Herfried Münkler

Mitte und Maß

Der Kampf um die richtige Ordnung

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Mitte und Maß

Das «Rad der Geschichte» – von den großen Erzählungen als Orientierungshilfen bei der Wanderung durch die Zeit

Was heißt «Mitte der Gesellschaft» – und wer gehört dazu?

Die bedrohte Mitte

Das verlorene Maß

Vom Nutzen und Nachteil der Mitte für die Gesellschaft

2. Mitte und Macht

Die Mitte an die Macht! Aristoteles, Rousseau und Kant

Mischverfassung oder Beamtenherrschaft: Polybios, Cicero, Machiavelli und Hegel

Die Entstehung des Rechts-Links-Gegensatzes und die Neupositionierung der Mitte

Justemilieu und Biedermeier: Schopenhauers Suche nach der Mitte

Wider die Herrschaft des Mediokren: Nietzsches Kritik der Mitte

Die Mitte als Revolutionsblockade: Marx’ Kritik des Kleinbürgertums

3. Mitte und Raum

Vom Kampf um die «wahre» Mitte

Die Stadt als Mitte und die Mitte der Stadt

«Herzland» und Jerusalem: Heilsgeschichtlich-geostrategische Debatten

Flügelmächte, Einkreisungsängste und Mitteleuropa

«Innere Linie», Schlieffenplan und Hitler-Stalin-Pakt: Vom strategischen Agieren aus der Mitte

4. Das neue Deutschland – eine Republik der Mitte?

Weimar als Warnung: Die Republik der Extreme

«Nivellierte Mittelstandsgesellschaft»: Die Bonner Republik

Alte und neue Mitten

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Die Mitte gilt als ein Ort der Sicherheit und der Beständigkeit. Während links und rechts Gefahren drohen und sich die Avantgarde in unerkundete Gebiete vorwagt, verspricht die Mitte Ausgleich, Wohlstand, Frieden. Wer in der Mitte bleibt, ist gut beraten: Die von außen andringenden Gefahren betreffen zunächst einmal andere, und man kann von hier aus Bündnisse mit allen Seiten schließen. Außerdem bekommt man bei einem unvorhergesehenen Richtungswechsel leicht die Kurve, um sich danach erneut mittig zu positionieren. Da scheint es zunächst widersinnig, dass der Barockdichter Friedrich von Logau, ein von seiner politischen Grundhaltung her eher konservativer Mann, in einem seiner Sinngedichte festgehalten hat: «In Gefahr und großer Noth/​Bringt der Mittel-Weg den Tod.»

Ende der 1960er Jahre ist dieser Zweizeiler in der Bundesrepublik zur Leitmaxime derer geworden, die der penetranten Orientierung der Gesellschaft auf die Mitte überdrüssig waren. All denen, die meinten, in der Mitte lasse sich am ehesten Ruhe und Sicherheit finden, warfen sie mit Friedrich von Logau vor, eine verhängnisvolle Form von Unentschiedenheit und Unentschlossenheit zu fördern. Dabei hatten sie selbstverständlich auch das Verhalten der Deutschen im Nationalsozialismus vor Augen, die mehrheitlich vermieden hatten, sich durch Widerspruch und Widerstand zu exponieren. In einer Situation jedoch, in der man Position beziehen muss, böten die Lebensmaximen von Mitte und Maß keine Sicherheit. Im Gegenteil: Sie führten ins Verderben.

Ob das ein angemessenes Verständnis des Logau’schen Sinngedichts war, sei dahingestellt. Logau schrieb es unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges, als sich ein politisch-konfessioneller Entscheidungszwang über Europa ausgebreitet hatte, der den Mittelweg gefährlich werden ließ. Wer sich nicht auf eine der Seiten schlug, geriet «zwischen die Fronten». Er hatte nur noch Gegner, keine Freunde mehr. Die Welt war in Unruhe geraten, alles änderte sich, sogar der Ort, der in Friedenszeiten der sicherste war, hatte sich in den gefährlichsten verwandelt. Das war für einen konservativen Mann wie Logau eine bittere Erfahrung. Er zog daraus die Lehre, dass man die äußeren Bedingungen im Auge behalten musste, um erkennen zu können, wo man sicher war und wo der Tod lauerte. Selbst die Mitte konnte unter Umständen riskanter sein als eine Position auf den Extremen.

