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herausgegeben von Wulf Bertram

Thomas Bergner

Endlich ausgebrannt!

Die etwas andere
Burnout-Prophylaxe

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Dr. med. Thomas Bergner
Zeller Straße 56
82067 Zell
www.bergner.cc

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Schattauer
www.schattauer.de
© 2013 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Umschlagabbildung: © Christian Watts
Umschlagabbildung: Reinhold Henkel, Heidelberg
Gesetzt von am-productions GmbH, Wiesloch
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Printausgabe: ISBN 978-3-608-42932-9
E-Book: ISBN 978-3-608-16827-3
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-26763-1
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Projektleitung: Dr. rer. nat. Christina Hardt
Lektorat: Birgit Albrecht, Berlin

Inhalt

1    Unendliche Weiten

2    Crisis? What crisis?

Die 6 Stufen einer Krise

Backe, backe Kuchen

No crisis, no life

3    Die Stichflamme leidet an Sauerstoffmangel

Bitte nicht ich, bitte nicht jetzt, bitte nicht hier

No eternal flame

Ich leide gern und leise

Das offizielle Etikett

Nehmen ist seliger denn geben

Die Burnout-Revoluzzer

4    Der Esel in der Gummizelle

Der Esel

Die Gummizelle

5    Mit-Gift

Ever look back

Es wird schon nicht so schlimm gewesen sein

Mutterliebe und Vaterstolz

Leiste was, dann biste was

Pech und Schwefel

Das Gute der Kindheit – Kondome fürs Leben

6    Wenn der Hammer hängt

Help! I need somebody

Randy, Dein Handy

Vorsicht Butter!

Völlig grenzenlos

Es gibt nichts zu tun, fangen Sie schon mal an

Die Fäden in der Hand behalten

Machtlos zufrieden

Wertlos

Wenn das Volle die Fülle verbirgt

7    Von der Rolle sein

Rolle rückwärts

Den richtigen Stil finden

Ich bin ja so arm dran

8    Trotz-Key

Nein, nein und nochmals nein

Der Waschlappentest

Lust auf Frust

Was wahr ist, definiere ich

Danke sagen habe ich nicht nötig

Nichts, was mich stolz macht

9    Mount Everest in Liliput

Wo die größte Liebe hingehört

Weil Sie es sich wert sind

Niemals jemandem vertrauen, der einem nah ist

Die Universalversicherung

Erschrockenes Glühwürmchen statt Super Trouper

Sich selbst Fallen stellen

Sie sind wert, was Sie leisten

Selbstwert aufbauen – gemeinsam jammern

10  Wenn die Wachtel vom Flug des Adlers träumt

Der Beruf – Ursache allen Übels

11  Geht nicht? Gibt’s nicht!

Aus Max den Moritz machen

Alle Fünfe grade sein lassen

Ich hab mich noch lieber als mich

Die wirklichen Persönlichkeiten

12  Basta.

Wie Sie gestrickt sind

Das Pudelphänomen

Kinderwissen

13  Yolo: You only live once

Ich bin mir so fern

Knapp verfehlt ist voll daneben

Glücklich sein aufgrund des Glücks allein

Denke positiv!

Das Leben ist ein Event

Zufriedenheit bedeutet Stillstand

14  Hilfe, mein Körper spricht

15  Das letzte Hemd hat Taschen

Money und das letzte Hemd

Wie Geld positiv stimmt

Ich muss es haben

16  Geschlafen wird am Ende des Monats

Lasst mich in Ruhe!

