KAPITEL 4

Eine neue Fährte

Die fünf Herren und die alte Dame saßen schweigend zu Tisch. Kurz zuvor hatte Alfons einen Brief vorgelesen. Darin schrieb Emile Magoubi aus Beirut, dass er trotz aller Nachforschungen nichts über Michael Schicksal erfahren habe und man leider davon ausgehen müsse, dass er tot sei.

Es war ein trüber verschneiter Januartag; Oberstudienrat Braun feierte seinen einundachtzigsten Geburtstag. Die Stimmung in der altmodisch-düsteren Atmosphäre des Esszimmers war ohnedies sehr gedrückt. Der Inhalt des Briefes hatte die Runde noch betroffener gemacht.

Dabei hatte Frau Braun sich wieder so viel Mühe gegeben, die Feier angenehm zu gestalten. Schon eine Woche vor dem Geburtstagsfest hatte sie mit den Vorbereitungen begonnen. Es gab wie immer selbstgebackenen Kuchen, und zum Abendessen hatte sie »Verheiratete«, ein Kartoffel- und Mehlklößegemisch mit Specksoße, gerichtet.

»Er ist nie ein guter Schüler gewesen«, unterbrach Herr Braun nach einiger Zeit die Stille. »Doch er hat seine Fähigkeiten ge­nutzt und daraus eine Meisterschaft entwickelt. Man wird lange suchen müssen, bis man wieder einen Fotografen seines Formats findet. Es ist für mich, als wenn ich einen nahen Angehörigen verloren hätte. Hoffmann, Lauer, war es denn unbedingt notwendig, dass Sie in den Libanon gefahren sind? Sie hätten doch aus Zeitung und Fernsehen wissen müssen, dass dort Krieg geführt wird. Wegen eines dummen, kleinen Mädchens haben Sie Ihr Leben aufs Spiel gesetzt.«

»Sie war Michaels Freundin. Er wollte sie heiraten«, behauptete Manfred.

»Ach was«, antwortete der Lehrer streng. »Sie war eine ungezogene, verkommene Göre. Jeder, der ihr Drogen oder Geld gab, konnte sie haben. Ich kenne diese Sorte. Sie brauchen nichts zu beschönigen.«

Der Lehrer blickte von seinem Teller auf und schaute mit ernster Miene um sich. – Jetzt kommen wieder die gefürchteten Fragen, dachten die ehemaligen Schüler. Keiner von ihnen hatte einen Erfolg vorzuweisen. Manfreds neue Habilitationsschrift war immer noch nicht abgeschlossen, die Ehe von Alfons ge­schieden und Wolframs Bewerbung bei der Bundesanwaltschaft abgelehnt worden. Auch Karl-Georg, der so behutsam an seiner politischen Karriere bastelte, hatte innerparteiliche Gegner be­kommen und seinen Platz auf der Landesliste der Kandidaten für den Bundestag nur in einer Kampfabstimmung behaupten können.

Als sie sich wie gewohnt zur Vorbereitung der Geburtstagsfeier in dem Landgasthof auf den Spicherer Höhen getroffen hatten, waren sie übereingekommen, dem alten Lehrer nicht die Wahrheit zu sagen, um ihn nicht zu enttäuschen.

»Wie ist es denn mit Ihnen, Hoffmann«, fragte Braun. – »Ha­ben Sie immer noch das Verhältnis mit dieser Krankenschwester?«

»Nein, Herr Oberstudienrat.«

»Haben Sie die Dame entlassen?«

»Nein. Sie ist eine hervorragende Mitarbeiterin. Außerdem ist es heute nicht mehr so ohne weiteres möglich, jemandem zu kündigen. Das verbietet das Gesetz.«

»Und was ist mit Ihrer Frau? Haben Sie das wieder in Ordnung gebracht?«

»Beate hat die Möglichkeit bekommen, eine Doktorarbeit zu schreiben. So lange wird sie noch bei ihren Eltern in Berlin bleiben. Wir haben vereinbart, dass wir erst wieder zusammenziehen, wenn sie ihren Doktor und ich meine Habilitation habe.«

»Eine Frau muss sich um ihren Mann kümmern. Ich verstehe nicht, dass Sie da nachgegeben haben, Hoffmann. Sie müssen auch nach außen deutlich machen, dass Ihre Amouren mit der Krankenschwester zu Ende sind. Diese Sache hat Ihrem Ruf geschadet und Ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht genutzt. Seit vier Jahren sitzen Sie jetzt an Ihrer zweiten Habilitationsschrift. Finden Sie nicht, dass es langsam Zeit wäre, das Ergebnis vorzulegen? Stattdessen fahren Sie in den Libanon. Ich kann Sie nicht verstehen.«

»Die Arbeit wird in spätestens zwei Monaten vorliegen. Sie braucht nur noch ins Reine geschrieben zu werden.«

Braun hob die Augenbrauen: »Wir wollen es hoffen. Ich werde mir erlauben, Sie in zwei Monaten deswegen anzurufen.«

»Das können Sie gewiss tun.«

»Und wie ist es mit Ihnen, Lauer?«

»Alles in Ordnung, Herr Oberstudienrat. Die Familie ist ge­sund, mein Ältester macht in diesem Jahr sein Abitur.«

»Sie bereiten mir Sorgen. Ihr Gesicht ist blass und geschwollen. Der Aufenthalt in den Tropen scheint Ihnen nicht zu be­kommen. Waren Sie mal beim Arzt?«

»Ja. Es sind die Nachwirkungen einer Leberinfektion. Ich habe in Djibouti einen Virus eingefangen. Wir haben dort eine Meerwasserentsalzungsanlage gebaut, die hunderttausend Men­schen von der Gefahr des Verdurstens befreit hat.«

»Sehr schön. Doch diese Arbeit sollen jetzt mal andere tun. Haben Sie Ihrer Firma mitgeteilt, dass Sie in die Generaldirektion wollen?«

»Ja, das ist geschehen. Die Verhandlungen laufen noch.«

»Sie sind ein fähiger Ingenieur. Doch Sie müssen lernen, sich besser durchzusetzen. Sie lassen sich nun schon lange genug hinhalten.«

»Da tun Sie mir unrecht! Projekte, die unter meiner Leitung begonnen wurden, muss ich erst einmal zu Ende führen, ehe ich in die Zentrale des Konzerns überwechseln kann.«

»Und wie ist es mit Ihnen, Hardfüßer?«

»Ich habe mich entschlossen, in Bonn zu bleiben. Meine Fa­milie will nicht von dort weg.«

Braun schüttelte den Kopf. »Meine Herren, Sie enttäuschen mich sehr. Sie werden in diesem Jahr sechsundvierzig Jahre alt. Sehr viel Zeit bleibt Ihnen nicht mehr.«

»In fünf Jahren wird unser Generalstaatsanwalt pensioniert. Ich habe gute Aussichten, sein Nachfolger zu werden«, ergänzte Wolfram.

»Sie denken wohl: In fünf Jahren lebt der alte Braun nicht mehr. Da kann er das nicht mehr nachprüfen. Hardfüßer, glauben Sie nicht, dass ich Sie nicht durchschaue.«

»Was ist eigentlich mit unserem Freund Melchior?«, warf nun Karl-Georg ein, um von dem für sie alle unangenehmen Thema abzulenken.