Diese Ansicht widerspricht den tiefsten Überzeugungen des Justemilieu, wie man seit dem 19. Jahrhundert jene Gemengelage aus Schichten und Klassen nennt, die sich in der Mitte der Gesellschaft eingerichtet haben und den Mittelweg nicht nur für den sichersten, sondern auch moralisch gesehen für den einzig gangbaren halten. Das Gefühl der Sicherheit paart sich hier mit einem reinen Gewissen: Jeder gute, anständige Mensch könne es schaffen, in der Mitte anzukommen; wem das nicht gelinge oder wer sich gar aus ihr entferne, offenbare einen Mangel an Klugheit, Leistungsfähigkeit und Sittlichkeit und dürfe sich nicht wundern, wenn das Unglück ihn ereilt. Dem aufgeblasenen Selbstbewusstsein des Justemilieu wollten die «68er» mit Logaus Sinngedicht einen Stich versetzen. Wenn man es damit schon nicht zum Platzen bringen konnte, so war ihm damit doch ein gehöriger Schrecken einzujagen.

Dabei konnten jene, die in den Anfängen der Bonner Republik ihren Platz in der gesellschaftlichen und politischen Mitte gefunden hatten, zunächst einmal den Anspruch geltend machen, dass sie die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen hätten, die bekanntlich eine Republik ohne Mitte gewesen und am Gegensatz der Extreme zugrunde gegangen sei. Und sie konnten auf den Nutzen verweisen, den die Mitte hat: Sie halte die politischen Flügel zusammen und verhindere so den Ausbruch eines Bürgerkriegs; sie biete den Aufstiegswilligen nicht nur ein Ziel, sondern gebe ihnen auch die Mittel und Methoden an die Hand, mit denen sie es erreichen können; daher schotte sich die Mitte auch keineswegs gegen den Rest der Gesellschaft ab, sondern fördere die gesellschaftliche und politische Integration. Kurz, die Mitte – und vermutlich sie allein – sei in der Lage, die ökonomischen wie kulturellen Fliehkräfte einer Gesellschaft zu bändigen. Angesichts dieser Leistungen dürfe man das Selbstbewusstsein der Mitte nicht mit Selbstgerechtigkeit verwechseln.

Die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 ist durch diese Debatte über Funktion und Wert der Mitte gekennzeichnet. Das allein schon zeugt von hoher politischer und sozialer Stabilität. Nicht, dass die Mitte gefehlt hätte, war über Jahrzehnte das Problem, sondern es wurde über die Frage gestritten, ob eine starke Mitte womöglich auch Kosten verursache, worin diese bestünden und wie hoch sie seien. Dass ein Land, das keine anderen Sorgen hat als diese, glücklich zu nennen ist, wird man nicht in Abrede stellen wollen. Aber kaum hat man dies zugestanden, muss man sich mit Hegels geschichtsphilosophischer Beobachtung auseinandersetzen, wonach die Perioden des politischen Glücks die leeren Seiten der Weltgeschichte seien. Und in der Tat füllen die Zeiten, in denen die Mitte das Sagen hat, nur sehr knappe Abschnitte im Buch der Weltgeschichte. Wer in ihm liest, wird der Herrschaft der Mitte nicht häufig begegnen beziehungsweise muss schon genauer hinschauen, um ihre Spuren zu entdecken. Ein solcher Versuch soll nachfolgend unternommen werden.

 

Dass die Geschichte von Staaten und Gemeinwesen mit einer starken Mitte weniger spektakulär ist als die jener, die zwischen den Extremen zerrissen sind, wird durch die Beschäftigung mit den sechs Dekaden bundesrepublikanischer Geschichte bestätigt. Wo man sich an Mitte und Maß orientiert, wird es den Zeitgenossen schnell langweilig. Dass dies während der 1950er und 1960er Jahre in Deutschland nicht der Fall war, hatte vor allem damit zu tun, dass man nach dem verheerenden Krieg auf Ruhe und Sicherheit aus war. In der Rückschau ist das anders. Dementsprechend richten die Deutschen, wenn sie sich mit ihrer Geschichte befassen, die Aufmerksamkeit gern auf die Zeit zuvor, in der von einer selbstbewussten, starken Mitte und einer an ethischen Maßstäben orientierten deutschen Politik nicht die Rede sein konnte. Das meist als Bereitschaft zur konsequenten Aufarbeitung der Geschichte ausgegebene Interesse an den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, an zwei Weltkriegen und selbst das an der Weimarer Republik kann auch als neugierige Hinwendung zu jenen Zeiten gedeutet werden, als alles noch spannend und aufregend war. Das Angebot an historischen Dokumentationen, mit denen das deutsche Fernsehpublikum versorgt wird, zeigt jedenfalls ein dramatisches Übergewicht der relativ kurzen Zeit nationalsozialistischer Herrschaft gegenüber der ungleich längeren Zeit der Bundesrepublik. Und was die Geschichte der Bundesrepublik bis 1989 selbst angeht, so wird den Terroranschlägen und Attentaten der «Roten-Armee-Fraktion» eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit zuteil. Das Extreme ist spannender und aufregender als die Mitte.