Mitmenschen korrekt einschätzen

Nur der Wille zählt

Erschöpfung aus Takt-Gefühl

Der Knast

Der Alte Peter

17  Wir wissen nicht, wohin. Aber wir kommen gut voran!

Yalla

Was Zeit kostet

Denn es ist nie zu spät für einen neuen Weg

Das kleine Einmaleins

Zeit und Burnout

Achtsamkeit über alles

18  Keinsinnmensch

Sinnsouffleur

Überhauptnullundabsolutinkeinerweisewas

19  Die Erde ist eine Scheibe und Spinat hat viel Eisen

Symptome behandeln, Lösungen vermeiden

Fast-Food-Psychologie

20  Die Wahrheit durch Burnout

Literatur

1  Unendliche Weiten

Die Psyche. Unendliche Weiten. Wir schreiben den 12. Dezember 2011. Das Abenteuer beginnt: Auf der Bühne erscheint eine nussbraune Schönheit, die offenbar direkt von der Copacabana eingeflogen ist. Ihr brasilianischer Akzent erfreut mein Männerherz und ich denke mir, mit der kann man wirklich nicht ausbrennen, allenfalls durchbrennen. Aber meine Machogedanken werden jäh unterbrochen, als sie alle Zuhörer auffordert, die gerade erst eingenommene, bequeme Sitzposition zu verlassen und aufzustehen. „It’s Zumba-Time!“ Bis zu diesem Moment kenne ich Zumba nicht. Jetzt lerne ich: Das ist die Methode gegen Burnout. Geht etwa so: Ein besonders eingängiges Lied brasilianischer oder anderer Herkunft auflegen (vielleicht nicht unbedingt Nossa Nossa, aber es gibt genug auf Zumba „spezialisierte“ CDs), so laut wie möglich. Scheren Sie sich im Moment nicht um Ihre Nachbarn, es geht hier um Wichtigeres. Dann schütteln Sie, was Sie haben, Extremitäten und Hintern beispielsweise, rhythmisch mit der Musik.

So ähnlich macht es im Moment die brasilianische Schönheit, schon wackeln ihre Akren aufs Heftigste. Da meine Akren vorrangig aus einem beachtlichen Rettungsring und Hüftgold bestehen, wackelt es bei mir auch.

Nach wenigen Minuten transpirieren die meisten, die frische Luft verbraucht sich rasant. Ich lasse mich erschöpft auf den Stuhl fallen und denke mir: Von wegen Zumba gegen Burnout. Ich bin jetzt schon erschöpft. An diesem einen Tag werde ich noch vieles erfahren, beispielsweise über die beeindruckenden Erfolge eines Rückentrainings, das alle – ausschließlich männlichen – Führungskräfte eines Unternehmens freiwillig mitmachten und das bewirkt hat, dass keiner von ihnen Burnout bekommen hat.

Je länger ich an diesem Dezembertag die Hinweise höre, was alles gegen Burnout hilft, umso klarer wird mir: Die Welt braucht keine solchen Ratgeber mehr. Man weiß genug zu den wahren Ursachen von und Hilfen gegen das Ausgebranntsein.

Die unendlichen Weiten zeigten sich das nächste Mal am 25. April 2012 auf einer der größten psychotherapeutischen Fortbildungsveranstaltungen, auf der ein Vortrag dargeboten wurde, bei dem es um eine Anleitung zum Burnout ging. Gefühlte 99 % des Vortrags befassten sich mit der neuen Methode zum Gewichtabnehmen (in Kurzform: Einen Tag praktisch nichts essen, am anderen, was man will. Früher wurde das FDH genannt, aber natürlich nicht in dieser Abfolge) und danach wusste ich, wer auf diese Weise abnimmt, bekommt Burnout – oder sollte es so verhindert werden? Ich hätte besser aufpassen sollen.

Der Besuch beider Veranstaltungen ließ in mir den Wunsch wachsen, wirklich erfolgreiche Tipps für den Weg ins Burnout anzubieten, da mit Zumba, Rückenschule für Manager und gesundem Essverhalten offenbar bereits die wichtigsten Säulen für eine wirksame Burnout-Prävention gefunden sind.

Aber es fehlt ein Buch mit Hinweisen zum effektiven Ausbrennen. Denn kaum jemand will wirklich zu einer Minderheit gehören, die zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird – zur Minderheit der „normalen“ Menschen, die keinerlei Auffälligkeiten zeigen. Möchten Sie den Weg, auf dem sich unsere Gesellschaft und deren Mitglieder befinden, wirklich nicht mitgehen?

Unvorstellbar. Deshalb liegt nun dieser Ratgeber vor, der Ihnen zeigt, wie Sie besonders effektiv, fast schon garantiert, ausbrennen. Zugegeben, der Weg mag kein leichter sein, an seinem Ende mag etwas anderes auf Sie warten, als Sie sich vorgestellt haben, aber sollten das schon Gründe sein, dem „Mainstream“ abzuschwören? Denn soviel steht fest: Burnout ist richtig „in“. Das glauben Sie nicht? Hier die Zahlen:

Der aktuelle Fehlzeitenreport des wissenschaftlichen Instituts einer Krankenkasse zeigt (Badura et al. 2012): Die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland ist seit 1994 um 120 % gestiegen, die von Burnout sogar um fast 1400 %. Insgesamt sind die Krankheitszeiten jedoch rückläufig: Waren die Berufstätigen in 1994 noch 5,6 % ihrer Arbeitszeit krank, sind es heute nur noch 4,7 %. Seelische Erkrankungen verhalten sich gegen den Trend, sie erleben einen echten Boom, sie sind „in“. Allein die Diagnose Burnout führte 2011 zu insgesamt 2,7 Millionen Fehltagen für die Betriebe und die Gesamtkosten im Jahr 2012 für die Behandlungen aller psychischer Erkrankungen in Deutschland werden auf 92,5 Milliarden Euro geschätzt. Bereits heute scheiden 40 % aller Frührentner wegen seelischer Erkrankungen aus dem Arbeitsleben aus.

Es ist somit dringend nötig, den weniger Versierten in Burnout-Angelegenheiten einen Ratgeber an die Hand zu geben, um nachvollziehbar den sicheren und erfolgversprechenden Weg ins Burnout zu beschreiben. An einer solchen Entwicklung können Sie nun teilhaben. Es wird Ihnen möglich sein, Ihre Energie auf die Maßnahmen zu konzentrieren, welche wirkungsvoll Burnout ermöglichen. Lesen Sie diese Anleitung also als Ideengeber für Ihren eigenen Weg, denn kaum etwas ist so individuell wie der eigene Abstieg.

Wenn Sie bereits so ausgebrannt sind, dass Sie keine Anleitung hierfür mehr brauchen, kann Ihnen eines der am weitesten verbreiteten Spiele, Monopoly®, helfen. Wenn Sie das spielen und eine Gemeinschaftskarte ziehen, dann heißt es in etwa: Gehen Sie in die Klinik, zu einem Therapeuten oder Coach, begeben Sie sich direkt dorthin, gehen Sie über keinen Umweg und ziehen Sie keine Ausflüchte mehr heran.

Aber noch ist es ja nicht so weit.

2  Crisis? What crisis?

Jede persönliche Krise ist von Ihnen selbst gemacht, kein Mensch wird von einer Krise überfallen, allenfalls überrascht – und das spricht genau für das, worum es anfänglich bei einer Krise geht: Um eine Realitätsverkennung, um unzureichende Wahrhaftigkeit, um Selbstbetrug, eine Täuschung, eine Illusion, in aller Klarheit: um eine Lüge. Diese Lüge kann sowohl ein individuell unpassendes Verhalten sein als auch eine falsche Einstellung oder Haltung oder eine falsche Vorstellung von sich selbst.

image   Eine Krise dient der Wahrheit oder der Wahrhaftigkeit.

Krise bedeutet: Etwas muss anders werden, weil etwas im Argen liegt und trotzdem nicht geändert wird. Nur dann, wenn in Ihnen andere Ideen, Vorstellungen, Ziele, Strömungen herrschen, als Sie wahrnehmen, oder wenn Sie sie wahrnehmen, ihnen aber nicht folgen, kann es zu einer Krise kommen, sie dient damit dem bisher Übersehenen.

Nun stellen Sie sich vor, Sie sitzen morgens am Frühstückstisch und schauen Ihren Partner an. In Ihnen wallt Liebe auf und Sie sagen ihm: „Du, Schatzi, Du bist noch so schön wie vor 25 Jahren.“ Dieses Urteil fällen Sie, weil Sie entweder Ihre Brille nicht aufhaben oder weil Sie eine charmante Lüge loswerden wollen. Diese Lüge namens Kompliment führt zu keiner Krise. Nun setzen Sie die Brille doch auf, außerdem sind Sie ein Morgenmuffel und Ihr Partner muffelt darüber hinaus. Sie sagen ihm jetzt: „Eigentlich bist Du ziemlich ungepflegt.“ Keine Lüge, dennoch Stunk, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber letztlich führt auch die Wahrheit zu keiner Krise, sofern sie zu nutzen zur üblichen Kommunikation gehört. Allenfalls führt sie zu einem Streit. Nun fällt Ihnen spontan ein, dass Sie gestern Nachmittag ein Schäferstündchen mit einem überaus wohlriechenden Menschen hatten, eben nicht mit Ihrem Partner. Der ist jedoch misstrauisch, fragt Sie, wo Sie gestern Nachmittag waren und Sie lügen ihn an. Diese Lüge wird spätestens bei Wiederholung zu einer Krise führen. Sie merken:

Nur Lügen, die negative Auswirkungen haben oder diese verbergen wollen, führen zu Krisen. Die negativen Auswirkungen kann man als Energieverbrauch des Lügenden beschreiben. Wenn es genug Energie kostet, eine Lüge aufrechtzuerhalten, wird dies in einer Krise enden. Da die außerbewusste Instanz des Selbst es ist, welche den Energieabbau „misst“ und fühlt, wird eine Krise aus dieser Instanz heraus initiiert.