»Er sitzt in Marseille oder Paris und lacht sich halbtot über uns«, sagte Alfons. »So viel wissen wir heute über ihn, dass er ein internationaler Waffenhändler ist.«

»Kann man dem Burschen nicht endlich sein schmutziges Handwerk legen?«, fragte Braun.

»Das dürfte nicht so einfach sein«, antwortete Manfred. »Waffenhandel ist für sich gesehen nicht strafbar. Ich befürchte jedoch, dass Melchior auch einer der ganz Großen im Drogenhandel ist. Als wir im Libanon waren, hat er mit Omar Schugluf Verhandlungen geführt. Und von Omar wird gesagt, dass die Währung, mit der er bezahlt, harte Drogen sind.«

»Mir ist im Nachhinein eine merkwürdige Begebenheit wieder eingefallen«, ergänzte Alfons. »Als ich in Melchiors Hotel in Marseille war, konnte ich hören, wie die junge Wirtin mit ihm telefonierte. Dabei war die Rede von einem Paket, das erwartet wurde. Am Abend kam dann jemand ins Restaurant, brachte ein großes Paket und stellte es vor uns auf den Tisch. Es war fest verschnürt, und Adresse und Absender waren unleserlich. Es fiel mir auf, dass es ein wenig nach Essig roch. Damals habe ich mir nichts Besonderes dabei gedacht. Inzwischen habe ich eine schreckliche Vermutung.«

»Welche?«

»Es könnte sich um Essigsäure gehandelt haben.«

»Wozu dient sie?«

»Unter anderem zur Herstellung von Heroin! Ich bin mittlerweile überzeugt, dass es Essigsäure war. Melchiors Legionskame­rad war richtig verlegen, als das Paket plötzlich vor uns stand. Er redete sich damit heraus, dass es Salatessig für die Küche sei Doch soviel, wie in dem Paket war, können sie dort im ganzen Jahr nicht aufbrauchen. Nein, nein, das war eindeutig kein normaler Essig, sondern Essigsäure für die Giftküche.«

»Dagegen spricht, dass die großen Drogenhändler das Heroin normalerweise nicht selbst herstellen«, wandte Manfred ein.

»Das Paket muss ja nicht für Melchior persönlich bestimmt gewesen sein. Ich hatte den Eindruck, dass er in Marseille eine Menge Helfer hat. Einer hat mir sogar gedroht, falls ich mich weiter nach Melchior erkundigen würde. Melchior braucht sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen. Das besorgen an­dere für ihn.«

»Können Sie denn da nicht einmal tätig werden, Hardfüßer?«, fragte der Oberstudienrat.

»Ich habe schon etwas unternommen«, antwortete Wolfram und schaute mit einem zynischen Lächeln in die Runde. »Wie Sie wissen, ist mir vor drei Jahren der Fall ›Rainstaller‹ von der Bundesanwaltschaft entzogen worden. Damals hat mir unser Leitender Oberstaatsanwalt Andeutungen darüber gemacht, dass auch Klaus Melchior in die Angelegenheit verwickelt war. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Vor einigen Monaten bekam ich einen neuen Fall auf den Tisch. Es war in das Haus eingebrochen worden, das seinerzeit von einem Komplizen der irischen Attentäter gemietet worden war. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um einen normalen Einbruchsdiebstahl. Doch ich habe die Sache zum Anlass genommen, die Akte ›Rainstaller‹ als Beweismittel hinzuziehen zu lassen.«

Wolfram zog ein Papier aus seiner Seitentasche und fuhr fort:

»Jetzt verrate ich Ihnen ein Dienstgeheimnis. Doch ich gehe davon aus, dass Sie es für sich behalten. In den Ermittlungen, die damals von der Polizei geführt wurden, tauchte auch der Name eines Zeugen Müller auf. Er hatte zur Zeit des Anschlags neben dem Waffenhändler Rainstaller gesessen und war nur leicht verletzt worden. Dieser Zeuge ist inzwischen von der Bundesanwaltschaft vernommen worden. Es handelt sich um einen internationalen Industrie- und Geschäftsmakler, der in der Nähe von Bonn wohnt. Er hatte nach eigenen Angaben mit dem Fall nichts zu tun. Doch er hat ein paar andere Aussagen gemacht, die für mich sehr interessant waren. Leider darf ich über den Inhalt nichts mitteilen. Sonst würde ich mich selbst strafbar machen. Eines jedoch will ich Ihnen zeigen, nämlich die Unterschrift des Zeugen unter dem Vernehmungsprotokoll. Ich habe eine Fotokopie davon mitgebracht. Hier, sehen Sie sich das an: Das heißt nicht Müller, sondern eindeutig Melchior. Den vernehmenden Beamten konnte das nicht auffallen. Es ist eine eigenwillige Unterschrift und könnte zur Not auch für Müller gelten. Doch da mir gesagt worden war, dass Melchior mit der Sache zu tun hatte, habe ich etwas genauer hingesehen.«

Das Papier machte die Runde. »Kein Zweifel – das heißt Melchior«, meinte Alfons. Alle anderen bestätigten es.

»Ich kann mich an seine Schrift erinnern«, versicherte Oberstudienrat Braun.

»Sehen Sie, daher war es bisher nicht möglich, auf seine Spur zu kommen, und deshalb hat er sich auch auf Mallorca vor Manfred verleugnet. Er führt ein Doppelleben: in Frankreich als Melchior und in Deutschland als Müller. Nach der Vernehmung hat er dann in alter Gewohnheit mit seinem alten Namen unterzeichnet.«

»Woher wusste denn Dein Vorgesetzter, dass Klaus Melchior mit dem Fall zu tun hatte, wenn in den Akten nur der Name Müller auftaucht«, fragte Karl-Georg.

»Ich habe ihn später danach gefragt, doch er konnte sich angeblich nicht mehr erinnern. Vielleicht hat Melchior bei ihm angerufen. In den Zeitungen war ja zu lesen, dass Staatsanwalt Hardfüßer den Fall Rainstaller übernommen hatte.«

Manfred hob den Zeigefinger. »Kurz bevor Korbian ermordet wurde, hat er gesagt: ›Sie brauchen nicht im Ausland nach den Hintermännern des Heroinhandels zu suchen. Es gibt in Deutschland einen ganz Großen. Er hat sich geschickt getarnt. Auch von mir werden Sie nie seinen Namen hören.‹ Es war dann ein merkwürdiger Zufall, dass Korbian genau in dem Mo­ment ermordet wurde, als ich ihn nach Melchior gefragt habe.«

»Es ist nicht zu fassen«, warf der Oberstudienrat ein. Seine Wangen hatten sich gerötet. »Was ist das für ein Staat, in dem wir leben? Die älteren Bürger trauen sich abends nicht mehr auf die Straße, aber die Verbrecher laufen frei herum und machen noch Geschäfte.«

»Könnt ihr euch noch an Diethelm Wühle erinnern?«, fragte Manfred seine Schulkameraden. »Er war es, der uns als Studenten nachspioniert und Karl-Georg und mich an die französische Geheimpolizei verraten hatte.«

»Und ob wir den noch kennen!«

»Er hat mich vor einigen Jahren nach Melchior gefragt und mir seine Telefonnummer zurückgelassen. Obwohl ich ihn über­aus unsympathisch finde, halte ich es für richtig, ihn zu informieren. Er wird staunen.«