Die immerwährende Beschäftigung mit Baader, Meinhof und anderen ist eine späte Bestätigung für Hegels Beobachtung, wonach die Perioden politischen Glücks die leeren Seiten der Weltgeschichte seien. Wo die Mitte für eine an Wohlstand und Frieden orientierte Politik sorgt, geschieht wenig Außergewöhnliches, und man sucht nach Abwechslung. Auch wenn heutzutage die Unterhaltungsindustrie dieses Verlangen durchaus sozialverträglich befriedigen kann und so dazu beiträgt, dass es nicht auf den Bereich des Politischen übergreift, besteht die größte Gefahr für eine von der Mitte beherrschte politische Ordnung darin, dass sich eine lähmende Langeweile in der Gesellschaft breitmacht. Insbesondere die Jüngeren werden irgendwann der Ruhe überdrüssig. Die Aktivsten und Engagiertesten unter ihnen halten im Bündnis mit den moralisch Sensiblen und denen, die auf der Suche nach ästhetischer Abwechslung sind, Ausschau nach Anregungen und Aufregungen, und sie können sich dabei der Aufmerksamkeit der Medien sicher sein. Das unverhältnismäßige Gewicht, das diese Suche so bekommt, sorgt freilich auch dafür, dass von den Rändern her eine Erregtheit in die Mitte hineingespiegelt wird, die einen unverzichtbaren Beitrag zu deren innerer Stabilisierung leistet. Die begrenzte Unruhe an der Peripherie verhindert, dass die Ruhe in der Mitte dieser gefährlich wird. Die Mitte ist somit in weitaus höherem Maße auf die sie umgebenden Extreme angewiesen, als sie wahrhaben will. Sie zapft den notorischen Erregungszustand der Peripherie an, um die Ruhe zu bewahren. Das aber heißt, dass die Mitte beschränkt bleiben muss. Wo alles Mitte ist, ist es mit der Mitte schnell vorbei. In diesem Sinne ist sie nicht nur der Hüter des Maßes, sondern muss auch selbst Maß halten. Das fällt ihr nicht immer leicht.

 

Nun scheint die für die Bundesrepublik seit ihrer Gründung charakteristische Expansion der Mittelschichten, denen sich schließlich weit mehr als die Hälfte aller Deutschen zugehörig fühlten, inzwischen an ein Ende gekommen zu sein, und allgemein ist von einer Trendumkehr die Rede. Kaum hatte das neue Jahrtausend begonnen, setzte eine bis heute anhaltende Debatte über die Bedrohung der Mitte ein, wobei die einen deren Überlastung durch immer höhere Transferleistungen beklagen, während die anderen vor dem drohenden Zerfall der Mitte warnen, da die Besserverdienenden die Solidarität mit jenen aufgekündigt hätten, denen der soziale Abstieg drohe. Für die einen stellt ein aus den Fugen geratener Wohlfahrtsstaat das Problem dar, für die anderen ein entfesselter Kapitalismus: Nachdem es in Europa nach dem Krieg gelungen war, mit einer Reihe von ordnungspolitischen Maßnahmen dessen zerstörerische Kräfte zu bändigen, habe man es jetzt mit einem Kapitalismus zu tun, der keinerlei Maß mehr kenne. Der Vorwurf, die Gier einiger Manager und Investmentbanker sei für die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich, wird durch die Forderung des Maßhaltens ergänzt; sie hat in der Krise Konjunktur. Aber wer soll maßhalten? Die einen richten diese Forderung an die wirtschaftliche Elite, die anderen an den Rest der Gesellschaft, insbesondere an die Transferempfänger. Die Debatte über die richtige Ordnung der Gesellschaft ist vor allem eine Debatte über das rechte Maß. Welche Rolle spielt dabei die soziopolitische Mitte? Ging man in den ersten fünf Dekaden der Bundesrepublik noch davon aus, dass eine starke Mitte in der Lage sei, dem rechten Maß in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen, so haben sich mittlerweile Ursache und Wirkung umgekehrt – wo das Maß verloren gegangen sei, werde auch die Mitte keinen Bestand haben.

Während der Alarmismus einer gesellschaftlichen Spaltung im Wesentlichen als Hilferuf der unteren Mitte zu verstehen ist, die aus der Mitte herauszufallen und in die Unterschicht abzusinken droht, so ist die Warnung vor einer Überforderung der Leistungsträger, ihrem schrumpfenden finanziellen Spielraum infolge von Steuern und Sozialabgaben, ein Hilferuf der oberen Mitte: Die Grenze der Belastbarkeit sei erreicht, wenn nicht längst überschritten. Der immer wieder aufflammende Streit über Ausgabenkürzungen des Staates oder Steuererhöhungen, fehlende Leistungsgerechtigkeit oder mangelnde Solidarität ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die soziopolitische Mitte jene relative Geschlossenheit verloren hat, die der Bundesrepublik über Jahrzehnte eine bemerkenswerte politische Stabilität verlieh. Die soziale Dynamik der westlichen Gesellschaften insgesamt und Deutschlands im Besonderen hat sich umgekehrt. Statt die Mitte zu stärken, befördert sie seit einiger Zeit die soziale Polarisierung. Um diese in Grenzen zu halten, sind immer größere staatliche Transferleistungen vonnöten. Die aber lassen sich nicht finanzieren, ohne die obere Mitte noch stärker zu belasten. Diese wiederum setzt der Warnung vor der Spaltung der Gesellschaft die vor dem Ruin der Mitte entgegen, die ausgepresst und in die Zange genommen werde.