Der Energieverlust kann Jahrzehnte ausgehalten werden – oder auch nur wenige Momente – er ist immer selbstschädigend. Insofern ist eine Krise das Zeichen für ein Abwehr- oder Schutzverhalten des Selbst.

image   Jede Krise will Energieverluste minimieren.

Hier erkennen Sie einen wirklich zentralen Gewinn einer Krise. Ihre Energieverluste werden vermindert. So erschöpfend sich Überlastungen anfühlen, letztlich dienen sie dazu, die Energie, die noch verfügbar ist oder wiederhergestellt werden kann, zu retten. Deshalb: Endlich ausgebrannt!

Das alles offenbart die grundsätzliche Bedeutung einer jeden Krise: Eine persönliche Krise folgt einer offenkun- dig gewordenen, seelischen Selbstschädigung, deren Existenz man sich anfangs oder auch längere Zeit nicht stellen will.

Wer sich mit der eigenen Täuschung und folgenden Schädigung dauerhaft nicht konfrontieren will oder sie nicht verstehen will (kann), wird eine schwere Krise erleben oder eine, die besonders lange andauert. Krisen bestehen so lange fort, bis Sie deren Bedeutung und Inhalt verstehen. Das bedeutet für Burnout, es wird bestehen bleiben, bis Sie verstehen, worum es dabei tatsächlich geht. Burnout kann immer nur individuell verstanden und gelöst werden und allgemeine Empfehlungen wie eine bestimmte Lebensart können wirken, müssen aber nicht.

Eine Krise verlangt eine Änderung entweder Ihres Verhaltens oder Ihrer Einstellungen, meistens beides. Es geht also um eine Richtungsänderung, die erfolgen soll, weil sie freiwillig nicht erfolgt ist. Wer vor einer Krise vollkommen zufrieden mit seiner Situation war, hat nur nicht richtig hingesehen oder hingehört: Eine Krise beweist quasi eine große innerliche Unzufriedenheit, denn ihr Ziel ist, inneren Frieden wiederherzustellen. Diesen muss es einmal gegeben haben, zumindest in längst vergangenen Zeiten. Ansonsten wäre die Krise früher aufgetreten.

Eine Krise sagt somit: Etwas muss sich verändern, nur Sie wollen das noch nicht erkennen oder hoffen, drum herumzukommen: nur ein bisschen noch wie bisher, liebes Schicksal. Bitte nicht ich, bitte nicht jetzt.

Eigentlich haben Menschen eine aufbauende und angenehme Kraft für Veränderungen zur Verfügung, das ist ihre Motivation. Mit Motivation tun Änderungen erheblich weniger weh – im Gegenteil, sie machen Spaß und der Weg zu einem neuen Ziel wird mit Lust gegangen. Wer die Motivation nicht aufbringt, muss seinen Willen einsetzen. Und wer den nicht mehr hat, für den kommt die Krise. Letztlich gilt: Krise ersetzt Motivation. Und wenn man genauer hinschaut, muss es lauten:

image   Krise folgt auf den Willen und ersetzt fehlende Motivation.

Änderungen, die anstehen und für die Sie nicht motiviert sind, kosten entweder Kraft in Form von Willen oder sie tun weh in Form einer Krise oder beides. Andere Möglichkeiten sind hehre Wunschträume.

Eine Krise wird oftmals dann besonders stark empfunden, wenn zuvor viel Willensarbeit geleistet wurde – nur dass vor einer Krise der Wille fast immer eingesetzt wird, um den alten Zustand, dessen Änderung ansteht, künstlich (gegen die innerlich vorhandenen und notwendigen Bestrebungen) aufrechtzuerhalten. Damit fehlt dann oftmals für die Krise selbst ein wichtiges Regulativ, das Pulver wurde praktisch an falscher Stelle oder zu früh verschossen.