Diethelm Wühle staunte. Er hatte sein freundlich-breites Be­grüßungsgrinsen abgelegt und sagte: »Und das alles erzählen Sie mir erst jetzt?«

»Warum hätte ich Sie früher informieren sollen? Die Angelegenheit war ja auch für mich sehr lange unklar. Das, was ich Ihnen erzählt habe, ist das Ergebnis einer langen Kette von Erlebnissen und Informationen. Erst vor kurzer Zeit ist mir der Zusammenhang endgültig deutlich geworden.«

Wühle schüttelte den Kopf und grinste wieder freundlich. »An Ihnen ist ein Detektiv verloren gegangen. Nie hätte ich mir vorstellen können, welche Folgen mein Besuch vor vier Jahren bei Ihnen auslösen würde. Ich werde meiner Dienststelle eingehend darüber berichten. Unser größtes Problem ist, dass die Bevölkerung unsere Arbeit zu wenig unterstützt. Sonst wären wir schon viel weiter.«

»Wie weit?«

Diethelm Wühle stutzte und sagte dann: »Beispielsweise hätten wir den Terrorismus längst besiegt!«

»Und wie ist es mit dem Linksextremismus?«

Wühle lächelte wieder freundlich, doch seine Augen schauten dabei lauernd. Er hat Augen wie Klaus Melchior, dachte Manfred, wie ein Bussard, der nach Beute spät.

Wühle beugte sich vor, als ob er Manfred ein Geheimnis anvertrauen wolle. »Haben Sie das Ergebnis der letzten Bundestagswahl genau verfolgt? Nur zweiundsiebzigtausend Stimmen für die Kommunisten, nicht einmal ein halbes Prozent!«

»Und das verdanken wir Ihnen und Ihrer Arbeit?«

»Auch uns«, antwortete Wühle spitz. »Ich kenne Sie und weiß, dass Sie dieses Problem verniedlichen. Mir ist es sehr ernst damit. Ich erlebe jeden Tag Beispiele von ›nützlichen Idioten‹ und Leuten, die sich aus Dummheit vor den Karren des Linksextremismus spannen lassen.«

»Das will ich ja nicht bestreiten. Ich bin nur der Meinung, dass Sie persönlich des Guten ein wenig zu viel tun.«

Wühle warf sich in die Brust: »Ich werde nicht eher ruhen, bis der Kommunismus besiegt ist.«

»Meine Großmutter hat jeden als Kommunisten bezeichnet, der nicht regelmäßig zur Kirche ging. Ich glaube, da kommt noch ein weites Feld auf Sie zu!«

Wühle winkte ärgerlich ab. »Was soll ich mich mit Ihnen streiten. Es sind andere, denen ich zur Rechenschaft verpflichtet bin.« Er stand auf und holte seinen Mantel von der Garderobe. »Sie scheinen mir noch immer die Sache damals an der Universität zu verübeln. Wäre es nicht an der Zeit, sie endlich zu vergessen?«

»Ich möchte gerne. Doch ich werde immer wieder daran erinnert, wenn Sie mir gegenübersitzen.«

Wühle lächelte säuerlich. »Na ja, immerhin haben Sie mir ein paar interessante Informationen gegeben. Der Drogenhandel ist wirklich ein abscheuliches Verbrechen, das wir bekämpfen müssen. Erinnern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Da­mals waren Sie gerade von Mallorca gekommen. Nach unseren Informationen ist im Hotel ›Club Baleares‹ für die erste Maihälfte ein neuer Coup geplant. Es werden sich einige alte Be­kannte treffen.«

»Wird von Ihrer Seite aus wieder Herr Gerster mit seinem Time-Magazin dabei sein?«

»Sie halten uns wohl für blöde!« Er verließ seinen Gastgeber ohne Abschiedsgruß.

Tot in Galilea

»Darf ich Sie zu einer älteren Dame an den Tisch setzen, Se­ñor?« fragte der Oberkellner höflich.

»Gerne. Ich mag ältere Damen sehr.«

Frau Nöthen, die Tischnachbarin, war eine reizende Frau. Sie arbeitete als Krankenschwester in einem Hamburger Krankenhaus und stand ein Jahr vor ihrer Pensionierung.

»Wenn es soweit ist, werde ich nur noch reisen«, sagte sie. »Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen. Meine Kinder sind versorgt, und mein Mann hat mir eine gute Rente hinterlassen. Im nächsten Jahr werde ich zunächst einmal nach Nordamerika fahren.«

Manfred nickte freundlich. »Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Unternehmungsgeist. Ich wollte, ich hätte auch schon mehr von der Welt gesehen. Doch für einen richtigen Urlaub fehlt mir meistens die Zeit. Diesmal zum Beispiel muss ich an einer Arbeit schreiben. Sie sollte schon längst fertig sein. Ich hoffe, dass ich hier ein bisschen Ruhe finde, um sie endlich zu vollenden.«

Die beiden saßen im Restaurant des Hotels »Club Baleares«, in der Nähe von Palma de Mallorca. Es war der zweite Mai, und Manfred hätte nicht gerne zugeben wollen, was ihn eigentlich hierher geführt hatte.

»Ich muss ein wenig ausspannen und Abstand gewinnen«, hatte er seinem Kollegen Dr. Schwaiger mitgeteilt. Doch noch während er es sagte, hatte er in Gedanken die Stimme Diethelm Wühles gehört:

»Für die erste Maihälfte ist im Hotel ›Club Baleares‹ ein neuer Coup geplant. Es werden sich dort einige alte Bekannte treffen.« Das hatte ihm keine Ruhe gelassen. Während er zum Vorspeisenbüffet ging, schaute er verstohlen über die Tischreihe. Weder Klaus Melchior noch Omar Schugluf noch ein anderes bekanntes Gesicht konnte er entdecken. Auch als er nach dem Essen durch die Räume der Bar ging, fiel ihm niemand auf.

Der Monat hat ja auch gerade erst begonnen, dachte er und setzte sich zu Frau Nöthen an einen Clubtisch. Sie hatte ihn zum Patiencespiel eingeladen.

»Junger Mann, Sie spielen sehr unkonzentriert«, sagte sie nach einer Weile. »Andauernd schauen Sie nach irgendetwas aus. Erwarten Sie noch jemanden?«

Manfred errötete. »Nein, ich habe mich noch nicht richtig auf den Urlaub eingestimmt. In Gedanken bin ich immer noch in meiner Praxis und warte auf den nächsten Patienten.«

»Sie müssen auf sich Acht geben, junger Mann. Wenn der be­rufliche Stress Sie schon bis hierher verfolgt, ist dies ein Alarmzeichen. Sie tun mir leid. Man muss lernen, vom Alltag abzuschalten. Ich habe in meinem Leben nie mehr gearbeitet, als ich unbedingt musste. Andere haben mich deswegen getadelt. Sie haben ihre Ruhe inzwischen auf dem Friedhof gefunden.«

Manfred lächelte. Er ließ sich nun nicht mehr vom Spiel ab­lenken und gewann die Partie sehr zum Ärger seiner Partnerin.