 

Das ist die andere Seite des Mitte-Diskurses: Wo von der Gefahr die Rede ist, man könne in die Zange genommen werden, da erscheint die Mitte nicht als ein in sich ruhendes Zentrum, da ist sie keine stolze, dominante Mitte, sondern ein Ort des Bedroht- und Gefährdetseins, der Einschließung durch einen Ring von Feinden, die den Umzingelten erdrücken und erwürgen wollen. Diese Vorstellung, die in den letzten Jahren für das Selbstbild der oberen Mitte bestimmend geworden ist, entstammt der Geopolitik und hat die geostrategischen Vorstellungen der politisch-militärischen Eliten Deutschlands zwischen Reichsgründung und bedingungsloser Kapitulation im Mai 1945 geprägt. Die Angst, eingekreist zu werden, schlug sich immer wieder in Plänen zur Führung eines «Präventivkriegs» nieder, mit dem man den Ring der (möglichen) Feinde sprengen wollte, und gelegentlich hoffte man auch, die Mittellage lasse sich nutzen, um von ihr aus eine beherrschende Position innerhalb Europas zu erlangen. Es war nicht zuletzt die geopolitische Position in der Mitte, die für die Geschichte Deutschlands – und damit Europas – im 20. Jahrhundert entscheidend geworden ist.

Mit der Überlagerung geopolitischer durch geoökonomische Fragen hat der Mitte-Diskurs eine neue Wendung genommen. Der rasante wirtschaftliche Aufstieg Chinas löste eine weitere Welle des Alarmismus aus: Europa (beziehungsweise der atlantische Raum unter Einschluss der USA), das seit den Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts die Position im Zentrum der Weltwirtschaft erlangt und schrittweise ausgebaut hat, stehe im Begriff, an den Rand gedrängt und zur weltwirtschaftlichen Peripherie zu werden. Die eigenen Rohstoffe sind weitgehend erschöpft, die Bevölkerung ist im Vergleich mit den jungen, aufstrebenden Regionen überaltert, und die Fähigkeit zu dynamischer Innovation hat spürbar nachgelassen. Europa ist alt und müde geworden. Es hat die Kraft verloren, die weltwirtschaftlichen Fäden in der Hand zu behalten. Vor allem in Deutschland als dem wirtschaftlich stärksten und wichtigsten Land Europas wird diese neue Debatte über den «Verlust der Mitte» geführt. Es ist abermals eine Bedrohungsdebatte. Aber während es im frühen 20. Jahrhundert um die Frage ging, welche Gefahren die geostrategische Mittellage berge, steht heute die Angst im Vordergrund, man könne an die Peripherie geraten. Was für die Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fluch der Mitte war, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts der drohende Verlust dieser Position geworden.

So ist die Mitte ein genuin deutsches Thema. In den letzten zwei Jahrhunderten waren die Deutschen fortwährend mit der Mitte beschäftigt. Wenn sie nicht auf der Suche nach ihr waren, trieb sie die Vorstellung um, sie müssten sich vor den mit ihr verbundenen Gefahren schützen. Und als sie zwischen 1945 und 1990 die Position in der Mitte des Kontinents verloren hatten, weil das geteilte Europa keine Mitte mehr besaß, bildete sich in der Bonner Republik eine starke gesellschaftliche Mitte heraus, wie es sie zuvor noch nie gegeben hatte, in dieser Form bei den europäischen Nachbarn nicht gab und vorerst auch in Deutschland nicht mehr geben wird. Es ist daher anzunehmen, dass die mitteversessenen Deutschen sich auf die Suche nach neuen Mitten machen werden, auch wenn im Augenblick nicht abzusehen ist, wo sie diese finden wollen oder finden können.

