Ursula Keller / Natalja Sharandak

Iwan Turgenjew und Pauline Viardot

Eine außergewöhnliche Liebe

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Iwan Turgenjew und Pauline Viardot

Inhalt

Vorbemerkung

Vorwort

1. Auftakt

»Halt inne! Als jene, die ich dich nun sehe, bleib auf immer in meinem Gedächtnis!«

2. Ein junger Mann aus bestem Hause

Spasskoje-Lutowinowo. Kindheit

Erste Liebe. Jekaterina Schachowskaja

Jahre des Studiums und Reisens. Debüt als Schriftsteller. Liebeleien

»Die erste Begegnung ‒ die letzte Begegnung«. Tatjana Bakunina

3. »Sie singt, wie sie atmet.«

Eine weltreisende Sängerfamilie

Die schiefäugige mongolische Nachtigall

Liebe ohne Erschütterung und Leidenschaft

»Zu Ihren Füßen will ich auf ewig leben und sterben.«

Soireen im Haus an den fünf Ecken

4. Drei glückliche Jahre

»Wie glücklich wäre ich, Sie diesen Winter hören zu können!«

Annäherung

»Die Welt liegt in Geburtswehen«

Courtavenel ‒ Paris

5. Wieder in Russland

In der Verbannung

»Auf meine alten Tage (am vierten bin ich 36 geworden) habe ich mich doch fast verliebt.«

Der überflüssige Mensch und die »Turgenjew'sche junge Frau«

6. Am Rande eines fremden Nestes

Zigeunerleben

L'amitié amoureuse. Jelisaweta Lambert

Bruch mit den Zeitgenossen

7. Baden-Baden

Die Diva nimmt Abschied von der Bühne. Der letzte Triumph

Fast eine Idylle.»Eine wundervolle Zeit (vielleicht die beste meines Lebens).«

Künstlerisches Duo

8. »Hier nun ist wirklich mein Zuhause«

Russischer Botschafter in Paris

Salon in der Rue de Douai

Bougival

Das letzte Liebesfieber. Maria Sawina

9. Zwei Abschiede

Bibliographie

Bildnachweis

Anmerkungen

Vorbemerkung

Bis zum Oktober-Umsturz durch die Bolschewiki im Jahr 1917 waren die Russen Menschen zweier Kalenderstile. Die von Papst Gregor 1582 durchgeführte Kalenderreform wurde im orthodoxen Russland nicht vollzogen, die Zeitrechnung erfolgte dort bis Februar 1918 weiterhin nach dem Julianischen Kalender, so dass die Russen »im neunzehnten Jahrhundert dem Rest der zivilisierten Welt um zwölf Tage hinterherhinkten und mit dem Beginn des zwanzigsten um dreizehn«, wie Vladimir Nabokov in seiner Autobiographie Erinnerung, sprich schreibt.

Daraus ergeben sich zweifache Datumsangaben, und zwar einmal nach dem in Russland im 19. Jahrhundert gültigen Julianischen und zum anderen nach dem in Westeuropa gültigen Gregorianischen Kalender.

Bei Daten, die sich auf Ereignisse im Russischen Reich beziehen, ist jeweils das Datum nach dem Julianischen Kalender angegeben.

Vorwort

»Wie sehr verlange ich nach der Liebe!«, schreibt Iwan Turgenjew im Alter von einundzwanzig Jahren. »Aber diese Sehnsucht ist vergeblich, wenn nicht der Himmel sich meiner erbarmt und mir diese Gnade schickt. Wie gut und rein und offen und reich wäre ich, so will mir scheinen, wenn ich liebte! Welches Glück bedeutete es mir, mit ihr zu leben!«

Und der Himmel erbarmte sich Turgenjews und schickte ihm diese Gnade in Person der Sängerin Pauline Viardot-García, einer der herausragendsten Figuren der europäischen Kultur ihrer Zeit.

Zum ersten Mal sieht er sie, als sie 1843 im Alter von zweiundzwanzig Jahren in Sankt Petersburg auf der Bühne steht. Da ist Pauline Viardot-García bereits eine gefeierte Sängerin. Der fünfundzwanzigjährige Iwan Turgenjew, ein gut aussehender junger Mann aus bestem Hause, der am Beginn seiner Karriere als Schriftsteller steht, ist sofort verzaubert. »Ihnen auf meinem Weg zu begegnen, war das größte Glück meines Lebens«, schreibt er ihr später.

