ISSN 0584-603-X

Sozialwissenschaftliche Studien

zu internationalen Problemen

Social Science Studies

on International Problems

Herausgegeben von/Edited by

Prof. Dr. Diether Breitenbach und

Dr. Manfred Werth

Rita Dadder


Interkulturelle Orientierung

Analyse ausgewählter interkultureller Trainingsprogramme

Band 121

Sozialwissenschaftliche Studien zu internationalen Problemen/Social Science Studies on International Problems

Herausgegeben von/Edited by

Prof. Dr. Diether Breitenbach und Dr. Manfred Werth


Verlag breitenbach Publishers

Saarbrücken · Fort Lauderdale 1987

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Dadder, Rita:

Interkulturelle Orientierung: Analyse ausgew. interkultureller Trainingsprogramme/Rita Dadder. - Saarbrücken; Fort Lauderdale: Breitenbach, 1987.

(Sozialwissenschaftliche Studien zu internationalen Problemen; Bd. 121)

ISBN 3-88156-360-1

NE:GT

ISBN 978-3-86397-058-1

© 1987 by Verlag breitenbach Publishers
Saarbrücken, Germany · Fort Lauderdale, USA

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Abbildungsverzeichnis

I. Einführung

II. Interkulturelle Orientierung: Versuch einer Begriffsbestimmung

1. Diverse Orientierungsbegriffe

1.1 Allgemeine Definition des Begriffs "Orientierung"

1.2 Spezifische Orientierungskonzepte

2. Theoretische Fundierung eines integrativen Orientierungskonzepts

2.1 Forschungsleitende Überlegungen

2.2 Der Orientierungsbegriff in LEWINs Feldtheorie

2.2.1 Der Lebensraum

2.2.2 Orientierung in einer unbekannten Region

2.2.3 Orientierung im Hinblick auf Ziele

2.2.4 Konflikte

2.3 Der Orientierungsbegriff in BOESCHs Handlungstheorie

2.2.1 Das Handlungsfeld

2.2.2 Orientierung als Strukturierung des Handlungsfeldes

2.2.3 Orientierung im Hinblick auf Handlungsziele

3. Versuch der Entwicklung eines Orientierungsmodells

3.1 Orientierung und Handlung

3.2 Strukturmerkmale der Orientierung

3.2.1 Situationsorientierung

3.2.2 Zielorientierung

3.2.3 Handlungsorientierung

3.3 Der Prozeß der Orientierung

4. Orientierung in einer fremden Kultur

4.1 Kultur als Handlungsfeld

4.2 Gruppenpsychologische Präzisierung und Erweiterung des Kulturkonzeptes

4.3 Die kulturelle Überschneidungssituation

4.4 Interkulturelles Lernen und interkulturelle Orientierung

5. Aufgaben interkultureller Orientierungsprogramme

III. Interkulturelle Orientierungsprogramme

1. Didaktische Merkmale

1.1 Kognitive, affektive und Verhaltensziele

1.2 Kultur-allgemeine versus kultur-spezifische Inhalte

1.3 Intellektuelle versus erfahrungsbezogene Methoden und expositorische versus entdecken-lassende Lehrverfahren

2. Ausgewählte interkulturelle Orientierungsprogramme in den Vereinigten Staaten von Amerika

2.1 Das Universitätsmodell

2.2 Der Kultur-Assimilator

2.3 Das Verhaltens-Modifikationsmodell

2.4 Das Feldsimulationsmodell (area simulation)

2.5 Das kultur-allgemeine Simulationsmodell

2.6 Das Interaktionsmodell

3. Kritische Bewertung der dargestellten amerikanischen Orientierungsprogramme

4. Interkulturelle Orientierungsprogramme wichtiger Institutionen in der Bundesrepublik Deutschland

4.1 Deutscher Entwicklungsdienst (DED)

4.2 Dienste in Übersee (DÜ)

4.3 Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung (DSE), Zentralstelle für Auslandskunde

