den See. „Komm, das Wasser ist herrlich!“ Sie bückte sich und spritze ihm Wasser entgegen. Rasmus schämte sich, aber er konnte nicht anders, als ihre schlanken nackten Schenkel anzustarren und das sanfte Rund ihrer Brüste, das sich unter dem dünnen Stoff abzeichnete.

Weitere junge Männer kamen angelaufen und warfen sich jauchzend ins Wasser.

„Ich habe keine Badehose dabei“, sagte Rasmus lahm.

Einer der jungen Männer tauchte unter Wasser, schoss auf Emmi zu und packte sie an den Hüften. Emmi schrie vergnügt auf, als er sie ins Wasser warf. Sie tauchte auf und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren. „Na warte, dir zeig ich’s.“ Sie stieß mit beiden Händen gegen seine Brust, doch er taumelte nur einen Schritt und fing sich wieder. Er war muskulös wie ein Turner. Im nächsten Moment schoss er vor, packte sie an den Hüften und warf sie hoch, sodass sie erneut ins Wasser plumpste. Rasmus erkannte den Mann wieder. Es war der breitschultrige Wehrmachtssoldat, der schon vorhin seine Finger nicht von Emmi hatte lassen können. Als Emmi auftauchte, lachte sie. Sie schien ihren Spaß zu haben.

„Sieh mal, kannst du das auch?“ Der junge Mann tauchte unter und machte einen Handstand unter Wasser.

„Los, komm schon rein!“ Emmi winkte ihm zu.

Rasmus schluckte. Er fühlte sich elend.

Der Breitschultrige tauchte wieder auf. „Jetzt du!“, rief er Emmi zu.

„Du wirst staunen.“ Emmi tauchte unter und streckte grazil ihre schlanken Beine empor.

„Da staune ich wirklich!“ Der Mann lachte. In Rasmus’ Ohren klang es abscheulich. Dann packte er Emmis Knöchel und kitzelte sie an der Fußsohle. Sie zappelte, sank zur Seite und kam wenig später prustend und kichernd wieder an die Oberfläche. „He, das war unsportlich.“

„War einfach zu verlockend“, erwiderte der junge Mann. „Pass auf, wir machen einen Wettkampf: Wer länger unten bleibt, hat gewonnen.“

„Du hast keine Chance!“, entgegnete Emmi kühn.

„Das werden wir ja sehen!“

Emmi warf Rasmus einen kurzen Blick zu. „Nun sei doch nicht so wasserscheu, komm rein!“

Rasmus schüttelte langsam den Kopf. Das war nicht seine Welt. Er passte nicht hierher.

Der Mann legte besitzergreifend seinen Arm um Emmis Hüfte. Sie blickte zu ihm auf. Sie sahen aus wie ein Paar. Ein Paar, wie es sich der Propagandaminister nicht besser hätte wünschen können.

Rasmus nickte Emmi zu und wandte sich ab.

„Rasmus?“

„Ach, lass ihn doch!“, meinte der junge Mann. „Komm, wir schwimmen ein Stück weiter raus.“

Rasmus ging weiter, den Blick an den feiernden Leuten vorbei auf die Bäume gerichtet.

„Rasmus!“, hörte er noch einmal Emmis Stimme.

Er ging weiter, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Im Nachhinein hatte Rasmus sich oft gefragt, ob er nicht genauer hätte hinhören sollen, ob da nicht ein Hauch von Furcht in ihrer Stimme gelegen hatte. Nun war es zu spät.

Erwin hatte die ganze Zeit still dagesessen und Rasmus’ Schweigen nicht kommentiert. Erst jetzt rührte er sich. „Hilfst du mir mal?“ Er bückte sich nach einem Trümmerteil, das auf dem Boden lag.