Die folgenden Tage gingen vorüber, ohne dass sich etwas Be­sonderes ereignete. Manfred mietete sich einen Fiat Panda und unternahm zusammen mit Frau Nöthen Ausflüge über die Insel. Seine Begleiterin bestimmte die Reiseziele. Sie hatte ihre Vorlieben: die Perlenstadt Manacor, die Lederindustrie von Inca und die Klosterzelle in Valldemosa, in der Chopin und George Sand einige Wintermonate zusammen verbracht hatten. Sie besuchten die berühmte Glasbläserei Gordiola in Algaida und sahen zu, wie Meister Pepin mit viel Geduld zwei Lehrjungen in die Glasmacherkunst einwies. Ihr wichtigstes Anliegen sah Frau Nöthen jedoch darin, ihren Reisegefährten von seinem beruflichen Stress abzulenken. »Vergessen Sie mal Ihre Arbeit und spannen Sie aus«, wiederholte sie immer wieder. So blieb auch die Habilitationsschrift unberührt liegen.

Nach einer Woche hatte Manfred den bösen Verdacht, dass Diethelm Wühle ihn absichtlich hereingelegt hatte. Er ging zur Rezeption und sagte: »Eigentlich hatte ich in diesen Tagen ein paar Bekannte hier erwartet. Können Sie mir sagen, ob sich ein Herr Melchior aus Frankreich, ein Herr Klaus Müller aus Deutschland oder ein Herr Omar Schugluf aus dem Libanon hier angemeldet haben?«

Der freundliche Portier schaute in seiner Kartei nach und schüttelte dann den Kopf.

»Schade, ich hätte sie so gerne wieder gesehen.« Manfreds Enttäuschung war ihm anzumerken.

»Welches ist Ihre Zimmernummer bitte?«, fragte der Portier.

»Einhundertdrei.«

»Dr. Hoffmann? Sie sind heute Vormittag angerufen worden. Aber wir konnten Sie nicht erreichen; Sie waren unterwegs. Der Anrufer hat eine Nachricht hinterlassen. Hier, ich hoffe, Sie können meine Schrift lesen.«

Ich erwarte Sie um siebzehn Uhr im Cafe Eolo in Galilea. Bitte kommen Sie. Es ist dringend! Emile Magoubi.

Manfred überlegte. An Emile hatte er jetzt am wenigsten ge­dacht. »Hat der Herr am Telefon deutsch gesprochen?«

»Zunächst französisch, danach hat er mir die Nachricht in deutscher Sprache diktiert.«

Hoffentlich ist das kein Trick oder sogar eine Falle. Manfred biss sich auf die Unterlippe. Seitdem er Korbians Ränkespiel entlarvt hatte, war er misstrauisch geworden. Außer Frau Nö­then kannte er niemanden im Hotel, dem er sich hätte anvertrauen können. Frau Nöthen hatte sich jedoch den ganzen Tag über noch nicht blicken lassen. Am liebsten hätte er Alfons angerufen. Doch der reiste seit seiner Scheidung noch mehr als bisher für seine Firma durch die Welt.

Er ließ sich eine Telefonverbindung geben und wählte die Nummer seiner Praxis in Saarbrücken.

»Herr Dr. Schwaiger? Könnten Sie mich heute gegen siebzehn Uhr fünfzehn im Café Eolo in Galilea auf Mallorca anrufen? Ich habe nämlich eine Einladung in dieses Café bekommen. Angeblich will sich ein gewisser Emile Magoubi mit mir treffen. Herr Magoubi war unser Führer im Libanon ...«

»Es ist gut, dass Sie sich melden. Vor ein paar Tagen hat Ihr Schulfreund Alfons Lauer hier angerufen und nach Ihnen ge­fragt. Er wollte Ihnen mitteilen, dass Herr Magoubi eine wichti­ge Nachricht für Sie hätte. Ich habe Herrn Lauer geantwortet, dass er Sie auf Mallorca im Hotel ›Club Baleares‹ erreichen ­könne.«

»Dann wird Emile meine Adresse von ihm erfahren haben. Das erklärt manches. Ich hatte schon den Verdacht, dass man mir eine Falle stellen wollte. Seit meinem Libanon-Aufenthalt bin ich sehr vorsichtig geworden. Rufen Sie zur Sicherheit trotzdem im Café Eolo an. Wenn ich um siebzehn Uhr fünfzehn nicht dort eingetroffen sein sollte, verständigen Sie bitte sofort Diethelm Wühle. Seine Telefonnummer finden Sie in der Kartei, die auf meinem Schreibtisch steht.«

Warum ist Emile nicht zu mir ins Hotel gekommen und bestellt mich stattdessen in ein kleines Bergdorf, fragte Manfred sich. Er war noch nie vorher in Galilea gewesen. In seinem Mietauto studierte er eingehend die Straßenkarte. Das Dörfchen lag einsam auf einer Anhöhe zu Füßen des Galatzo. Frau Nöthen hatte den Ort schon einmal besucht und ihm von seiner ro­man­tischen Lage und dem herrlichen Meerblick vorgeschwärmt. Das Dorf lag nur ein kurzes Wegstück abseits einer Landstraße, und diese Landstraße war über mehrere Zubringer zu erreichen.

Manfred fuhr erst ein Stück in die Gegenrichtung nach Palma. Er hatte im Libanon gelernt, Vorsichtsmaßregeln anzuwenden. Als er den Eindruck hatte, dass niemand ihm folgte, drehte er und schlug einen Umweg ein, der über Andraitx und Capdella nach Galilea führte. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel. Es war kein Verfolger auszumachen.

Auf der kurvenreichen und unübersichtlichen Strecke von Andraitx nach Capdella bekam er Angst. Wenn ihm hier je­mand auflauerte? Er fuhr an steil abfallenden Hängen vorbei, die frei von der Straße weg viele Meter in den Abgrund führten. Da war es leicht, jemanden von der Fahrbahn abzudrängen und einen Unfall vorzutäuschen. Die schweren Gesteinsbrocken, die überall an den Hängen lagen, und die Nadelbäume, die auf diesen Steinen zu wachsen schienen, bildeten da­rüber hinaus ein gutes Versteck für mögliche Attentäter. Der Himmel war verhangen und das Wetter unfreundlich, doch ihm lief der Schweiß aus allen Poren.

Vor jeder Kurve dachte er, dass die letzten Sekunden seines Lebens angebrochen sein könnten. Wenn er die Kurve heil hinter sich gebracht hatte, verfluchte er sich selbst, dass er nicht in seinem Hotel geblieben war. Dann versuchte er, sich selbst wieder Mut zu machen. Es war schließlich nichts Ungewöhnliches, jemanden in ein Café zu bestellen, und Alfons hatte ihm ja ausrichten lassen, dass Emile eine wichtige Mitteilung für ihn habe.

Ein paar Autos kamen ihm entgegen. Einige Male schreckte Manfred auf, doch alle fuhren behutsam am Straßenrand und achteten darauf, ihn nicht zu gefährden.

Kurz vor siebzehn Uhr traf er in Galilea ein. Das bizarre, terrassenförmig angelegte Dörfchen lag freundlich da und machte nicht den Eindruck eines Verbrechernests. Auf einer Anhöhe, vor der Kirche, konnte er ein Haus aus rötlichem Stein sehen, an dessen Eckmauer das Schild hing: Café Eolo. Er fuhr in den Ort hinein und parkte den Panda an der Plaza Pere J.Palmer Llenas. Von dort war es nur ein kurzer Weg zum Café.