4.4 ASA-Programm (Carl Duisberg Gesellschaft)

4.5 Carl Duisberg Centren

4.6 Evangelische Akademie Bad Boll

5. Kritische Bewertung der dargestellten deutschen Orientierungsprogramme

6. Charakteristische Unterschiede zwischen den dargestellten amerikanischen und deutschen Orientierungsprogrammen

IV.Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Entsendung und Vermittlung von Fachkräften aus der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit

Abbildung 2: Der Prozeß der Orientierung

Abbildung 3: Auszug aus dem griechischen Kultur-Assimilator

Abbildung 4: Beispiel eines Contrast American Dialogs

Abbildung 5: Probleme der interkulturellen Kommunikation: Stichworte zu 10 einzelnen Situationen

Abbildung 6: Entwurf eines Werbeplakats für eine Rundfunksendung in der Region Südafrika

Abbildung 7: Zwei Beispiele für Tätigkeitsfelder von ASA-Stipendiaten

I. Einführung

Im Zuge zunehmender internationaler Mobilität reisen immer mehr Menschen in Länder außerhalb ihrer Heimat. Sie besuchen fremde Länder als Touristen, als Geschäftsleute, Diplomaten, Politiker, Wissenschaftler, Studenten, Fachberater, Entwicklungshelfer, als Montagearbeiter, Kulturschaffende, Sportler oder Verbandsfunktionäre - um nur einige wichtige Funktionen zu nennen. Die Gründe für die Auslandsbesuche sind so vielfältig wie die Funktionen der Reisenden: Wißbegierde, Geschäftsverhandlungen, Repräsentationsaufgaben, Vertretung politischer, kultureller, wirtschaftlicher oder militärischer Interessen, Beratung, Entwicklungshilfe, Erfahrungsaustausch und viele andere mehr können genannt werden.

Im Jahr 1985 reisten über 18 Millionen Deutsche als Touristen ins Ausland und davon mehr als 1,2 Millionen in außereuropäische Länder (vgl. Fischer Weltalmanach 1987, S. 951, hrsg. von HAEFS 1986). Im Rahmen der personellen Entwicklungszusammenarbeit wurden in der Zeit von 1980-1984 insgesamt 21.679 Fachkräfte aus der Bundesrepublik Deutschland in Länder der Dritten Welt entsandt (vgl. Journalistenhandbuch Entwicklungspolitik 1982, S. 156; 1983, S. 158; 1985, S. 167, hrsg. vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit). Abbildung 1 zeigt die Zahl der von verschiedenen Institutionen in den Jahren 1982-1984 entsandten Fachkräfte.

Mit 148 Staaten unterhält die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen (Auskunft der Pressestelle des Auswärtigen Amtes - Stand Oktober 1986). Im Jahr 1985 erreichte der gesamte Welthandel (Exporte) ein Finanzvolumen von 1.905 Mrd. $ (zum Vergleich 1977: 1.127 Mrd. $), der Anteil der Bundesrepublik daran betrug 183,4 Mrd. $. Im gleichen Jahr betrugen die Exporte der Bundesrepublik Deutschland in außereuropäische Entwicklungsländer 66.5 Mrd. $, die Importe 71,7 Mrd. $ (Fischer Weltalmanach 1987, S. 910 und 914, hrsg. von HAEFS 1986).

Abbildung 1: Entsendung und Vermittlung von Fachkräften aus der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit

Quelle:  Entwicklungspolitik Jahresbericht 1984, S. 15, hrsg. vom BUNDESMINISTERIUM FÜR WIRTSCHAFTLICHE ZUSAMMENARBEIT

Der Austausch von Waren, Menschen und Meinungen und die damit verbundene interkulturelle Kommunikation bietet die Chance zum Kennenlernen und Verstehen der Völker untereinander. Andererseits läßt sich jedoch auch feststellen, daß das Bedürfnis nach nationaler und kultureller Identität und Abgenzung zunimmt (vgl. LÖBER 1984, S. 75). Dies zeigt sich im Nationalismus ehemaliger Kolonialländer ebenso wie im Selbstständigkeitsstreben integrierter Kulturvölker (Basken, Korsen, Schotten, Walliser u.a.) und im zunehmenden Sebstbewußtsein regionaler Kulturgruppen (Pflege von Mundart und Bräuchen u.a.). Das bedeutet, daß der Auslandsbesucher in seiner neuen Umwelt sozio-kulturelle Bedingungen vorfindet, die ihm aus seiner Heimatkultur nicht vertraut sind und die eine Vorbereitung und Einstimmung auf die fremde Kultur erforderlich machen.