Bei der Berühmtheit aus Paris hat der Verehrer jedoch keinen allzu gewichtigen Eindruck hinterlassen. Sie ist eine verheiratete Frau, Mutter einer kleinen Tochter, und widmet sich ganz ihrer Berufung ‒ dem Gesang. Turgenjew hingegen begreift, dass er der Sängerin verfallen ist.

Pauline nimmt sein Angebot an, ihr Russischunterricht zu erteilen, damit sie zum Gefallen des Publikums russische Romanzen zum Besten geben kann. Sie kommen einander näher und die Sängerin lernt den angehenden Schriftsteller besser kennen. Als sie wieder zurück in ihre Heimat Frankreich reist, gestattet sie ihm, ihr zu schreiben. Sie gestattet ihm, sie zu lieben. »Mein Gott, ich möchte mein ganzes Leben als Teppich unter Ihre lieben Füsse, die ich 1000 mal küsse, breiten«, schreibt er seiner »teuersten, liebsten, besten Freundin« auf Deutsch. Fast alle Reisen, die er von nun an unternimmt, und seine häufigen Domizilwechsel hängen mit dem Wunsch zusammen, in ihrer Nähe zu sein.

Zwischen 1847 und 1850 lebt Iwan Turgenjew als Gast des Ehepaars Viardot auf deren Landsitz Courtavenel in der Nähe von Paris. Die Sängerin ist, begleitet von ihrem Ehemann Louis Viardot, zumeist auf Gastspielreisen, und Turgenjew schreibt an den Aufzeichnungen eines Jägers, jenem Werk, das ihn als Schriftsteller schlagartig berühmt macht.

Als Iwan Turgenjew nach Russland zurückkehrt, weil seine Mutter schwer erkrankt ist, ist seine Beziehung zu der Sängerin ungeklärt. »Für mich vergeht kein Tag, ohne dass mir Ihr teures Bild nicht hundert Mal ins Gedächtnis kommt, keine Nacht, in der ich Sie nicht im Traum sehe«, schreibt er ihr. »Nur in der Abwesenheit fühle ich, mehr als je, wie stark ich mit Ihnen und den Ihrigen verbunden bin. … Sie sind das Beste, Nobelste, das Sympathischste, das es auf dieser Erde gibt.«

Vielleicht haben sich die Gefühle, die Pauline Viardot für den Schriftsteller empfindet, verändert, vielleicht erwidert sie nun seine Liebe. Doch sie verändert ihr Leben nicht. Ihre Ehe mit dem um vieles älteren Louis Viardot, den sie im Alter von neunzehn Jahren geheiratet hat, ist wohl eine Vernunftehe, die ihr jene Sicherheit bietet, die sie in ihrem unsicheren Beruf braucht. Er unterstützt ihre Karriere als Sängerin, begleitet sie auf ihren Gastspielreisen, ist ihr Manager, der hart für sie verhandelt und um jedes Detail in den Verträgen für ihre Engagements kämpft. Sein Verhandlungsgeschick ist die Grundlage des Vermögens der Familie Viardot, das durch die Gagen der Sängerin erwirtschaftet wird. Und nicht zuletzt ist Louis Viardot für die Sängerin, die als Bohémienne, als »Kind einer fahrenden Operntruppe« einer Schicht am Rande der Gesellschaft entstammt, Garant für Bürgerlichkeit.

Pauline Viardot beschreibt ihren Ehemann als »vortrefflichen, edlen Mann«. »Er sieht sehr kalt aus, ist es aber nicht ‒ Sein Herz ist warm und gut, und sein Geist ist mir sehr überlegen ‒ Er betet die Kunst an, versteht gründlich das Schöne, das Erhabene ‒ sein einziger Fehler ist, daß ihm das indische Element fehlt, die Frische des Gemüths. Aber ist das nicht prächtig, nur einen Fehler zu haben! ‒ Vielleicht hatte er selbst den nicht in seiner Jugend ‒ als jungen Mann habe ich ihn nicht gekannt ‒ schade ‒ ich war noch nicht geboren ‒ Wäre ich nicht 21 Jahre jünger, würde er nicht 21 Jahre älter als ich sein.«

Louis Viardot billigt die Verbindung seiner Frau zum russischen Schriftsteller. Auch er ist Iwan Turgenjew freundschaftlich verbunden. Beide sind leidenschaftliche Jäger und verbringen viel Zeit miteinander.