Es ist an der Zeit, zwei menschliche Ebenen anzusprechen. Die eine nennt man das Ich: Ich will das, Ich will das nicht. Ich verlange nach. Ich weigere mich. Ich bin verliebt. Ich freue mich. Das Ich, ein Ausdruck unserer Wünsche und Gedanken. Für das Ich ist es wundervoll, wenn es, auf welcher Bühne auch immer, beklatscht wird, z. B. von der Kleinfamilie ob des gelungenen Kuchens am Wochenende. Neben dem Ich gibt es eine andere Ebene, das Selbst. Selbst will das, Selbst will das nicht? Nein, das passt nicht: Unser Selbst ist der Strippenzieher im Hintergrund, sozusagen die graue Eminenz. Fast immer, wenn es „Selbst“ heißt, bedeutet es: „Ich!“. Selbstwirksamkeit ist die Wirksamkeit des Ich, Selbstverständnis ist das Verständnis für sein Ich, Selbstvertrauen ist das Vertrauen in die Tatkraft und das Wissen des Ich. Aber das Selbst ist die Instanz, die das Leben ermöglicht, die alle körperlichen Vorgänge steuert, die fast alles Fühlen bildet. Unser Selbst ist erheblich zentraler und von seinen Auswirkungen her bedeutsamer als das Ich, auch, weil das Selbst außerbewusst agiert.

Man kann eine Krise als einen intrapersonalen Konflikt bezeichnen, also als etwas, das in einem selbst für einen Widerspruch steht. In der Kommunikation gilt ein Konflikt als der Wunsch der Wiederherstellung der Einigkeit, der Meinungsgleichheit. Nichts anderes ist tatsächlich die Krise: Sie will zwischen der wirksamen, außerbewussten Instanz des Selbst und den teils bewussten Strukturen, vorrangig durch das repräsentiert, was wir „Ich“ nennen, Einigkeit herstellen. Und so wie bei sprachlichen Konflikten meistens einer die besseren Argumente hat, hat die deutlich erfahrenere, weisere Instanz im Menschen, das Selbst, meistens die besseren Argumente.

Eine Krise ist auch eine Form von Wachmacher – das Selbst weckt mit der Krise unser Ich: Das Außerbewusste hatte sich garantiert vielmals und lange vor dem bewussten Beginn der Krise gerührt, nur war der Mensch nicht willens, die zunächst wahrscheinlich zarten Botschaften auch wahrzunehmen. Eine Krise hört auf, wenn eine der zwei Instanzen verzichtet oder sich umorientiert: Unser Ich, dann wurde der Sinn der Krise beachtet und erfüllt, oder unser Selbst, dann sind wir definitiv erschöpft oder depressiv im Sinne der psychischen Erkrankung. Eine Depression oder der Zustand totaler Erschöpfung treten dann auf, wenn das Selbst den Kampf weitgehend aufgegeben hat und die Energiereserven erschöpft sind.

Es macht wenig Sinn, solange zu warten. „Endlich ausgebrannt“ bedeutet nicht, bis zum Schluss zu warten, es bedeutet, sich rechtzeitig den anstehenden Inhalten zu stellen, denn wenn eine Krise gelöst ist, ist man schlauer und sich selbst näher. Eine Krise führt meistens dazu, durch Auseinandersetzungen mit sich, anderen und anstehenden Themen seine Individualität zu formen. Dabei hat eine Krise zwei Gesichter: Einmal will sie eine Botschaft vermitteln wie „Handle anders“, zum anderen jedoch ist die Krise selbst die Botschaft: „Es geht Dir schlecht, wenn Du Dich weiter missachtest“.

Damit es überhaupt zu einer Krise kommen kann, muss eine Instanz wahrnehmen, dass Änderungen anstehen oder notwendig sind. Wie das Wort notwendig ausdrückt, geht es darum, in einer Not eine Wende zu finden. Eine Krise entsteht immer dann, wenn eine Not besteht. Eine Krise ist nichts weiter als das Symptom für eine bereits bestehende Dysbalance, der eine Not innewohnt.

image   Jede Krise will eine fehlende Balance wiederherstellen und eine bestehende Not beenden.

Das Scheitern, welches Burnout andeutet oder präsentiert, wird verständlich als schlimm, schrecklich und traurig empfunden. Aber dies ist es auf Dauer nicht: Es ist ein Zeichen für den normalen Weg des Menschen. Wichtig ist zu wissen, vom Leben und von anderen Menschen aufgefangen werden zu können, wenn man es zulässt. Wer jedoch an ersehnten Wundern und unrealistischen Wünschen festhält, verlängert sein Leiden.