Manfred trat ein und ging durch den Vorraum zur Caféterrasse. Emile Magoubi war nicht zu sehen. Außer einem jungen Pärchen gab es keine weiteren Gäste. Manfred setzte sich an ein Terrassenfenster und bestellte einen Tee. Von seinem Platz aus konnte er den gegenüberliegenden anmutigen Berg Bauza und die Buchten von Paguera und Palma Nova sehen. Wie herrlich muss es hier sein, wenn das Wetter schön ist und man sich nicht um sein Leben sorgen muss, dachte er. Als der Kellner ihm den Tee brachte, fragte er ihn in französischer Sprache, ob Herr Magoubi schon eingetroffen sei. Der Kellner schüttelte den Kopf. Manfred gestikulierte und zeigte auf seine Armbanduhr. »Verstehen Sie mich? Ich erwarte hier einen Herrn Emile Ma­goubi aus dem Libanon. Wir sind für siebzehn Uhr verabredet. War er schon hier, oder hat er eine Nachricht hinterlassen?«

Der Kellner schüttelte wieder nur den Kopf. Manfred schaute auf die Uhr. Es war inzwischen siebzehn Uhr fünfzehn. Wenige Minuten später hörte er, wie im Eingangsraum das Telefon läutete.

Der Kellner kam und bat ihn an den Apparat.

»Hier Schwaiger, ich sollte Sie anrufen. Ist alles in Ordnung?«

»Nicht ganz. Emile Magoubi ist nicht hier. Er hat auch keine Nachricht hinterlassen.«

Dr. Schwaigers Antwort kam stockend. Er hatte offenbar Probleme, das auszudrücken, was er dachte. »Sie sollten sich nicht darüber ärgern ... nutzen Sie die Tage, um sich zu erholen. Sie haben es verdient. Die Habilitation, die Patienten, das Libanon-Abenteuer – so etwas hält der stärkste Mann nicht aus. Von mir aus können Sie Ihren Urlaub gern noch um ein oder zwei Wochen verlängern.«

»Danke, Herr Kollege, ich verstehe. Sehr nett von Ihnen. Machen Sie es gut.« Manfred legte den Hörer auf.

Er zog den Zettel, des Hotelportiers aus der Tasche und las ihn nochmals Wort für Wort durch. »Verdammt sei’s«, fluchte er vor sich hin. »Ich bilde mir das alles doch nicht ein!« Er ging zu seinem Platz zurück und hörte in Gedanken, wie Frau Nöthen zu ihm sagte: Sie müssen auf sich Acht geben. Der berufliche Stress verfolgt Sie bis hierher.

Manfred trank seinen Tee aus, und als er nach einer weiteren Viertelstunde noch immer kein Zeichen von Emile bekommen hatte, zahlte er und ging zu seinem Panda zurück. Als er an der Plaza Pere J.Palmer Llenas eintraf, sah er, dass auf dem Beifahrersitz seines Wagens ein Mann saß. Es gab keinen Zweifel, sein Auto war das einzige, das an dieser Stelle parkte. »Monsieur Magoubi?«, rief Manfred. »Monsieur Magoubi?«

Der Mann regte sich nicht. Manfred öffnete die Tür zum Beifahrersitz. Er hatte offenbar vergessen, sie zu sichern. Der Fremde kippte zur Seite und fiel zu Boden. Der Arzt versuchte, ihn aufzurichten, doch dabei merkte er, dass der Mann tot war. Er erkannte den Toten wieder. Es war Ali Hafez, Omars persönlicher Sekretär und Diener.

Manfred erstarrte vor Schreck und Überraschung. Mit dieser Entwicklung der Ereignisse hatte er nicht gerechnet. Welche Rolle spielte Ali Hafez, und wie kam er hierher?

Er schleppte den Toten auf den Bürgersteig. Ali schien noch nicht sehr lange tot zu sein. Ein junger Mann aus dem Dorf kam hinzu. Er sah, wie sich Manfred über den toten Ali Hafez beugte.

»Schnell, rufen Sie einen Notarztwagen und die Polizei«, rief ihm Manfred auf Französisch zu.

Der junge Mann stutzte ein paar Sekunden, dann schien er zu verstehen und ging zu der nahe gelegenen Telefonzelle.

Plötzlich hatte Manfred das Gefühl, dass er beobachtet wurde. Er schaute auf die am Platz vorbei führende abschüssige Dorfstraße und sah zwei Männer in einem Ford Fiesta sitzen. Als die beiden bemerkten, dass er zu ihnen herüberschaute, fuh­ren sie davon. Das müssen die Mörder sein! Ich muss sie identifizieren, dachte er. Er rief dem jungen Mann, der noch in der Telefonzelle stand, zu, dass er sich um den Toten kümmern solle. Dann sprang er in seinen Panda und fuhr hinter dem Ford her. Der Fiesta fuhr in rasanter Fahrt auf die Landstraße in Richtung Capdella. Manfred versuchte, ihn einzuholen, um wenigstens das Nummernschild zu erkennen.

Die Fahrer des Fiesta schienen darin geübt zu sein, durch kurvenreiches Gebirge zu fahren. Sie eilten ihm davon. Zwischen Capdella und Paguera verlor er sie ganz aus den Augen.

Manfred hielt seinen Wagen an und überlegte, was jetzt am besten zu tun wäre. Ein Notarztwagen fuhr in schnellem Tempo in der Gegenrichtung an ihm vorbei. Es war also dafür ge­sorgt, dass sich um Alis Leiche gekümmert wurde. Er wendete sein Fahrzeug, um nach Galilea zurückzukehren und sich der Polizei als Zeuge zur Verfügung zu stellen. Ehe er dort eintraf, kam ihm der Notarztwagen schon wieder entgegen. In seinem Gefolge fuhr ein Polizeiauto. Manfred setzte seinen Weg trotzdem fort. Als er an den Ort des Geschehens zurückkam, standen dort nur noch ein paar Neugierige herum. Sie unterhielten sich mit dem jungen Mann, der den Notarzt und die Polizei verständigt hatte. Als Manfred zu ihnen stieß, traten sie einen Schritt zurück und betrachteten ihn misstrauisch. Er nickte dem jungen Mann zu und sagte auf Französisch: »Ich werde jetzt in mein Hotel zurückfahren und mich bei der Polizei melden.« Keiner der Anwesenden schien zu verstehen, was er sagte.

Im Hotel angekommen fragte er den Portier, ob eine Nachricht für ihn abgegeben worden sei.

»Frau Nöthen in Zimmer einhundertneunzehn lässt Ihnen ausrichten, dass sie sich nicht wohl fühlt und den ganzen Tag über ihr Zimmer nicht verlassen hat. Sie sollen sich nicht be­unruhigen. Morgen früh wird sie wieder auf den Beinen sein.«

Es war inzwischen zwanzig Uhr geworden. Manfred ging in sein Zimmer, um sich ein wenig frisch zu machen. Als er anschließend zurück in die Eingangshalle kam und sich vom Portier die Nummer der zuständigen Polizeidienststelle geben lassen wollte, warteten an der Rezeption drei diskret gekleidete Herren auf ihn. Einer von ihnen zeigte einen Ausweis vor und sagte in französischer Sprache: »Monsieur Hoffmann? Folgen Sie uns bitte. Wir müssen Sie vorläufig festnehmen.«

Manfred wurde zum Justizpalast nach Palma gebracht und bis in die Nacht hinein verhört.