In der Literatur finden sich viele Beispiele von Mißverständnissen, die im Rahmen interkultureller Begegnungen zu unerwünschten Folgen geführt haben. Sie reichen von der ungewollten Beleidigung der Gastgeber bis zur wohlmeinenden Rücksichtnahme, die das Gegenteil des Gewollten auslösen kann. Löber (1984, S. 78) zitiert den Fall eines amerikanischen Geschäftsmannes:

"Wer in arabischen Ländern einen Tee oder Kaffee ablehnt, kann sein Geschäft sowieso gleich abschreiben. Mit dieser Information über Sitten und Gebräuche ausgerüstet, nahm der Verkaufsdirektor eines amerikanischen Konzerns die Verhandlungen auf. Womit er nicht gerechnet hatte, war die arabische Gastfreundschaft: denn jedesmal, wenn er seine Tasse leergetrunken hatte, wurde sie nachgefüllt. Nach 23 Mokkas innerhalb weniger Stunden machte dies sein Kreislauf nicht mehr mit. Sowohl er als auch die Verhandlungen standen am Rande eines Kollapses."

Bekannt ist auch das Beispiel des Kaufmannes, der nach erfolgreichem Verhandlungsverlauf von seinem sudanesischen Gastgeber ans Kaminfeuer eingeladen wird und ihm dort beim behaglichen Plaudern die Schuhsohlen entgegenstreckt - in der Kultur des Gastgebers eine grobe Beleidigung.

Abgesehen von solchen besonders eklatanten Fällen stößt der Gast in der fremden Kultur auf vielfältige kulturspezifische Barrieren und Hindernisse, die ihm allein schon dadurch zum Problem werden, daß sie ihm aus seiner Heimatkultur unbekannt sind. Solche Barrieren bestehen z.B. in Sprach- und Verständigungsproblemen, in der Andersartigkeit des politischen Systems, der Sozialstruktur, der Religion und Moral, der Sitten und Bräuche, der Meinungsbildungsabläufe, der Autoritätssysteme und der sozialen und familiären Beziehungen, in sozialen Spannungsfeldern innerhalb des gastgebenden Landes, fremden Formen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsmoral, fremdem Essen, fremder Hygiene, dem unter- oder überlegenen Lebensstandard und der ungewohnten Lebensführung.

Der erfolgreiche Abschluß des Auslandsaufenthalts hängt aber wesentlich davon ab, daß der Reisende sich vor diesen ungewohnten Problemen nicht "zurückzieht", sondern daß er sich in der fremden Kultur zurechtfindet, daß er sich dort wohlfühlt, Kontakte knüpfen kann und von den Mitgliedern der Gastkultur akzeptiert wird.

Leider sind statistische Daten über den vorzeitigen Abbruch von Auslandsaufenthalten - speziell in Entwicklungsländern - nicht erhältlich. Nach Angaben des wissenschaftlichen Fachdienstes des Deutschen Bundestages (Sachgebiet Entwicklungshilfe, Reg. Nummer WF II - 154/86) zeichnen sich aus Gesprächen mit rückkehrwilligen Entwicklungshelfern Beweggründe für den Abbruch des Aufenthaltes in folgender Reihenfolge ab:

- gesundheitliche Gründe. Insbesondere tritt häufiger ein Verlust der Tropentauglichkeit ein;

- projektbezogene Probleme. Zum einen kommt es vor, daß Projekte nicht wie geplant funktionieren, zum anderen kommen Situationen vor, in denen sich der Entwicklungshelfer den an ihn gestellten Aufgaben nicht gewachsen fühlt;

- Sicherheitsgründe. Fälle von Abbruch treten zur Zeit insbesondere, wenn auch in geringer Zahl, in Nicaragua und dem Südsudan auf.