Eine Krise ist der Anfang der Lösung, sie führt nicht nur dorthin, sondern sie ist Teil davon! Die Krise ist also kein Teil des Problems, sie führt von dort weg und damit kann die Krise selbst nie das Problem sein, so unangenehm sie sich anfühlt. Wer also sein Augenmerk nur auf die Krise richtet, lenkt sich selbst von den Ursachen ab. Deshalb sagte Max Frisch: „Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“

Eine Krise ist letztlich eine über Millionen Jahre auf der Erde etablierte Methode, um Fortschritte und Lösungen zu ermöglichen. Nun können Sie sich fragen, warum es einer Krise bedarf, um das zu erreichen. Das liegt an einer schlichten Tatsache, welche diverse sprachliche Ausschmückungen erfahren hat: fehlende Selbstwahrnehmung, Bau von Luftschlössern und sich darin einnisten, der innere Schweinehund, fehlende Tatkraft, Hoffnung und so fort. Wenn man nicht tut, was ansteht, dann wird es über die Krise erzwungen. Diese Tatsache wird bei großen Krisen wie Wirtschaftskrisen oder Finanzkrisen auch jahrelang verdrängt, was zu massiv erhöhten Kosten führt. Krisen verhalten sich im Großen also genauso wie im Menschen.

Eine Krise hat eine Form von Eigenleben: Sie will den Menschen zwingen, sich mit dem wirklich Wesentlichen zu befassen. Sie hat also eine lenkende Funktion. Da das Wesentliche im Leben in aller Regel nichts Materielles ist, haben die meisten nach einer Krise – zumindest zunächst – weniger Materielles, also auch weniger Geld als vorher. Je stärker man am Geld oder allgemein am Materiellen klebt, umso länger wird die Krise dauern und umso größer werden die tatsächlichen Verluste werden. Man kann sagen: Wer es nicht wahrhaben will, muss es damit irgendwann wahrhaben. Dabei gilt eine einfache Regel:

image   Krise: gern, danke ja, sofort!

Aus den beschriebenen Gründen darf man eine Krise begrüßen, selbst wenn sie Mühe, Ärger, Angst, Sorge, Unklarheit und vieles andere bedeuten mag, was sich keiner wünscht. Es gehört dann dazu, diese Gefühle zu akzeptieren, auch die Verzweiflung, Angst und Verletzung. Das „sofort“ bedeutet in diesem Kontext, je länger man das, was einem die Krise mitteilen möchte, nicht versteht oder nicht verstehen will, umso länger wird auch die Krise dauern. Deshalb ist es von Vorteil, sie rasch anzunehmen und die darin enthaltenen Botschaften ernst zu nehmen.

Die 6 Stufen einer Krise

Eine Krise läuft in Stufen ab, wobei in der Regel keine Stufe ausgelassen wird.

Stufe 1: Unbemerkter Energieverlust

Am Beginn steht die Lüge, vornehmer: Die Realitätsverkennung, die Wahrheit wird nicht gesehen. Dieser Zustand wird von Verleugnung und einer Dissonanz zwischen Soll und Ist geprägt. Änderungen wären notwendig, aber in diesem Stadium nicht erkannter Dysbalance in Form der Diskrepanz zwischen Anspruch und eigener Wirklichkeit geschieht nach außen nichts Erkennbares. Innen führt die Dysbalance zu Energieverlust.

Die typischen Inhalte der anfänglichen Dissonanz sind:

  Sie können etwas (noch) nicht verstehen. Grund: Je weiter die Ursache der Krise zurückliegt, umso zäher das Mühen – auch schon, damit nicht alles Bisherige vergebens war.

  Sie wollen etwas nicht wahrhaben. Folge: Die eigenen Bedürfnisse werden konsequent unterdrückt. Diese liegen viel eher im Bereich von Liebe und Anerkennung als von Geld.

  Sie kümmern sich vorrangig um Ihren Schein, nicht um Ihr Sein. Folge: die Überbetonung des Ich, die Missachtung des Selbst.

  Sie haben wesentliche Ihrer Ziele aufgegeben oder sogar verraten. Frage: Was war Ihnen also einmal wichtig?