»Haben Sie den Toten gekannt?«, fragte der Polizeikommissar, der die Vernehmung führte. Man hatte einen Deutsch sprechenden Dolmetscher hinzugezogen.

»Ja, er heißt Ali Hafez. Er war Diener bei einem libanesischen Kaufmann.«

»Warum haben Sie ihn getötet?«

»Ich habe ihn nicht getötet. Ich bin Arzt. Nie könnte ich jemanden umbringen. Irgendjemand hat die Leiche auf meinen Beifahrersitz gesetzt.«

Der Kommissar schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie können sich einen Anwalt nehmen und werden morgen dem Richter vorgeführt. Sollen wir irgendjemanden von Ihrer Verhaftung in Kenntnis setzen?«

Manfred nannte die Adressen von Ursula und Dr. Schwaiger.

»Das Verhör ist für heute beendet«, sagte der Kommissar dann. »Sie werden in eine Zelle für Untersuchungshäftlinge ge­führt. Wir hoffen, dass morgen der gerichtsmedizinische Befund über die Todesursache vorliegt.«

Die ganze Nacht über lag Manfred verzweifelt wach auf seiner Pritsche und grübelte. Er fühlte sich von allen Menschen verlassen. Es wurde ihm deutlich, dass er niemanden mehr hatte, mit dem ihn ein tiefes Vertrauensverhältnis verband. Beate ­hatte ihn gemieden, Michael war tot oder verschollen, und mit Ursula hatte er sich in den Wochen zuvor immer mehr aus­einandergelebt.

Er verwünschte sich und sein Verhalten. Wie konnte er nur so unvorsichtig sein und sich in diesen abgelegenen kleinen Ort locken lassen? Da hatte ihm jemand ganz übel mitgespielt.

Ob Emile Magoubi dahinter steckte? Warum sollte er ihm schaden wollen? Er konnte sich nicht erinnern, Emile etwas Bö­ses getan zu haben. Außerdem hatte Herr Magoubi im Libanon sein Leben für Manfred und seine Freunde aufs Spiel gesetzt. – Nein, Emile war solch ein Verhalten nicht zuzutrauen. Sein Name war von irgendjemandem missbraucht worden. – Ob Melchior wieder seine Finger im Spiel hatte? Und was war mit Frau Nöthen? Warum hatte sie sich ausgerechnet an diesem Tag mit Unwohlsein entschuldigen lassen? Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sie waren jedoch alle nicht schlüssig. Manfred fühlte sich ohnmächtig und gedemütigt. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht und schluchzte verzweifelt.

Am folgenden Tag gegen fünfzehn Uhr wurde die Tür zu seiner Zelle geöffnet, und es stellte sich ein Rechtsanwalt vor. In gut verständlichem Deutsch sagte er: »Mein Name ist Canells. Ihr Freund Klaus Hardfüßer aus Bonn hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Er wurde von Ihrem Kollegen Dr. Schwaiger über Ihr Missgeschick informiert. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich Ihre Verteidigung übernehmen.«

Manfred nickte und unterschrieb eine Vollmachtserklärung für Herrn Canells. Dann wurde er dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

»Selbst wenn Sie unschuldig sind«, erklärte der Richter, »müssen Sie sich auf eine längere Untersuchungshaft einstellen. Der Tote ist Libanese, Sie selbst sind Deutscher, und die meisten der von Ihnen benannten Zeugen sind ebenfalls Ausländer. Das bedeutet, dass die Ermittlungen sehr lange Zeit in Anspruch nehmen werden. Inzwischen liegt der Befund der Gerichts­mediziner vor. Der Tote ist durch eine Überdosis Heroin ums Le­ben gekommen. Er war jedoch nicht süchtig. Die Droge muss ihm erstmalig und wahrscheinlich auch gewaltsam injiziert worden sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

»Nein. Als ich Herrn Hafiz auf dem Beifahrersitz meines Wagens fand, war er bereits tot. Er muss von seinen Mördern dorthin gesetzt worden sein. In der Nähe saßen zwei Männer in einem weißen Ford Fiesta und haben mich beobachtet. Ich bin hinter ihnen hergefahren und habe vergeblich versucht, das Fahrzeugkennzeichen festzustellen.«

»Der junge Mann, welcher die Polizei informiert hat, kann sich nicht an einen weißen Wagen erinnern.«

»Der Junge war am Telefonieren, als der Fiesta davonfuhr. Er hat wohl nicht auf das geachtet, was auf der Straße vor sich ging.«

»Sie müssen zugeben, dass Ihr Verhalten nach dem Auffinden der Leiche sehr eigenartig war. Die bisherigen Ermittlungen der Polizei sprechen nicht für Ihre Unschuld. Auch dieser Emile Magoubi, der Sie angeblich nach Galilea bestellt hat, war bisher nirgendwo aufzufinden. Er ist in keinem mallorquinischen Hotel gemeldet. Wo waren Sie gestern Morgen?«

»Ich habe einen Bummel durch Palma gemacht.«

»Hat jemand Sie dort gesehen? Sind Sie irgendwo eingekehrt?«

»Nein.«

»Der gerichtsmedizinische Befund hat ergeben, dass der Tod zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr eingetreten ist. Wo haben Sie sich während dieser Zeit aufgehalten?«

»Ich bin erst im Hotel gewesen und habe dann lange Zeit in meinem Auto gesessen, um die Straßenkarte zu studieren. An­schließend bin ich über Andraitx nach Galilea gefahren.«

»Über Andraitx? Warum denn dieser Umweg? Ihre Einlassungen klingen leider nicht sehr glaubwürdig, mein Herr. Ich kann die Untersuchungshaft nicht aussetzen. Sie müssen zur Verfügung der Ermittlungsbehörden festgehalten werden.«

Für Manfred folgten Tage bangen Wartens. Noch zweimal wurde er ausführlich verhört, und täglich besuchte ihn sein Anwalt. Die Nachrichten, die Herr Canells ihm überbrachte, waren nicht Erfolg versprechend.

Dr. Schwaiger hatte als Zeuge vor einem Saarbrücker Ermittlungsrichter von den Telefongesprächen berichtet und ausgesagt, dass Manfred einen sehr erregten Eindruck gemacht habe. Ursula hatte hinzugefügt, dass er nach Mallorca geflogen sei, um dort über den Heroinhandel zu forschen. In der spanischen Übersetzung war daraus das Wort »inquirir« geworden, und das konnte auch »nachfragen« bedeuten.

Frau Nöthen schließlich hatte gesagt, dass Manfred auf sie sehr nervös gewirkt habe. Sie habe oft den Eindruck gehabt, als ob er nach irgendjemandem Ausschau halten würde. Allerdings traue sie ihm keinen Mord zu. Am Abend vor Alis Tod habe sie mit ihm lange Patience gespielt. Offenbar habe sie dabei ein Getränk nicht vertragen. In der Nacht sei ihr unwohl geworden, und deshalb habe sie den folgenden Tag über ihr Zimmer nicht verlassen.

Auch Beate war vernommen worden. Sie hatte ausgesagt, dass ein ihr unbekannter Mann bei ihr angerufen und sie mit französisch klingendem Akzent darum gebeten habe, Manfred auszurichten, dass er seine Bedingungen mitteilen solle.