- Als Motiv für den Abbruch wird, wenn auch sehr selten, der sogenannte "Kulturschock" angeführt.

Aus der Literatur wird allerdings deutlich, daß der "Kulturschock" eine größere Rolle spielt, als diese Angaben erkennen lassen (vgl. z.B. BRISLIN & PEDERSEN 1976, S. 13ff.; FURNHAM & BOCHNER 1982). Es muß wohl davon ausgegangen werden, daß Auslandsbesucher über Mißerfolge und ihre Ursachen nicht bereitwillig Auskunft geben. Die Bedeutung kultureller Anpassungsprobleme läßt sich auch daraus ersehen, daß vor allem in den USA immer wieder versucht wurde, die vorliegenden interkulturellen Orientierungsprogramme zu verbessern bzw. neue zu entwickeln.

Die durchschnittliche Verweildauer von Entwicklungsexperten aus der Bundesrepublik Deutschland in Ländern der Dritten Welt beträgt zur Zeit ca. dreieinhalb Jahre (Wissenschaftlicher Fachdienst des Deutschen Bundestages, Sachgebiet Entwicklungshilfe, Reg. Nummer WF II - 154/86). Längere Auslandsaufenthalte sind meistens mit bestimmten beruflichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zielen verknüpft (vgl. DANCKWORTT 1984, S. 22), deren Erreichung dem Reisenden bzw. der ihn entsendenden oder einladenden Organisation sehr wesentlich ist. Die Wirtschaftsunternehmen bzw. die politischen und sozialen Institutionen, welche Mitglieder zu einem längeren Aufenthalt ins Ausland entsenden, müssen schon wegen der damit verbundenen hohen Kosten daran interessiert sein, daß die Reise zum Erfolg führt und das Risiko des Scheiterns möglichst gering gehalten wird.

Auslandsbesuche und interkulturelle Begegnungen sind aber nicht nur für die unmittelbar Beteiligten von Bedeutung. Sie stellen bis zu einem gewissen Grad auch ein Politikum dar. Derjenige, der im Ausland interagiert, Verhandlungen führt und Arbeit verrichtet, repräsentiert immer auch sein Herkunftsland und trägt mit dazu bei, dessen Bild in der fremden Kultur zu prägen. Der Erfolg des interkulturellen Austauschs liegt daher nicht nur im Interesse des Reisenden und der ihn entsendenden oder einladenden Organisation, sondern er muß auch ein gesellschaftspolitisches Anliegen sein.

Ein Idealfall interkulturellen Austauschs wäre es, wenn Gast und Gastgeber sich gegenseitig so vertraut wären, daß keine schwerwiegenden Verständnisprobleme auftreten könnten. Doch dies würde eine auf langjähriger Kommunikation gegründete Verbundenheit voraussetzen, die ihrer Natur nach nur das Ergebnis interkulturellen Austauschs und nicht ihr Beginn sein kann. Am Anfang eines geplanten interkulturellen Austauschs wird daher immer die Vorbereitung des Auslandsbesuchers stehen müssen.

Vorbereitung auf einen Aufenthalt in einer fremden Kultur bedeutet nicht nur Vorbereitung auf fremde, ungewohnte Lebens- und Arbeitsbedingungen, sondern auch Entwicklung der Fähigkeit, sich in der fremdkulturellen Umgebung selbständig zurechtzufinden. Auslandsvorbereitungskurse werden daher oft auch als interkulturelle Orientierungsprogramme bezeichnet.

In der vorliegenden Arbeit erfolgt zunächst eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff "interkulturelle Orientierung". Daraus abgeleitet werden Aufgaben interkultureller Orientierungsprogramme. Danach werden ausgewählte interkulturelle Trainingsprogramme in den USA und der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt, bewertet und miteinander verglichen. Den Abschluß der Arbeit bilden eine zusammenfassende Bewertung interkultureller Vorbereitungsprogramme und einige sich daraus ergebende Anforderungen an die Veranstalter solcher Programme.