Rasmus runzelte die Stirn. Dann erhob er sich und half dem Mann, das unregelmäßig geformte Mauerstück aufzuheben. Die Schießerei draußen hatte sich nach Norden verlagert. Über Schutthaufen hinweg konnte Rasmus das Kanonenrohr des russischen Schützenpanzers ausmachen, der langsam vorbeifuhr. Gemeinsam versperrten sie das Kellerloch mit dem Mauerstück und stopften die Lücken mit zerbrochenen Ziegeln aus. Die vorrückenden Russen hatten nicht zu Unrecht Angst vor Heckenschützen. Wenn jemand das Kellerloch entdeckte, war es nicht unwahrscheinlich, dass man mithilfe einiger Handgranaten sicherstellen würde, dass von dort keine Gefahr mehr drohte.

Es war beinahe stockdunkel im Raum, als sie sich wieder mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden niederließen.

„Wohnt deine Familie in Berlin?“

„Nur noch mein Vater“, erwiderte Rasmus. „Meine Schwester Hanni wurde schon vor zwei Jahren aufs Land zu meiner Tante geschickt.“

„Du nicht?“

„Ich habe hier meine Pflichten.“

„Pflichten …“, brummte Erwin. „Ein außergewöhnlich beliebtes Wort in letzter Zeit.“

„Ja.“ Rasmus schnaubte. „Vor allem in meiner Familie.“

„Warum? Ist dein Vater Offizier?“

„So etwas Ähn­liches“, erwiderte Rasmus. „Er ist Pfarrer.“

„Oh.“

Rasmus verzog das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. „Gehorsam und Pflichterfüllung, das ist es, was Gott von mir erwartet. Zumindest wurde mein Vater niemals müde, mir dies mit Worten und einem langen, biegsamen Rohrstock einzutrichtern.“

Erwin hob die Brauen „Und glaubst du, dass dein Vater Gott gut kennt?“

Rasmus zuckte die Achseln. Er wollte nicht darüber sprechen. Es wunderte ihn, dass er es überhaupt erwähnt hatte. „Woher kommst du eigentlich und wo ist deine Einheit?“, wechselte er das Thema.

Erwins leises Lachen verriet Rasmus, dass seine Worte barscher geklungen hatten, als er beabsichtigt hatte.

„Ich komme aus dem Ruhrpott“, sagte der Soldat. „Essen ist meine Heimatstadt. Viel ist von ihr nicht übrig geblieben, wie ich gehört habe.“

„Das tut mir leid. Hast du Familie dort?“

Erwin schüttelte den Kopf. „Nicht mehr.“

Rasmus ahnte, dass sich hinter diesen zwei Worten eine traurige Geschichte verbarg.

Erwin räusperte sich. „Ich war von Anfang an dabei, zuerst in Frankreich, dann in Russland … bis Stalingrad und zurück.“

„Du warst in Stalingrad?“

„Nicht ganz. Ich gehörte zum 48. Panzerkorps unter Generalleutnant Ferdinand Heim. Wir sollten die Einkesselung von Stalingrad verhindern. Unsere Panzer waren in Scheunen und Ställen versteckt gewesen. Das war, wie sich später herausstellte, keine gute Idee gewesen. Unsere schlimmsten Gegner waren nicht die Russen, sondern Ratten und Mäuse, die sich massenhaft im Stroh tummelten. Sie hatten sich nämlich durch die Verkleidung und die Kabel der Panzer gefressen. Wir hätten alle innehalten und über uns selbst lachen sollen – Freund und Feind gemeinsam. Stattdessen kam es zur Schlacht. Nur ein Bruchteil der Maschinen war einsatzbereit. Es war ein Desaster.“ Er winkte ab. „Von da an ging es nur noch zurück, immer weiter zurück nach Westen …“

Eine Detonation erschütterte das Kellerloch. Instinktiv warf Rasmus sich zu Boden. Die Erde zitterte, Steine polterten, und Staub rieselte auf ihn herab. Der schwache Lichtschimmer, der bis dahin durch den schmalen Spalt zwischen den Trümmerstücken hereingefallen war, erlosch.