Manfred sah mit Beklemmung, wie sich das Netz der Verdachtsmomente immer enger um ihn zusammenzog. Schließlich lag auch eine Aussage von Emile Magoubi vor. Er war nie auf Mallorca gewesen. Auf die Frage, welche wichtige Mitteilung er laut dem Telefonanruf von Alfons an Manfred habe machen wollen, hatte er geantwortet: »Herr Hoffmann wurde von einem libanesischen Geschäftsmann mit Namen Omar Schugluf verdächtigt, mitverantwortlich für seine geschäftlichen Rückschläge zu sein. Mir ist bekannt geworden, dass Herr Schugluff sich an Herrn Hoffmann rächen wollte. Der Ermordete, Ali Hafez, war Omar Schuglufs Privatsekretär und persönlicher Diener.«

»Da hatten Sie ja Grund genug, den Mann zu beseitigen«, sagte der Richter bei der Vernehmung. »Hat Ali Hafez Sie bedroht? Haben Sie vielleicht in Notwehr gehandelt? Was hatten Sie mit Drogen zu tun? Geforscht haben Sie? Warum sind Sie deshalb nach Mallorca gefahren? Wen wollten Sie hier treffen? Es ist schon mehrfach der Versuch gemacht worden, Heroin über die Touristenwege zu schleusen. Wir sind ein gastfreundliches Land, doch lassen wir nicht zu, dass es zu einem Umschlagplatz für Drogen gemacht wird! Warum wurde es Frau Nöthen gerade an dem Tag unwohl, als Sie nach Galilea fuhren? Sie müssen zugeben, dass alle Indizien gegen Sie sprechen. Legen Sie ein Geständnis ab. Ihr Anwalt wird Ihnen dabei helfen. Je länger die Ermittlungen dauern, desto mehr werden Sie sich in neues Unrecht verstricken.«

Die Lage wurde für Manfred immer aussichtsloser. Von Omar Schuglufs Aussagen konnte er erst recht keine Entlastung er­warten. Als letzten Zeugen benannte er noch Diethelm Wühle, dann wusste er sich keinen weiteren Rat mehr.

Nach drei Wochen Untersuchungshaft entschloss er sich, nicht mehr weiter für den Beweis seiner Unschuld zu kämpfen. Er resignierte. Herr Canells erwirkte die Erlaubnis, dass er an seiner Habilitationsschrift weiterarbeiten durfte.

Manfred stürzte sich auf seine Unterlagen. Nie vorher hatte er so viel Zeit und Muße gehabt wie jetzt im Untersuchungsgefängnis von Palma. Er arbeitete und schrieb von morgens bis abends wie ein Besessener. Fast vergaß er darüber den Grund, weswegen er einsaß. Vier, sechs, acht Wochen vergingen. Er schickte seine Manuskripte an Ursula, die sie in Saarbrücken mit der Maschine schrieb und ordnete. Schließlich, nach zehn Wochen, war die Schrift abgeschlossen. Ursula ließ sie binden und schickte sie an das Gutachtergremium der Medizinischen Fakultät der Universität in Homburg.

Kurz danach kam Herr Canells zu Manfred ins Gefängnis. Zum ersten Mal seit der Übernahme des Mandats zeigte er sich ein wenig optimistisch.

»Dieser Herr Wühle, den Sie als Zeugen benannt haben, hat zwar nicht sehr gut über Sie ausgesagt. Er hat erklärt, dass Sie ein wenig überspannt und weltfremd seien, aber er hat der Polizei auch ein paar nützliche Hinweise gegeben. Dem Verfassungsschutz war zugetragen worden, dass in Mallorca ein Treffen von Drogenhändlern stattfinden sollte. Doch entweder war es eine Finte oder die Bosse der Drogenmafia bekamen rechtzeitig einen Hinweis, dass die Nachrichtendienste auf der Lauer lägen. So wurde der Termin wieder fallengelassen. Herr Wühle sagte auch, dass Ali Hafez im Verdacht gestanden habe, am Drogen- und Frauenhandel beteiligt zu sein.«

»Das war mir schon länger bekannt«, antwortete Manfred. »Doch was nützt mir diese Erkenntnis?«

»Aber mein Herr! Sie bringt eine völlig neue Dimension in die Affäre. Sie beweist zweierlei. Erstens gehören Sie nicht zur Drogenmafia. Sonst hätte man auch Ihnen abgesagt, und Sie wären zu Hause geblieben. Und zweitens, wenn Sie doch dazugehören, hat man Sie und Ali Hafez bewusst in eine Falle laufen lassen. Das aber würde bedeuten, dass irgendwo ein oder mehrere Drahtzieher stehen, die Sie und Ali ins Verderben schicken wollten. Und das wiederum zwingt die Polizei dazu, ihre Ermittlungen auf diese Hintermänner auszudehnen! Verstehen Sie?«

»Nein«, antwortete Manfred. »Aber ich vertraue Ihnen.«

»Seit drei Monaten sehe ich zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer«, fuhr der Rechtsanwalt fort. »Und noch etwas ist geschehen, was für den Erfolg meiner Arbeit sehr wichtig ist: Mittlerweise bin ich selbst von Ihrer Unschuld felsenfest überzeugt. Fast täglich rufen Mitarbeiter und Freunde von Ihnen bei mir an und wollen Ihnen helfen. Dr. Schwaiger, Ursula Lampe, Klaus Hardfüßer ... ich kenne schon längst ihre Namen auswen­dig. Außerdem soll ich Sie sehr herzlich von ... na warten Sie ...« Herr Canells zog einen Zettel aus der Tasche »... von Alfons Lauer, Emile Magoubi und Professor Marlow grüßen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass die drei Herren sich vor kurzem im Landhaus von Herrn Magoubi getroffen haben. Wer so viele gute Freunde hat, kann kein Mörder sein!«

»Danke, Señor Canells«, sagte Manfred. Er lächelte. Zum ersten Mal seit vielen Wochen.

Am zwanzigsten September, mehr als vier Monate nach Manfred Hoffmanns Festnahme, kam Herr Canells ins Gefängnis und schwenkte überglücklich ein Papier in der rechten Hand.

»Mein Herr, was haben Sie gegen diesen Omar Schugluf? Nach vielen Mühen war es endlich möglich, ihn verhören zu lassen. Was sagen Sie dazu: Er hat Sie entlastet! Hier habe ich seine Aussage schwarz auf weiß:

›Ali Hafez war mein persönlicher Sekretär. Er pflegte, wenn er Urlaub hatte, einen – sagen wir – ungezügelten Umgang mit Frauen. Bei unserem letzten gemeinsamen Urlaub in Nizza verwickelte er sich in Liebeshändel mit einem Franzosen. Dieser Franzose hat Ali blutige Rache geschworen. Ali hat vor einigen Monaten einen anonymen Drohbrief erhalten, den ich inzwischen gefunden habe und hiermit der Polizei übergebe. Seither lebte er in ständiger Angst. Bevor er nach Mallorca fuhr, sagte er mir, er müsse aus dem Libanon fliehen, weil sein Rivale einen Killer gedungen habe, um ihn umzubringen ...‹

Die mallorquinische Polizei ist der Sache inzwischen nachgegangen«, fuhr Herr Canells fort. »Sie hat feststellen können, dass sich in den ersten Maitagen tatsächlich ein Mann, der in Frankreich als Berufskiller bekannt ist, auf der Insel aufgehalten hat. Dieser Mann hat am siebten Mai einen weißen Ford Fiesta gemietet. Und an diesem Fiesta ist nach den Laboruntersuchungen der Polizei vorübergehend ein fremdes Nummernschild angebracht worden. In demselben Hotel, in dem auch der Killer wohnte, war ein anderer Franzose unter falschem Namen abgestiegen. Die beiden Männer haben das Hotel am Tag von Ali Hafez’ Tod überstürzt verlassen. Inzwischen liegt auch ein Polizeibericht aus Nizza vor. Ein Informant hat bestätigt, dass in Kreisen der Unterwelt jemand gesucht wurde, der für die Summe von hunderttausend Francs Ali Hafez töten und den Mord einem unliebsamen Deutschen in die Schuhe schieben sollte. Er hat sich eingehend darüber verbreitet, dass Hafez Frauen an reiche Männer vermittelt habe.