II. Interkulturelle Orientierung: Versuch einer Begriffsbestimmung

Interkulturellen Orientierungsprogrammen liegt immer ein bestimmtes Verständnis des Begriffs "Interkulturelle Orientierung" zugrunde, das nur selten explizit dargelegt wird, jedoch aus den ausformulierten Zielen und Inhalten dieser Programme zu erschließen ist. Institutionen und Organisationen, die Teilnehmer auf einen Arbeits- oder Studienaufenthalt im Ausland vorbereiten, haben jeweils eigene Vorstellungen davon, mit welchen Problemen ein solcher Auslandsaufenthalt verbunden ist und was Teilnehmer lernen müssen, um ihre Ziele zu erreichen und ihre Aufgabe erfolgreich durchführen zu können. Der Beschreibung solcher Programme, wie sie in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt wurden, wird deshalb eine umfassende Bestimmung des Begriffs "Interkulturelle Orientierung" vorangestellt, die als Basis zur kritischen Bewertung dieser Programme dienen soll. Dabei wird davon ausgegangen, daß die Orientierung in einer fremden Kultur nicht grundsätzlich verschieden ist von Orientierungsprozessen, wie sie auch in vertrauter Umgebung ständig ablaufen. Es wird deshalb zunächst der Versuch unternommen, den Begriff Orientierung in seinen verschiedenen Dimensionen zu beleuchten und vor dem Hintergrund rahmentheoretischer Überlegungen zu bestimmen. Darauf aufbauend werden dann Aspekte, die für die Orientierung in einer fremden Kultur besonders bedeutsam sind, vertiefend behandelt.

1. Diverse Orientierungsbegriffe

1.1 Allgemeine Definitionen des Begriffs "Orientierung"

In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet der Begriff "Orientierung die Ausrichtung eines Körpers in Richtung Osten (Orient). Dieser Hinwendung nach Osten - in Richtung Sonnenaufgang - kam in vielen Kulturen, insbesondere im Bereich der Architektur und bei religiösen Bräuchen, eine große Bedeutung zu (vgl. THE NEW ENCYCLOPAEDIA BRITANNICA 1982, S. 582). Im allgemeinen Sinn "meint Orientierung die Stellung des Körpers im Raum und die Beziehung zur Umgebung" (ARNOLD, EYSENCK & MEILI 1980, S. 690). In der Psychologie kann Orientierung begriffen werden als eine "komplexe psychische Funktion, abhängig von der Intaktheit des Bewußtseins der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit, des Denkens und des Gedächtnisses" (v. SURY 1974, S. 209). ENGLISH & ENGLISH (1974) stellen die Beziehung zu verschiedenen Umweltgegebenheiten heraus und definieren "orientation" als "the discovery or knowledge of where one is and where one is going, either literally in space and time, or figuratively in relation to a confusing situation or a puzzling problem, or to people and personal relations" (S. 363f.).

Die nachfolgend dargestellten spezifischeren Auseinandersetzungen mit dem Orientierungsbegriff erweitern und präzisieren ihn, indem sie die Beziehung zwischen Individuum und Umwelt eingehender analysieren und die sozialpsychologischen Grundlagen des Orientierungsprozesses untersuchen.

1.2 Spezifische Orientierungskonzepte

NEWCOMB (1959) beschäftigt sich mit dem psychischen Prozeß der Orientierung und der Art der Orientierungsobjekte. Seiner Konzeptualisierung des Orientierungsbegriffs liegt folgende Definition zugrunde:

"Conceptually, an orientation may be defined (in its most general sense) as that existing organization of the psychological processes of an organism which affects its subsequent behavior with regard to a discriminable object or class of objects" (S. 389).

Orientierungsobjekte sind Einstellungsobjekte (attitudes), "über die kommuniziert wird" bzw. Anziehungsobjekte (attractions), d.h. Sender oder Empfänger von Botschaften. NEWCOMB unterscheidet kathektische und kognitive Aspekte der Orientierung, wobei die kathektischen Aspekte sich auf die Annäherungs-Vermeidungstendenz zum Orientierungsobjekt beziehen, während die kognitiven Aspekte mit dem Ordnen oder Strukturieren der wahrgenommenen Eigenschaften zu tun haben. Einzelne Eigenschaften können dabei selbst als Unter-Objekte der Orientierung angesehen werden.