Der Tod seiner Mutter macht Turgenjew zu einem wohlhabenden Mann. Nach einem an der Zensur vorbei veröffentlichten Nachruf auf Nikolaj Gogol, der der zaristischen Obrigkeit missfällt, wird Turgenjew 1852 auf sein Landgut Spasskoje verbannt. Als Pauline Viardot im Jahr darauf wieder zu Gastspielen in Russland weilt, reist der Schriftsteller unter falschem Namen nach Moskau, um sie zu sehen. Danach kommt ihr Briefwechsel fast vollständig zum Erliegen. Nachdem er 1856 wieder die Genehmigung zur Reise ins Ausland erhält, lebt Turgenjew hauptsächlich in Westeuropa. Hier entstehen seine wichtigsten Werke, die Romane Ein Adelsnest, Am Vorabend, Väter und Söhne, Rauch, die Erzählung Erste Liebe, die Essays Hamlet und Don Quichotte. Vor allem in seinen Romanen befasst er sich mit Russland und den Umbrüchen, die seine Heimat in der Epoche der Reformen und der Reaktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu bewältigen hat.

Nach dem Rückzug der Sängerin von der großen Bühne im Jahr 1863 nimmt die Familie Viardot ihren Wohnsitz in Baden-Baden. Auch Turgenjew wird nun sesshaft und lässt sich auf dem Grundstück neben dem der Viardots ein Haus bauen. Hier beginnt eine Zeit der überaus fruchtbaren künstlerischen Zusammenarbeit. Mit Louis Viardot, der als Kenner der spanischen Sprache und Literatur die erste Übersetzung des Don Quichotte ins Französische vorgelegt hatte, übersetzt Turgenjew Werke russischer Schriftsteller ‒ auch seine eigenen ‒ ins Französische. Für Pauline, die in der Kurstadt endgültig ihre Rolle der Sängerin mit der der Komponistin tauscht, schreibt er die Libretti ihrer Operetten, die zur Hauptattraktion des musikalischen Lebens der Kurstadt werden. Die Musikerin ihrerseits unterstützt die Arbeit des Schriftstellers. »Nicht eine Zeile von Turgenjew ist in Druck gegeben worden, ohne dass ich sie zuvor zu Gesicht bekommen hätte«, hat Pauline Viardot wohl einmal scherzhaft gesagt. »Ihr Russen wisst gar nicht, dass ihr es mir zu verdanken habt, dass Turgenjew immer noch schreibt und arbeitet.«

Nach dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges im Sommer 1870 verlassen die Viardots und Turgenjew Deutschland und lassen sich 1871 wieder in Paris nieder. Der Schriftsteller bezieht die Wohnung im oberen Stockwerk im Haus der Viardots in der Rue de Douai. Die Sommer verbringen sie auf dem gemeinsamen Landsitz Les Frênes in Bougival unweit von Paris.

»Wenn ich in Paris lebe, dann nicht um Paris willen«, erklärt er einem Freund. »Aber das Schicksal wollte es so, dass ich selbst zuzeiten keine eigene Familie gegründet habe. Und immer allein zu leben, ist unmöglich, fürchterlich, besonders, wenn man beginnt, in den späten Sommer fortzuschreiten. Ich habe hier meine Familie gefunden, eine fremde Familie, aber wir leben so zusammen, dass eine Trennung, ein Bruch für uns unmöglich wäre, nicht auszudenken. Wo sie leben, dort muss ich leben. Jetzt sind sie in Paris ‒ und ich bin in Paris. Würden sie morgen nach Australien umziehen ‒ würde auch ich nach Australien reisen.«

Obgleich Pauline Viardot die Frau ist, die er liebt und immer lieben wird, wie Turgenjew mehrfach erklärt, hat der Schriftsteller zahlreiche Liebesbeziehungen mit anderen Frauen. Doch den Schritt in die Ehe wagt er nicht. Stets zieht er sich zurück und kehrt in das »fremde Nest« der Viardots zurück. Pauline scheint für ihn das überhöhte Ideal einer Frau zu sein.