Was sagen Sie jetzt, Señor? Das bedeutet, dass man Sie höchstwahrscheinlich freilassen wird. Morgen früh ist ein Termin vor dem Untersuchungsrichter.«

Die beiden Männer umarmten sich. Bevor der Anwalt sich verabschiedete, sagte Manfred zu ihm: »Rufen Sie heute Abend noch Herrn Magoubi im Libanon an. Sagen Sie ihm, dass ich ihm und Professor Marlow von ganzem Herzen danke!«

Herr Canells stutzte kurz. Doch als er Manfreds freundliches und offenes Gesicht sah, erkannte er, dass er es wirklich mit einem Unschuldigen zu tun hatte.

Unerwartete Ehrung

Wenige Tage später war Manfred frei. Um zehn Uhr morgens schlossen sich hinter ihm die Gefängnistore. Mit einem Taxi ließ er sich in die Innenstadt von Palma bringen. Er schlenderte den Paseo Generalissimo Franco auf und ab, kaufte sich einige Zeitungen, setzte sich in ein Café und genoss die wieder­gewonnene Freiheit. Dann fuhr er zum Flughafen und bestieg das erste Linienflugzeug, das von Palma aus in Richtung Frankfurt startete.

Dr. Schwaiger hatte für den folgenden Morgen eine kleine Wiedersehensfeier arrangiert. Auf Manfreds Schreibtisch standen Blumen. Ellen schenkte Sekt aus, und die Mitarbeiterinnen drückten ihrem Chef einen Kuss auf die Wange.

»Wir sind froh, dass wir Sie wieder bei uns haben«, sagte Dr.Schwaiger. »Während Ihrer Abwesenheit haben wir eirfrig unsere Pflichten erfüllt. Es ist alles so gut verlaufen, wie Sie es sich nur wünschen konnten. Keiner hat auch nur ein Wort da­rüber gesagt, welches Schicksal Sie erlitten hatten. Kein Außenstehender hat davon erfahren.«

»Ich danke Ihnen! Wenn man in solch eine Situation gerät, wie es mir geschehen ist, fühlt man sich plötzlich so alleinge­lassen und ausgesetzt, dass man verzweifeln könnte. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Sie alle und einige weitere Freunde zu mir halten würden, hätte ich jeden Mut verloren. Ich wünsche niemandem, dass er so etwas durchmachen muss. Aber wenn es dennoch der Fall sein sollte, dann hoffe ich für ihn, dass er Freunde hat wie ich.« Er drückte dem Kollegen und jeder einzelnen Mitarbeiterin die Hand.

Als er kurz darauf allein in seinem Büro saß, kam Ellen herein und fragte, ob sie etwas für ihn erledigen könne. »Danke, ich bin wunschlos glücklich. Mir genügt es, dass ich wieder zu ­Hause bin und meinen Tagesablauf selbst bestimmen kann. Gab es während meiner Abwesenheit irgendwelche besonderen Vorfälle?«

Ellen schaute ihn an wie jemand, der mehr weiß als alle anderen. Manfred kannte diesen Blick. Er bedeutete, dass sie hinter irgendein privates Geheimnis gekommen war. »Sie wissen et­was, was ich nicht weiß?«

»Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich denke mir, dass Sie es doch erfahren sollten. Sie dürfen mich aber nicht verraten.«

»Zugesichert.«

»Ich bin zufällig dahinter gekommen, dass Ursula und Dr. Schwaiger ein Verhältnis haben.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Vor etwa vier Wochen hat Dr. Schwaiger uns mitgeteilt, dass er für den Personalraum eine Ruhecouch anschaffen wolle. Diejenigen, die sich überanstrengt hätten und während der Mittagspause ein wenig ausruhen wollten, könnten dies in Zukunft auf dieser Couch tun.«

»Eine sinnvolle Maßnahme.«

»So habe ich zunächst auch gedacht. In der vorigen Woche hatte ich zufällig meinen Adresskalender in der Praxis liegen lassen. Nach dem Abendessen bin ich daher nochmals zurückgefahren, um ihn zu holen. Dr. Schwaigers Auto stand im Hof. Weil ich ja morgens immer die Praxis aufschließe, habe ich auch jetzt keinen Grund gesehen, die Klingel zu bedienen. Ich habe also wie immer die Tür aufgesperrt. Als ich ins Personalzimmer kam, sah ich die beiden auf der Couch. Ich bin sofort wieder rückwärts herausgegangen. Doch Dr. Schwaiger muss mich be­merkt haben. Er hat mir anderntags erzählt, Ursula sei es un­wohl geworden und er habe sich um sie kümmern müssen.«

»Vielleicht entsprach das der Wahrheit.«

»Was ich gesehen habe, sah nicht nach Erster Hilfe aus. Die beiden treffen sich außerdem regelmäßig zweimal in der Wo­che.«

Manfred fühlte, wie so etwas wie Eifersucht in ihm aufstieg. Obwohl er schon vor seinem Mallorca-Abenteuer innerlich mit Ursula gebrochen hatte, war sie ihm nicht völlig gleichgültig geworden. Vor allem aber störte ihn, dass der junge Kollege wäh­rend seiner Abwesenheit nicht nur die Leitung der Praxis, sondern auch die Geliebte übernommen hatte. Er kam sich vor wie ein alternder Platzhirsch, in dessen Revier ein junger Rivale eingedrungen war.

»Hätte ich Ihnen das nicht erzählen sollen?«

»Doch, doch«, antwortete Manfred und schaute durchs Fenster in den trüben Herbstmorgen. »Ich wundere mich nur über Dr. Schwaiger. Er hat doch erst vor zwei Jahren geheiratet.«

»Wissen Sie, was ich glaube: Ursula interessiert sich nur für verheiratete Männer.«

Ihm war nun klar, dass Ellen auch über sein Verhältnis mit Ursula bestens Bescheid wusste. Doch das störte ihn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

»Ich weiß nicht, was Ellen dir erzählt hat«, sagte wenig später Ursula zu ihm. »In jedem Fall muss ich Dr. Schwaiger in Schutz nehmen. Ihn trifft keine Schuld.«

»Woran?«

Ursula wurde verlegen. »Nun sag bitte schon, was Ellen dir erzählt hat. Sie war doch bei dir im Büro. Sicher hat sie auch über Dr. Schwaiger und mich gesprochen.«

Manfred zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst. Ist etwas nicht in Ordnung?«