Während NEWCOMB die Orientierung auf konsistente und überdauernde Eigenschaften von Umweltobjekten bezieht, beschäftigen sich PARSONS & SHILS (1951) mit der Orientierung im Hinblick auf die subjektive Bedeutung der wahrgenommenen Umweltgegebenheiten. Der Orientierungsbegriff wird von diesen Autoren in einem handlungstheoretischen, soziologisch mitgeprägten Ansatz behandelt. Hauptkomponenten der Handlung sind danach die handelnde Person, eine Handlungssituation und die Orientierung des Handelnden an der Situation (S. 53ff.). Die Handlungsituation stellt den Ausschnitt der externen Welt dar, die für den Handelnden Bedeutung hat. Auf diesen Ausschnitt ist der Handelnde orientiert, in ihm handelt er. Die Situation besteht aus einzelnen Orientierungsobjekten (Individuen, physikalische und kulturelle Objekte), die für den Handelnden Zielobjekte, Quellen, Mittel, Bedingungen, Hindernisse oder Symbole darstellen können. Der Handelnde besitzt ein Orientierungssystem, in dem die Objekte hinsichtlich ihrer Erwünschtheit und Bedeutung organisiert werden. Das Orientierungssystem setzt sich aus einer großen Zahl spezifischer Orientierungen zusammen. Jede dieser "Handlungs-Orientierungen" (S. 54) ist ein Konzept, welches der Handelnde von der Situation hat im Hinblick auf seine Ziele, seine Wahrnehmung der Situation und seine Handlungsplanung. Hinsichtlich der Orientierung des Handelnden an der Situation unterscheiden PARSONS & SHILS zwei analytische Elemente: eine motivationale Orientierung und eine Wertorientierung. Die Motivationsorientierung enthält kognitive, kathektische und evaluative Elemente. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Wertorientierung, die sich auf die Beachtung bestimmter Normen, Standards und Auswahlkriterien in Wahlsituationen bezieht.

Sowohl für NEWCOMB wie für PARSONS & SHILS sind motivationale und andere Aspekte der Orientierung in ein Orientierungssystem der Person integriert, das bei den zuletzt genannten Autoren wiederum ein Element des Handlungssystems bildet. Dagegen betrachtet THOMAE (1965) Orientierung als ein Merkmal des Motivationsgeschehens und unterscheidet eine "Zielorientierung", eine "Mittelorientierung" und eine "Normorientierung" der Motivation. Die Zielorientierung bezieht sich auf die Gegenstände", an denen oder durch welche die aufgesuchte Zustandsänderung, der erstrebte Endzustand am ehesten erreicht wird (S. 83). Vergleichbar der Funktion von Schlüsselreizen haben Zielgegenstände handlungsauslösende Wirkung. Die Mittelorientierung bezeichnet bewußte und unbewußte "Erkenntnisakte" (S. 81), die zur Anpassung des zielgerichteten Verhaltens an die Situation dienen. Es geht nicht nur um die Auswahl der Mittel und Verhaltensweisen zur Zielerreichung, sondern auch um die kognitive Strukturierung der Situation im Hinblick auf ihre subjektive Bedeutsamkeit und um individuelle Stile des Wahrnehmens und Verarbeitens von Umwelterfahrungen (vgl. THOMAE 1966, S. 27ff.). Die Mittelorientierung ist daher stark von früheren Lernerfahrungen beeinflußt. Die Normorientierung bezieht sich auf die Gesamtsituation und schließt die Kenntnis verhaltensrelevanter Regeln ebenso ein wie die Kenntnis von Rahmenbedingungen, die das Verhalten nicht unmittelbar betreffen. Sie entsteht durch den Vorgang der Sozialisation.

Trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze besteht doch ein enger Zusammenhang zwischen den Aspekten von Orientierung, die von den verschiedenen Autoren genannt werden. Dies wird auch in einer zusammenfassenden Begriffsbestimmung von SCHADE (1968) deutlich, der seiner Untersuchung über Orientierungsprobleme ausländischer Studenten folgende allgemeine Definition voranstellt:

"Mit Orientierung ist eine Grundqualität menschlichen Verhaltens gemeint, die Stile, Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit der Umwelt, der Klärung des eigenen Standorts in bezug auf die Gegebenheiten der Umwelt beinhaltet" (S. 55).

In einer Zusammenfassung verschiedener Ansätze zur Behandlung des Orientierungsproblems unterscheidet SCHADE drei Merkmale der Orientierung:

1. Motivationale Orientierung, die sich auf einen antizipierten Zielzustand bezieht und daher auch als Zielorientierung charakterisiert wird;

2. Orientierung an der Situation, die

- bei Hervorhebung der kognitiven Strukturierung der Situation als kognitive Orientierung,

- im Hinblick auf ihre grundlegende Bedeutung für das Handeln als Handlungsorientierung oder

- unter dem Aspekt der zentralen Bedeutung der Mittel als Mittelorientierung

bezeichnet werden kann;

3. Wert- oder Normorientierung, die das Verhalten mit den kulturellen Normen der Gesellschaft in Beziehung setzt.

Darüber hinaus ist festzustellen, daß Orientierung ein Prozeß ist, der sich in der Interaktion zwischen Person und Umwelt konstituiert, jedoch wird dieses Interaktionsgeschehen unterschiedlich akzentuiert. Bei NEWCOMB ist das Orientierungsverhalten das Resultat des Zusammenwirkens unabhängiger Faktoren (Person und Situation); die Interaktion kann nach einer Einteilung von LANTERMANN (1980, S. 11f.) als "statische Interaktion" charakterisiert werden. Dagegen heben sowohl PARSONS & SHILS wie auch THOMAE und SCHADE die Orientierung an der subjektiv wahrgenommenen Situation hervor und beziehen sich auf ein zielgerichtet handelndes Individuum, das in dynamischer Interaktion mit seiner Umwelt steht, die Umwelt beeinflußt und von ihr beeinflußt wird.

Damit stellen sich einige Kernfragen zum Verständnis des Orientierungsbegriffs: Inwieweit wirken Individuum und Umwelt zusammen; läßt sich das subjektive Erleben von objektiven Bedingungen abgrenzen und inwiefern sind Ziele, Situationen, Handlungen, Mittel oder Normen für den Orientierungsbegriff bestimmend? Im folgenden soll versucht werden, eine Antwort auf diese Fragen zu finden und daraus ein Orientierungskonzept abzuleiten. Dabei wird - aufbauend auf neueren handlungstheoretischen Modellen - eine "Transaktion" zwischen Person und Umwelt zugrundegelegt; der Prozeßcharakter von Orientierung und Handlung wird betont. Vorangestellt werden einige Überlegungen zur theoretischen Begründung dieses Konzepts.

2. Theoretische Fundierung eines integrativen Orientierungskonzepts

Das zu entwickelnde Orientierungskonzept fußt auf wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen und darauf aufbauenden psychologischen Theorien, die im Rahmen dieser Arbeit nicht detailliert dargestellt, sondern nur angerissen werden können. Im Rahmen des folgenden Überblicks wird außerdem versucht, den Stellenwert der wesentlichen theoretischen Grundlagen und forschungsleitenden Konzepte für die Austauschforschung zu verdeutlichen. Als "rahmentheoretische Grundlagen" werden anschließend zwei psychologische Ansätze ausgewählt und bezüglich ihres Orientierungsbegriffs dargestellt.