Auch der Sängerin werden Affären nachgesagt, die ihre Beziehung zu Turgenjew immer wieder belastet haben sollen. In einem Brief an ihren Musikerkollegen und Freund Julius Rietz spricht sie von »kleinen Ausflügen«, durch die sie Distanz schafft zu ihrem Ehemann. Turgenjew nennt sie einen »sehr engen Freund«, wobei sie nur wenige Menschen »Freund« nenne. Die Verbundenheit mit Turgenjew geht so weit, dass die Viardots seine 1842 geborene, uneheliche Tochter Pelageja aus einer Jugendaffäre mit einer Weißnäherin in die Familie aufnehmen.

Das Bild, das in den Biographien Turgenjews gezeichnet wird, besagt gemeinhin, dass der Schriftsteller unter der Liebe zu einer verheirateten Frau, seiner »Femme fatale«, unsäglich litt. »Die Liebe zur Viardot hat seine Willenskraft gefesselt und gelähmt und ihn in den Bannkreis des ihm unwiderstehlichen Einflusses dieser besonderen und machtvollen Frau gebracht.« Seiner Liebe zur Sängerin wegen habe Turgenjew seine Heimat Russland verraten und aufgehört, das Leben dort zu begreifen.

Als überzeugter »Westler« von liberaler Gesinnung steht er als Schriftsteller immer wieder im Zentrum heftiger ideologischer Auseinandersetzungen. Doch es ist gerade der Abstand zu Russland, die Kontakte mit der politischen Emigration und die philosophische Weltoffenheit Turgenjews, die ihm eine objektive Sicht auf Russland und die dort diskutierten Fragen ermöglichen.

»Ich kann Ihnen … versichern, dass mich nur eine einzige Sache und nichts anderes interessiert: die Physiognomie des Lebens und deren wahrhafte Wiedergabe«, schreibt Turgenjew. Und dies ist sein Programm für seine großen Romane und Erzählungen. Er will mit seiner Literatur nicht belehren wie Tolstoj oder Dostojewski, ihm geht es um die Beschreibung dessen, was ist.

Pauline Viardot wird auch verantwortlich gemacht dafür, dass der Schriftsteller sich in die Niederungen des Seichten begeben und als Librettist für ihre »Operettchen« betätigt habe. Turgenjew indes sind all diese Vorwürfe ganz gleich. Er genießt die Leichtigkeit des Daseins, die Pauline zu schaffen vermag und die das Leben in ihrer Familie prägt.

Gewiss ist das Zusammenleben Turgenjews mit der Familie Viardot ein ungewöhnliches Arrangement, das bis heute Fragen aufwirft und zu Spekulationen Anlass bietet. Das Bild dieser lebenslangen Gemeinschaft, das wir heute zu zeichnen vermögen, kann nicht vollständig sein, da nur Turgenjews Briefe an die Musikerin erhalten und veröffentlicht sind, während von Pauline Viardot-García nur wenige schriftliche Zeugnisse ihrer Verbindung zum Schriftsteller erhalten sind.

Ganz in Turgenjews Sinn kann es heute daher lediglich um die Beschreibung dessen, was wir wissen, gehen, wenn man sich nicht in Mutmaßungen ergehen will. »Turgenjew hatte keine eigene Familie. Ob er dies bedauerte? Ich glaube nicht«, räsoniert der französische Schriftsteller Guy de Maupassant, der ein guter Bekannter Turgenjews war. »Er fand sein Heim in der Familie Viardot, in der ihn alle ‒ die Eheleute ebenso wie die Kinder ‒ verehrten.«

1. Auftakt

»Halt inne! Als jene, die ich dich nun sehe, bleib auf immer in meinem Gedächtnis!«