 

Die Ambivalenz der Mitte im Allgemeinen und die Folgen der Mittesuche bei den Deutschen im Besonderen sind das Thema dieses Buches. Dabei wird es immer auch um die Verbindung von Mitte und Maß gehen. Mit Maß ist freilich kein beliebiger Maßstab gemeint, sondern «das rechte Maß», das selbst eine Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig ist. Das Maß ist eine Verstärkung der Mitte, so wie die Mitte als der Ort gilt, an dem das rechte Maß am leichtesten und sichersten gefunden werden kann. Doch der Auffassung, die soziopolitische Mitte sei der berufene Hüter und Wahrer des Maßes, der die Extreme im Zaum hält und Exzesse verhindert, steht die Überzeugung entgegen, eine Mitte, die ihr eigenes Maß zum Maßstab für alle macht, drohe das Außergewöhnliche und Herausragende zu verhindern und alles auf Mittelmaß zu reduzieren. Dass derjenige, der diese Überzeugung am schärfsten und deutlichsten formuliert hat – der Philosoph Friedrich Nietzsche –, ein Deutscher war und zugleich am wenigsten ein Deutscher sein wollte, bestätigt bloß, was über die Mitte als speziell deutsches Thema gesagt wurde.

Die Mitte wird im Folgenden zunächst – bevor sie im letzten Kapitel als spezielles Problem der deutschen Politik der letzten hundert Jahre in den Blick gerät – in ihrem Verhältnis zu Maß, Macht und Raum erkundet. Dabei wird deutlich, dass die Mitte keineswegs nur ein deutsches Thema ist, sondern dass seit den Anfängen des politischen Denkens über ihren Nutzen und ihre Gefahren diskutiert wird. Jetzt, da es sich nicht mehr von selbst versteht, dass die Stärkung von Mittelstand und Mittelschicht der gesellschaftlichen und politischen Mitte Stabilität verleiht, lohnt sich ein Blick auf alternative Modelle, die in der Geschichte entwickelt worden sind. Das gilt in ähnlicher Weise für die Frage nach dem rechten Maß, mit der sich Theologen, Philosophen und Ökonomen von jeher beschäftigt haben, beziehungsweise nach den (meist unter dem Stichwort der «Entfesselung» diskutierten) Konsequenzen, die das Fehlen des Maßes haben kann. In der Debatte über den drohenden Verlust der Mitte – von der Weltwirtschaft bis zu Politik und Gesellschaft, vom moralischen Habitus bis zum Entwurf eines gelingenden Lebens – wird und muss die Mitte neu vermessen werden. Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten, indem es den Mitte-Diskursen früherer Zeiten nachgeht und sie auf ihre Brauchbarkeit für gegenwärtige wie zukünftige Herausforderungen befragt.

 

Berlin und Dresden, Mai 2010

1. Mitte und Maß

Noch bevor Nikolaus Kopernikus die Erde und mit ihr das Menschengeschlecht aus dem Mittelpunkt des kosmischen Geschehens verbannte und auf eine Umlaufbahn um die Sonne schickte, hat Leonardo da Vinci, als hätte er die bevorstehende Depotenzierung des Menschen ausgleichen wollen, diesen zum Maß für die Ordnung der Proportionen gemacht und dabei die menschliche Gestalt genutzt, um Quadrat und Kreis ineinanderzufügen. In seinem Traktat über die Malerei hat Leonardo sich auf den römischen Architekten Vitruv berufen und dessen Überlegungen zur Wohlproportioniertheit des Menschen in jener berühmten Skizze umgesetzt, die zum Symbol für das neue Selbstbewusstsein des Renaissancemenschen wurde: «Liegt […] ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur des Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.»1

Was einer auf sich selbst gestellten Geometrie unmöglich war, gelingt, sobald der Mensch als Vermittler ins Spiel kommt: die Quadratur des Kreises. Der Mensch fügt sich hier nicht bloß in die Grundfiguren der Geometrie, sondern konstituiert sie geradezu. Sein Maß wird zum Maßstab des Schönen und Guten. Mit der Durchsetzung des kopernikanischen Weltbildes ist der Mensch zwar aus dem Aufmerksamkeitsfokus des Weltenschöpfers verschwunden, aber dafür hat er aus dem Innern seines eigenen Weltentwurfs die kosmische Ordnung neu erschaffen und sich als deren unerschütterliches Zentrum positioniert.2 Sein Nabel wird zum Mittelpunkt des Kreises, und seine Fingerspitzen, Fußsohlen und sein Scheitel geben das Maß des Quadrats vor.

Dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, war seit der griechischen Sophistik freilich eine Sicht, die nicht unwidersprochen geblieben ist; Platons Philosophie kann als eine einzige große Anstrengung zur Widerlegung des auf den Sophisten Protagoras zurückgehenden homo-mensura-Satzes begriffen werden. Wenn nämlich der Mensch das Maß aller Dinge war, wie Protagoras erklärt hatte, dann war er auch der Maßstab aller Werte, und dann gab es keine feste Position mehr, von der aus sein Denken und Handeln beurteilt werden konnte.3 Dann war alles relativ, dann entschieden entweder die Mehrheit oder die Stärkeren, oder die Entscheidung war dem Belieben eines jeden Einzelnen anheimgestellt. Eines war schlimmer als das andere. Die große Masse, so Platon, neige zur Maßlosigkeit, und der beliebige Einzelne sei ohne Orientierung. Die Harmonie der Proportionen, wie Leonardo sie sinnfällig gemacht hat, war eine des idealen Menschen; die realen Maße der empirischen Menschen sahen allerdings ganz anders aus – nicht bloß in physischer, sondern auch in moralischer Hinsicht. Wie aber konnte man die Menschen dazu bringen, das Idealmaß zur Richtschnur des eigenen Verhaltens zu machen? Auf diese Frage gab es im Prinzip nur zwei Antworten. Die eine lautete: durch Erziehung, und die andere: durch eine institutionelle Ordnung. Natürlich ließ sich beides auch miteinander kombinieren. In jedem Fall kam es aber darauf an, den Menschen – das «noch nicht festgestellte Tier», wie Nietzsche ihn genannt hat4 – auf ein Maß zu verpflichten, an dem er sich orientieren konnte. Die Fähigkeit des Maßhaltens hing zuallererst davon ab, dass es ein Maß gab und zugleich eine Autorität oder ein Regelsystem, die dieses Maß verbindlich machte. Beides ist freilich alles andere als selbstverständlich.

Es kommt nicht von ungefähr, dass als Autorität und Regelgeber immer wieder die Mitte – die Mitte der Gesellschaft, die Mitte zwischen den politischen Gegensätzen oder auch Personen in der Mitte des Lebens – angerufen worden ist. Anders als bei den Gegensatzpaaren von oben und unten oder rechts und links konnte man bei der Mitte nämlich davon ausgehen, dass hier die negativen Auswirkungen der Selbstbevorzugung beziehungsweise der Benachteiligung der anderen sich in Grenzen hielten. Die Position in der Mitte zwang zum Maßhalten zwischen den Extremen.

Als das antike Athen einmal mehr aus dem Gleichgewicht geraten war und die Stadt auf der Schwelle zum Bürgerkrieg stand, beauftragte man Solon, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Man traute ihm dies zu, weil er als Mann der Mitte galt. In seinen Gedichten hat Solon die Wahrung der Mitte als Königsweg bei der Suche nach dem rechten Maß bezeichnet.5 Er habe den Ausgleich zwischen Ober- und Unterschicht gesucht und ihn in der Mitte zwischen beiden gefunden:

 

«Denn dem Volke gab ich Befugnis so viel wie genug ist,

von seiner Ehre nichts nahm ich und tat nichts hinzu.

Doch zu denen man aufsah des Reichtums halber, die Mächt’gen,

auch die ließ ich nur das haben, was ihnen gebührt,

stellte mich hin und deckte den Schild meiner Macht über beide.

Siegen entgegen dem Recht ließ ich nicht die und nicht die.»6

 

So haben sich Mitte und Maß seit den Anfängen des politischen Denkens gegenseitig gestützt und verstärkt.7 In der Philosophie des Aristoteles avancierte diese Wechselbeziehung schließlich zum Inbegriff der guten Ordnung in der Gesellschaft wie im Leben des Einzelnen.8

Welche Folgen es haben kann, wenn dem Menschen die Mitte fehlt, haben die Ärzte Hippokrates und Galen am Typus des Melancholikers erläutert. Unvermittelt schlägt seine Stimmung von einem Extrem ins andere um – himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.9 Für den Melancholiker hat die Suche nach der Mitte, die ihm vermutlich der Philosoph Theophrast als Erster nahegelegt hat, therapeutische Qualität; er kann seine genialischen Fähigkeiten nur entfalten, wenn er die extremen Gefühlslagen meidet. Der Königsweg bei der Suche nach der fehlenden Mitte ist die regulierte Lebensführung, und das entspricht so gar nicht dem Bild, das sich die Moderne unter dem Einfluss der Romantik vom Genie gemacht hat. Ob es dem Menschen gelang, seine Talente und Fähigkeiten auszubilden oder nicht, hing nach Auffassung der griechischen Mediziner davon ab, dass er seine jeweilige Mitte fand und das durch sie definierte Maß hielt.