2.1 Forschungsleitende Überlegungen

Der hier vertretene Ansatz basiert auf der existenzialphilosophischen Auffassung von HEIDEGGER (1889-1976), wonach Mensch und (Um-)Welt nicht trennbar sind und nur durch ihr gemeinsames Da-Sein existieren. Menschliches Verhalten ist nicht als Resultat äußerer Reizbedingungen oder innerer Körperzustände anzusehen, sondern der Mensch bestimmt selbst, was er tut und ist frei zu wählen, was er tun will. Das Ziel der Existenz ist niemals statisch; der Mensch strebt immer danach, alle Möglichkeiten seines Daseins zu erfüllen. Diese existentialphilosophische Position ist der phänomenologischen Schule verpflichtet (vgl. HALL & LINDZEY 1979, S. 255). Ihre Methode zur Erfassung menschlichen Erlebens und Verhaltens geht davon aus, daß Realität das Erleben des Menschen ist. Menschliches Verhalten und Erleben darf nicht mit Ursachen oder Ursache-Wirkungszusammenhängen "erklärt" werden, sondern es geht darum, Phänomene in ihrer Ganzheit und Unmittelbarkeit zu beschreiben und zu "verstehen". Ziel des phänomenologischen Ansatzes, der von HUSSERL (1859-1938) begründet wurde, ist es, die konstitutiven Strukturelemente eines Phänomens zu beschreiben.

Der phänomenologischen Richtung in der Psychologie steht vor allem die Gestaltpsychologie nahe, die den traditionellen Gegenpol zum mehr naturwissenschaftlich ausgerichteten Behaviorismus mit seinen Reiz-Reaktions-Modellen darstellt. Ihrem Ansatz ist auch LEWIN verpflichtet, der mit seiner im Jahr 1930 veröffentlichten Abhandlung "Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie" (s. LEWIN 1971) die Grundlage für eine psychologische Betrachtungsweise legte, die nicht die Veränderung einzelner Verhaltensweisen in Abhängigkeit isolierter Umweltvariablen zu erfassen sucht, sondern eine möglichst präzise Erfassung der Gesamtsituation anstrebt. Während die auf der aristotelischen Lehre aufbauende Wissenschaft an der statistischen Häufigkeit von Verhaltensweisen, die unter kontrollierten Umweltbedingungen ablaufen, interessiert ist, stellt LEWIN den individuellen Fall und die Gesetzmäßigkeiten von Beziehungen zwischen seinen Konstruktionselementen in den Mittelpunkt.

Obwohl LEWIN seinen Ansatz relativ früh durch die Begründung der Feldtheorie und der topologischen Psychologie in den 30er und 40er Jahren ausgebaut hat (s. LEWIN 1963 und 1969), wurde seine Forderung nach der "Bezugnahme auf die volle Konkretheit der einzelnen Situation" (LEWIN 1971, S. 36) erst zu Beginn der 70er Jahre mit der "ökologischen Perspektive" in der Psychologie aufgegriffen. Der ökologische Ansatz hat sich in erheblichem Maße auf die Entwicklung von Theorien und Methoden in zahlreichen Teilgebieten der Psychologie ausgewirkt (vgl. GRAUMANN 1978; KAMINSKI 1976).

Auch das Vorgehen in der jüngeren Austauschforschung wird von einem ökologischen Ansatz geprägt. So betont BREITENBACH (1983a,b), daß die Austauschforschung "die subjektive Situationsdefinition" des Individuums in den Mittelpunkt der Analyse stellen muß. SCHADE (1983) stellt fest, daß es in der Austauschforschung notwendig wird, "von einer Wechselbeziehung auszugehen zwischen einem Subjekt, das einerseits seine Umwelt wahrnimmt, diese interpretiert, mit Bedeutungen versieht und auch in sie hineinagiert, und andererseits in bezug auf sein Verhalten von den relevanten Variablen dieser Umwelt selbst beeinflußt wird" (S. 45).

Das zentrale Merkmal einer "ökologischen Perspektive" charakterisiert ECKENSBERGER (1978) folgendermaßen:

"Eine Organismus-Umwelt-Gegenüberstellung wird so weit als möglich aufgehoben, indem man beide Phänomene in einem Denkmodell abbildet, also Organismus-Umwelt-Verknüpfungen sowohl praktisch-technisch als auch erkenntnistheoretisch als die eigentliche Analyseeinheit