Voller Ungeduld erwarten die Melomanen Sankt Petersburgs, der Hauptstadt des Russischen Reiches, im Jahr 1843 die Eröffnung der Opernsaison. Nach den Erfolgen, die der Tenor Giovanni Battista Rubini im vergangenen Winter gefeiert hat, ist das musikbegeisterte Publikum begierig, weitere der italienischen Opern zu hören, die in Westeuropa bereits seit einiger Zeit die Säle füllen. Rubini, der »König der Tenöre«, ist von der Direktion der kaiserlichen Theater beauftragt worden, ein Ensemble zusammenzustellen, denn das Große Kaiserliche Theater soll den Bühnen in Paris, London und Berlin in nichts nachstehen. Bald heißt es, neben ihm und dem nicht minder berühmten Bariton Antonio Tamburini werde eine Sängerin mit Namen Pauline Viardot-García auf der Bühne stehen. Über diese ist nicht eben viel in Erfahrung zu bringen, außer dass sie überall Triumphe feiert wie einst ihre Schwester, die »berühmte Malibran«.

Am Abend des 22. Oktober 1843 gibt das Große Kaiserliche Theater Rossinis Barbier von Sevilla. Als nach dem Dekorationswechsel in der fünften Szene des ersten Aktes schließlich die dem Publikum noch Unbekannte in der Rolle der Rosina die Bühne betritt, erfasst Unruhe das Publikum. »Sie war von nicht eben hohem Wuchse, mit recht kräftigen Gesichtszügen und großen, tiefliegenden, glühenden Augen«, erinnert sich der Dichter Alexander Jachontow. »›Sie ist hässlich‹, sagte der hinter mir sitzende Herr immer wieder. ›In der Tat‹, dachte ich.«

Aber als Pauline Viardot-García Rosinas Cavatine zu singen beginnt, ist das Publikum wie gebannt. »Plötzlich ereignete sich etwas Außergewöhnliches! Es erklangen samtene Töne, wie sie, so schien es, noch nie zuvor gehört wurden. Dem anmutigen Mund entströmte Una voce poco fa!

Der Funke sprang sofort auf den Saal über. Vom ersten Augenblick an herrschte absolute Stille und alle waren vor Glück wie erstarrt, doch es überstieg aller Kräfte, ruhig bis zum Ende zuzuhören. Leidenschaftliche ›Bravo!‹-, ›Bravo!‹-Rufe unterbrachen die Sängerin und übertönten ihren Gesang. Zurückhaltung war unmöglich. Die Begeisterung der zahlreichen Anwesenden überstieg alles, sie sogen unersättlich jeden Ton, jeden Atemzug dieser Zauberin ein, die so unerwartet und allumfassend Macht über die Gefühle, Gedanken und die Vorstellungskraft eines jeden gewonnen hatte, der Jungen ebenso wie der Alten, der Leidenschaftlichen ebenso wie der Beherrschten, der Musiker ebenso wie der Laien, der Frauen ebenso wie der Männer. Ja, sie war eine Zauberin! Ja, ihr Mund war wunderschön. Wer hatte gesagt, sie sei hässlich? Welch dummes Geschwätz!«

Im Publikum sitzt an jenem Abend auch ein umfassend gebildeter, gut aussehender, elegant gekleideter junger Mann aus bestem Hause. Der Besitz seiner Familie und damit sein zu erwartendes Erbe beläuft sich auf Güter mit mehreren tausend Leibeigenen, doch da die Beziehung zur Mutter sich schwierig gestaltet, führt er ein für seine Verhältnisse eher bescheidenes Leben und hat nach Abschluss seines Studiums eine Anstellung als Beamter im Innenministerium angenommen. Seine Leidenschaft aber gilt der Literatur, er hat bereits eine kleine Zahl belletristischer Veröffentlichungen vorzuweisen. Sein Name: Iwan Turgenjew.

Wie alle im Saal ist der junge Schriftsteller vom Gesang und von der Sängerin begeistert. Kaum eine Woche später macht er im Salon eines Freundes die Bekanntschaft von Louis Viardot. Der Ehemann der Sängerin ist wie Turgenjew selbst ein leidenschaftlicher Jäger und die beiden verabreden für die nächsten Tage einen Jagdausflug im Umland der Hauptstadt.

Der 1. November 1843 schließlich ist jener Tag, den Turgenjew später als den »bedeutsamsten Tag« seines Lebens empfand ‒ er begegnet Pauline Viardot-García zum ersten Mal. Und es beginnt eine vierzig Jahre währende Liebesgeschichte.