Das Feuern von Panzerkanonen und Maschinengewehren klang dumpfer. Rasmus rappelte sich auf. „Erwin, ist alles in Ordnung? Bist du verletzt?“

Steine polterten, eine Wolke von Staub und feinem Sand streifte sein Gesicht und drang ihm in die Nase. Er musste niesen und hörte gleich darauf ein trockenes Husten. „Mir geht es gut“, krächzte die heisere Stimme des Soldaten. „Ich fürchte nur, dieses gierige Kellerloch hat den Rest meiner Sülze verschluckt.“ Erneut polterte es. Offenbar suchte Erwin im Schutt des Gemäuers nach seiner Dose.

Wider Willen musste Rasmus lachen. Gleich darauf ergriff ihn ein weiterer Hustenanfall. Als er wieder zu Atem kam, drang ein anderes Geräusch an sein Ohr: „Erwin, hörst du das?“

Ein seltsames Gurgeln und Rauschen mischte sich mit den fernen Kampfgeräuschen. Fast gleichzeitig spürte er, wie nasse Kälte seine Knie berührte. „Wasser!“, stieß er hervor. Vorsichtig tastete er mit den Händen über sich und fand eine Stelle, an der er sich aufrichten konnte.

„Eine Menge Wasser!“, bestätigte Erwin.

Eine Hauptwasserleitung ganz in der Nähe musste geborsten sein. Das kam immer wieder vor. Rasmus hatte von Leuten gehört, die in ihren Luftschutzkellern ertrunken waren, während über ihnen ganze Häuserzeilen in hellen Flammen standen.

„Wir müssen raus hier, und zwar schnell!“, stieß Rasmus hervor.

Er trat einen Schritt nach vorn. Wasser spritzte auf. Bildete er sich das ein oder wurde das Rauschen lauter?

„Hast du Zigaretten?“, fragte Erwin.

„Was?“

„Hast du Zigaretten dabei?“

„Du willst doch jetzt nicht etwa rauchen?“

„Ein Streichholz würde mir reichen. Meine Packung habe ich verloren.“

Rasmus fingerte in seiner Brusttasche und ärgerte sich, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Das Zündholz entflammte und warmes Licht durchbrach die Finsternis. In diesem Moment spürte er, wie das Wasser in seine Lederschuhe schwappte. Unwillkürlich senkte er den Blick. Das Licht der kleinen Flamme wurde von der stetig steigenden, gurgelnden Wasserflut widergespiegelt.

„Halt still!“, gemahnte Erwin. Sein Blick war ganz auf die Flamme konzentriert. „Komm ein wenig hier herüber.“ Rasmus folgte ihm. Der flackernde Schein der Lampe fiel auf Mauerwerk und loses Geröll. Hastig suchte Rasmus die Wände ab. Nirgendwo war der kleinste Spalt zu entdecken. Er wandte sich um. Die andere Seite des Raums lag halb in grauen Schatten verborgen. Aber sie war höchstens vier oder fünf Meter entfernt. Nirgendwo war eine Tür zu sehen. Sie waren gefangen. Die kalte Hand der Furcht griff nach seinem Herzen.

„Pass auf!“, sagte Erwin.

Im selben Moment spürte Rasmus, wie die Flamme seine Fingerkuppen verbrannte. Er ließ das Streichholz fallen und es erlosch im stetig steigenden Wasser.

„Hast du noch mehr?“, fragte Erwin.

„Ja“, keuchte Rasmus. Mit zitternden Händen fingerte er an der Streichholzschachtel. Eines der Hölzchen entglitt seinen Fingern. „Verdammt!“

„He.“ Eine Hand legte sich beruhigend auf seine Schulter. „Du musst keine Wunder vollbringen. Für den Augenblick reicht es, wenn du ein Streichholz anzündest.“ Erwins Stimme war frei von Ironie.

Rasmus nickte, obwohl der andere ihn in der Dunkelheit nicht zu sehen vermochte. Er atmete tief ein, fischte ein neues Streichholz hervor und ließ es aufflammen.