Das schließt nicht aus, dass es auch in der Antike Exzentrikern und Außenseitern gegenüber eine Schau- und Sensationslust gegeben hat. Die «gute Gesellschaft», die sich konsequent in der Mitte hält und den Ausbruch in die Extreme vermeidet, will unterhalten werden, und sie unterhält sich am besten, wenn sie die Exzentriker in ihrer Maßlosigkeit betrachtet und dabei erkennt, wie das Ausleben des Maßlosen zu allerhand Absonderlichkeiten führt, um schließlich im großen Zusammenbruch zu enden. Die unterhaltsame Abwechslung wird zur Belehrung und Bestätigung. Aus sicherer Entfernung beobachtet man das Scheitern derer, die die Mitte nicht halten, und die Beobachtung des Scheiterns wird zur Bestätigung dafür, dass es sich lohnt, den Verlockungen des Maßlosen zu widerstehen. Moderne Gesellschaften zumal widmen dem Exzentrischen und den Exzentrikern große mediale Aufmerksamkeit: Das maßvolle Leben in der Mitte ist in seiner vernünftigen Ausgeglichenheit eher langweilig, außer wenn es durch persönliche Schicksalsschläge oder Katastrophen aus der Bahn geworfen wird. In der Gleichförmigkeit des Alltags ist die Mitte auf Abwechslung durch Außenseiter angewiesen, um nicht in jener Langeweile zu versinken, die dann dazu verführt, die ersehnte Abwechslung in eigener Maßlosigkeit zu suchen.

Zumindest unterhaltungstechnisch kommt die Mitte also nicht ohne Exzentriker und Außenseiter aus. Sie ermöglichen ihr, das Gleichgewicht zu halten. Darin zeigt sich die untergründige Ambivalenz der Mitte. Mag sie auch noch so lautstark bekunden, sie ruhe in sich selbst, so braucht sie doch die permanente Selbstbestätigung durch ein sie umgebendes Außenseitertum. Auch parteipolitisch hält bekanntlich nichts das Wählervolk der Mitte zuverlässiger zusammen als der immer wieder erneuerte Blick auf die Radikalen und Extremisten mit ihren gefährlichen Absichten. Von sich aus erstrahlt die Mitte also keineswegs in dem goldenen Licht, in das Horaz sie mit seiner berühmten Formel von der aurea mediocritas, der goldenen Mitte, getaucht hat.10 Es sind die Außenseiter und Extreme, die der Mitte ihren goldenen Schimmer verleihen.

Mitunter genügt der Voyeurismus medialer Unterhaltung aber nicht, um das Ethos des Maßhaltens zuverlässig zu leben, weswegen wir kulturgeschichtlich schon früh jenen Perioden lizensierter Maßlosigkeit begegnen, in denen die Mitte der Gesellschaft von den Anstrengungen des Maßhaltens vorübergehend entbunden wird. Im neuzeitlichen Europa war und ist dies der Karneval, in dem die sonst gültigen Regeln aufgehoben sind und man sich ungestraft dem Exzess hingeben kann. Es ist aber klar – jedenfalls war es das bis vor wenigen Jahrzehnten –, dass die Welt nur für eine kurze Zeit auf den Kopf gestellt werden darf. Um die Rückkehr in die gewohnten Bahnen sinnfällig zu machen, folgten auf die Tage der Maßlosigkeit Wochen des Verzichts und der Enthaltsamkeit. Karneval und Fastenzeit gehörten zusammen. So blieb auch hier die Mitte gewahrt, wenngleich in zeitlicher Streckung.

Man darf also bezweifeln, dass Hans Magnus Enzensberger recht hat, wenn er ein Verschwinden des Außenseitertums durch das Dominantwerden des Mittelmaßes konstatiert: «Das Mittelmaß nimmt Rache an seinem Gegenspieler. Es hat die kulturelle Opposition eingemeindet, das Außenseitertum verschluckt.»11 Das genaue Gegenteil ist der Fall; gerade das Mittelmaß muss Außenseitertum ständig neu hervorbringen, um es mit sich auszuhalten. Dementsprechend alimentiert die Mitte Exzentriker, um sich an ihnen zu ergötzen. Von den Familienserien des Vorabendprogramms bis zu den Big-Brother-Staffeln, von den Traumschiff-Reisen bis zu den Casting-Shows, bei denen Bewerber und Jury sich in Exzentrizität wie Vulgarität gegenseitig überbieten, lassen sich dafür Beispiele zusammenstellen. Ohne Außenseitertum hat die Mitte auf Dauer keinen Bestand, und wo sie es versehentlich «verschluckt» haben sollte, muss sie es schleunigst wieder hervorbringen. Wie schon Solon die von ihm bevorzugte Mitte mitsamt ihrem Maß nur unter Verweis auf die opponierende Ober- und Unterschicht zu definieren vermochte, so kommen auch die modernen Bemühungen um die Mitte nicht aus ohne die Stabilisierungsleistung von außen. Nicht das Maß bestimmt die Maßlosigkeit, sondern erst aus der Entgegensetzung zweier Maßlosigkeiten, eines Zuviel und eines Zuwenig, bekommen wir die Vorstellung des Maßvollen.12 Auch Aristoteles, der «Philosoph der Mitte», hat auf diese Weise die Mitte definiert.