  Sie verfolgen andere Ziele und Inhalte als Ihnen wirklich wichtig sind. Zustand: Sie sind durch andere Inhalte gefangen, sowohl in Bezug auf das Thema selbst als auch auf Ihre Zeit.

  Sie möchten sich eigentlich mit jemandem auseinandersetzen, tun es aber nicht. Frage: Mit wem? Tragen Sie statt dessen Kämpfe mit Menschen aus, um die es im Kern nicht geht?

  Sie missachten die eigene Glaubenswelt.

Stufe 2: Passivität und Lethargie

Mehr oder minder rasch kommt es zu fühlbaren Symptomen des Energieverlusts, bei Weitem nicht nur durch Erschöpfung oder Leistungsabnahme, sondern vorrangig durch Unzufriedenheit. Niemand ist im inneren Einklang mit sich, wenn er fortlaufend Energie verliert und nicht genügend Ressourcen neu aufbaut. Das Gefühl wird irgendwie wahrgenommen, aber nicht ernstgenommen. Es ist ein Stadium unerwünschter Gefühle. Folge der Inaktivität und des Unwillens, die anstehenden Aufgaben anzugehen, sind Unlust und Abwehr. Es wird nicht getan, was ansteht. In dieser Stufe kann auch Hoffnung keimen, es ginge doch ohne weitere Entscheidungen und Handlungen. Damit bekommt die Hoffnung eine kontraproduktive Note, der Energieverlust schreitet voran. Da die Motivation fehlt, muss die Krise quasi einspringen.

Stufe 3: Suche

Jetzt wird die Krise als Krise wahrgenommen. Praktisch immer wird die Krise selbst als Erstes bemerkt und die zugrundeliegende, nach Auflösung verlangende Lüge nicht.

Das ist in etwa so wie mit Frau Lichtgestalt, die eifrig etwas auf dem Gartenboden sucht und sucht und sucht. „Was suchst Du?“, fragt ihr Nachbar, der das Ganze schon eine Zeitlang beobachtet hatte. „Meinen Schlüssel“, sagt Frau Lichtgestalt. Ihr Nachbar ist nett und sucht mit. Beide robben eine Zeitlang auf den Knien und suchen. Schließlich fragt der Nachbar: „Wo hast Du ihn denn in etwa verloren?“ „Im Haus.“ „Wie bitte? Warum suchst Du ihn dann im Garten?“ „Weil es hier heller ist.“

In Stufe 3 ist das Stadium heftiger Betriebsamkeit erreicht, meistens zunächst als Abwehr, die sich der Krise gegenüber aggressiv äußert. Die Abwehr äußert sich auch kollektiv dahingehend, dass Ursachen im Außen für die persönliche Krise gesucht werden. Dort fündig zu wer- den, ist kein Problem, denn letztlich kann vieles dafür herhalten.

Stufe 4: Annäherung an das Erkennen und Verstehen

Da die seelische Krise den Sinn hat, auf etwas bisher nicht Wahrgenommenes aufmerksam zu machen, findet eine Krise in einem Menschen niemals leise statt, sonst würde er bisher nicht Erhörtes weiter überhören. In diesem Stadium des Krisenerlebens kommt es zu Aufruhr, Abwehr, Verzweiflung, Resignation, Traurigkeit und Hoffnung und vielen anderen, sehr bewegenden Gefühlen. Wer die Kraft nicht aufbringt, sich den wahrhaftigen Ursachen seiner Krise zu nähern, flieht schließlich in erheblich ruhigere, verhaltene, dann auch erdrückende Gefühle, die man Depression nennt. In dieser kann es zu höchst autoaggressiven Taten wie Suizid kommen.

Stufe 5: Änderung

Im guten Fall versteht der Mensch, was ihm die Krise sagen möchte. Der innere Widerstand gegen das, was nicht gesehen wurde, vermindert sich und es taucht Licht am Ende des Tunnels auf, denn nun wird erstmals die Möglichkeit spürbar, die intrapersonale Einigkeit wiederherzustellen, dieses Stadium der möglichen Balance, führt erstmals zum Gefühl, dass es doch – anders als bisher – gut weitergehen kann.

Stufe 6: Neue Stabilität

Diese Änderung ist in den meisten Fällen nicht nur eine Haltungs- oder Einstellungsänderung, sondern Verhaltensänderungen sind angezeigt, um Krisen zu beenden. Das neue Verhalten muss erst längere Zeit trainiert werden, bevor es zu einer wirklichen, neuen Stabilität führt.