„Gut!“, sagte Erwin. „Wir gehen jetzt die Wand ab, ganz langsam. Halte die Flamme so ruhig wie möglich. Achte darauf, wann sie zu flackern beginnt.“

Rasmus verstand, worauf der andere hinauswollte. Behutsam, Schritt für Schritt ging Rasmus die Wände ihres Gefängnisses ab. Die Flamme blieb reglos, bis sie erlosch. Rasmus entzündete ein weiteres Hölzchen. Das kalte Wasser wanderte über seine Knöchel und stieg langsam seine Waden empor. Wenn sich der Raum mit gleichbleibender Geschwindigkeit füllte, würde ihnen binnen einer halben Stunde keine Luft zum Atmen mehr bleiben.

Die Hälfte des Raums hatten sie umrundet, als auch das dritte Streichholz erlosch.

„Wie viele hast du noch?“

„Zwei“, Rasmus schluckte nervös.

„Das ist auf jeden Fall besser als eins“, bemerkte Erwin.

„Langsam ahne ich, wie du von Stalingrad bis jetzt überleben konntest.“ Flackernd erwachte die nächste kleine Flamme zum Leben. Rasmus schritt die Wand weiter ab und spürte, wie sich der Stoff an seinen Kniekehlen voll Wasser sog. Die Flamme flackerte. Er hielt den Atem an, musste aber gleich darauf feststellen, dass er sich wohl lediglich zu schnell bewegt hatte, denn nun brannte sie wieder ganz ruhig. „Oh nein!“, flüsterte er. Er wollte nicht sterben, nicht jetzt, nicht bevor er diesen Bunker erreicht hatte.

Das Zündholz erlosch.

Noch eines blieb ihnen. Rasmus zwang sich, seine Hände ruhig zu halten. Licht flackerte ein weiteres Mal auf. Weiter, Schritt für Schritt. Ein warmer Schimmer fiel auf Schutt und Geröll. Vom eigent­lichen Mauerwerk war nichts zu erkennen. Es wirkte beinahe so, als würden sie in dunkler Nacht in einem Bombenkrater sitzen. Da! Ein Flackern! Rasmus verharrte, die Flamme beruhigte sich wieder, fraß sich langsam das Streichholz entlang. Da war doch kein Windzug gewesen. Er ging weiter, stieß mit dem Fuß gegen einen Stein und wäre fast gestürzt. Ruhig!, befahl er sich selbst. Bleib ganz ruhig.

Er bewegte sich noch langsamer durch das Wasser, das inzwischen seinen Oberschenkel erreicht hatte. Die Flamme berührte fast seine Fingerkuppen. Er wechselte die Hand und hielt das Streichholz nun an der dünnen, verkohlten Seite. Die Flamme bewegte sich. Wurde sie zur Wand hingezogen? Er blieb stehen. Die Flamme wurde kleiner. Er hielt sie dichter an den Schutthaufen, suchte eine Lücke im Geröll. Das goldene Schimmern wurde dünner. Die Flamme zuckte noch einmal und mit dem letzten, roten Glimmen erlosch sie und mit ihr auch die Hoffnung in Rasmus!

Erwin sagte etwas, doch Rasmus hörte nicht darauf. Die Finsternis des Kellerlochs drückte ihn nieder, drang in ihn und ließ jede Regung in ihm erstarren. Es plätscherte. Er spürte, wie die Kälte seine Beine emporkroch. Inzwischen hatte das Wasser seine Hüften erreicht. Zu spät! Der düstere Triumph, mit dem diese Worte in ihm widerhallten, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Aus der Dunkelheit drang ein angestrengtes Keuchen. Dann klatschte etwas ins Wasser und kalte Tropfen sprühten in sein Gesicht. „Was machst du da?“, fragte Rasmus tonlos in die kalte Finsternis hinein.

„Weißt du, was Hoffnung ist?“ Erwin schnaufte angestrengt.

„Ich glaube, ich habe es verlernt.“

„Hoffnung ist Arbeit“, erwiderte der Soldat. „Komm, fass mit an!“