 

Das ist die Paradoxie, der man bei der Suche nach der Mitte und der Beschäftigung mit den Mittesuchern immer wieder begegnet: dass die Mitte umso selbstgewisser und sicherer ist, je mehr sie von einander entgegenwirkenden Kräften flankiert wird, und dass ihre Kraft schmilzt wie Schnee in der Sonne, sobald sie die alleinige Deutungshoheit in der Gesellschaft erlangt hat. Ist die Mitte erst an der Macht, verfällt sie der Ohnmacht.13 Das ist die politische Paradoxie der Mitte. Deshalb hat sie ein notorisch unglückliches Verhältnis zu sich selbst. Sie ist auf die anderen angewiesen, um bei sich sein zu können. Und das gilt erst recht für die der Mitte obliegende Aufgabe, Maßstäbe herzustellen und sich ums Maßhalten zu kümmern. Der Blick auf Leonardos am menschlichen Leib gewonnene Harmonie der Proportionen bestätigt das. Die Mittigkeit des Nabels wird erst erfahrbar durch den um die Extremitäten geschlagenen Kreis, und das Ebenmaß von Körperlänge und ausgebreiteten Armen wird erst sichtbar durch das danach bemessene Quadrat.

Im Unterschied zu den genuinen Theoretikern der Mitte hat der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner die Exzentrizität der menschlichen Existenz zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht. Der Mensch befinde sich existenziell nicht in der Mitte, sondern müsse sich die Mitte selber schaffen; um sich ins Gleichgewicht zu bringen, brauche er künstliche Gegengewichte. Er muss, mit anderen Worten, Maßloses wollen, um sein Maß zu finden, und das wiederum hat zur Folge, dass er ein notorisch gefährliches wie gefährdetes Lebewesen ist. Es ist die Perspektive Friedrich Nietzsches, die Plessner hier einnimmt: «Daß der Mensch mit seinen natürlichen Mitteln seine Triebe nicht befriedigen kann, daß er nicht zur Ruhe kommt in dem, daß er ist, und mehr sein will, als er ist und daß er ist, daß er gelten will und zur Irrealisierung in künstlichen Formen des Handelns, in Gebräuchen und Sitten unwiderstehlich hingezogen wird, hat seinen letzten Grund nicht im Trieb, im Willen und in der Verdrängung, sondern in der exzentrischen Lebensstruktur, im Formtypus der Existenz selbst.»14

Plessner spricht von der «konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit» des Menschen, die durch Kultur und Institutionen balanciert werden muss.15 Das aber kann nicht gelingen ohne die Maßlosigkeit der auf die Hervorbringung künstlicher Welten gerichteten Tätigkeit. Ist die Mitte der Mediokren auf Außenseiter und Exzentriker angewiesen, die sie unterhalten und ihnen zugleich die Gewissheit geben, das Richtige zu tun beziehungsweise das Richtige zu sein, so machen bei Plessner die wild-unkontrollierten Anstrengungen der Exzentriker Mitte und Maß überhaupt erst möglich. Damit ist auch klar, dass der menschlichen Suche nach Maß und Gleichgewicht das fortwährende Scheitern ebenso eingeschrieben ist wie die Maßlosigkeit des Strebens. Dass die Mitte getroffen und das Maß gewahrt wird, ist eher ein Zufall als das Ergebnis einer zielgerichteten Suchbewegung.

Das Verhältnis von Mitte und Maß kann, wie dieser kursorische Umblick zeigt, auf sehr unterschiedliche Weise angegangen werden. Mitte und Maß können, wie im ptolemäischen Weltbild oder in der Proportionsstudie Leonardos, als von Natur aus gegeben angesehen werden, wobei es dann nur noch darauf ankommt, das Verborgene aufzudecken. Sie können aber auch, wie bei Plessner, als etwas Flüchtiges und Zufälliges gedacht werden, etwas, das sich erst im Nachhinein und nur hinterrücks einstellt, weswegen man es auch nicht anstreben oder anzielen kann. Genau das jedoch hat Aristoteles, auch hierin ein Vertreter der Mitte, als möglich behauptet. Im Bild der Bogenschützen, die nicht direkt auf den Mittelpunkt einer Scheibe zielen dürfen, wenn sie ihn treffen wollen,16 hat er versucht, einen systematischen Zusammenhang zwischen dem Übers-Ziel-Hinausschießen und dem Treffen des Ziels herzustellen. Mit Blick auf die Faktizität der Welt hat er ein Stück Exzentrizität ins Zielen auf die Mitte eingebaut. Deswegen ist für Aristoteles das Treffen der Mitte und das Wahren des Maßes auch weder banal noch langweilig. Im Gegenteil: Wie das Beispiel der Bogenschützen verdeutlicht, ist dazu nur eine kleine Elite unter großen Anstrengungen fähig. Um sich ihrer zu vergewissern, braucht diese Mitte-Elite weder Exzentriker und Extremisten noch Außenseiter und Radikale. Sie ist sich selbst genug – freilich um den Preis, niemals die Mehrheit werden zu können.