Backe, backe Kuchen

Das Kleben an alten Vorstellungen hängt auch damit zusammen, etwas nicht aufgeben zu wollen, in das man mehr oder minder viel investiert hat, seien es Zeit, Geld, Kraft, Ideen, Empathie und so fort. Wer in einer Krise längere Zeit lebt, lebt vielleicht in einer Form von Optimierungs- oder Erhaltungsillusion. Es darf nicht sein, alles scheinbar umsonst gegeben oder durchlitten zu haben. Dabei wäre es so einfach: Denken Sie an ein kleines Kind, das im Sandkasten spielt. Es nimmt eine Backform und backt Sandkuchen. Manchmal setzt es Kuchen neben Kuchen, fast immer zerstört es selbst den oder die Kuchen, um sogleich den nächsten zu backen. Das Ganze kann Stunden lang so gehen, innerhalb von Monaten oder Jahren wiederholt. Niemals gibt das Kind auf, niemals ist es traurig, etwas selbst zerstört zu haben, und immer wieder freut es sich am neuen Sandkuchen.

Das Selbstgemachte der Krise entspricht dem notwendigen Zerstören des Sandkuchens, der jedoch statt aus Sand letztlich aus Beton hergestellt wurde. Bis hierhin gleichen sich die Vorgänge – aber nun wird es ganz anders: Kein Erwachsener freut sich an der Krise, daran, etwas neu oder anders zu beginnen, noch nicht einmal daran, etwas Ähnliches wieder aufzubauen. Da kann man nur sagen: Gib uns die Kraft, zu werden wie die Kinder.

Dazu wird immer gehören, auf Ansprüche und Vorstellungen zu verzichten: Etwas wegzulassen funktioniert eindeutig besser, als noch mehr zu wollen. Und schon ist es wie im Sandkasten: Wenn man nicht mehr versucht, festzuhalten, dann löst es sich.

No crisis, no life

In vielen Köpfen herrscht die Idee vor, eine Krise könne nur entstehen, wenn man nicht aufpasse, fundamentale Fehler mache. Da solches einem selbst nicht unterlaufen könne, sei man gefeit. Weit gefehlt, wie die Realität zeigt, aber es tut gut, sich im Sicheren zu wähnen. Und bei so manchen mag der Lebenslauf auch entsprechend gnädig verlaufen; die allgemeine Erfahrung sagt jedoch, dies ist eine Ausnahme. Wer aber noch nicht einmal in seinen kühnsten Alpträumen sein eigenes Scheitern als fernes Risiko zulassen mag, wird umso beeindruckter sein, wenn sich ein solches abzeichnet. Dann fehlt der berühmte Plan B, denn eigentlich hätte der ja nie notwendig sein sollen. Ohne die Fähigkeit, in Alternativen für sich selbst zu denken, kommt man in eine Sackgasse: So wollte ich das, so muss es sein, und anders darf es nicht kommen.

Es gibt eine letzte Krise im Leben: den Tod. Auch wenn der Ausgang dieser Krise immer derselbe ist, weil das Leben geht, kann man von Menschen in dieser letzten Krise einiges lernen. Bronnie Ware arbeitete viele Jahre lang als Krankenschwester in der Palliativmedizin und -pflege. Sie begleitete sterbende Menschen in ihren letzten Wochen. Bei ihren Gesprächen mit den Menschen hat sie fünf unerfüllte Wünsche dieser erkannt und zusammengefasst (zit. n. Pollmer 2012):

Fünf unerfüllte Wünsche

„Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, ein Leben getreu mir selbst zu führen – anstatt eines, das andere von mir erwarten.“

Hier geht es um Authentizität und um Selbstliebe.

„Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.“

Hier geht es darum, für sich selbst Grenzen zu setzen.

„Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, meine Gefühle zu zeigen.“

Hier geht es um emotionale Kompetenz.

„Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben.“

Hier geht es um soziale Einbindung.

„Ich wünschte, ich hätte mich glücklicher sein lassen.“

Hier geht es um Achtsamkeit sich selbst gegenüber.

Damit wurde festgehalten, was Sinn und Nutzen einer Krise sind: Sich diese Wünsche zu erfüllen, solange man sicher lebt.

image   Burnout ist keine Strafe, sondern eine Korrektur.